Der Krisenbegriff erlebt eine Art von Inflation: Eine Krise geht zu Ende, sobald die nächste Krise ausgerufen wird. Krise ist ein Ausrufezeichen, das uns lauter Fragezeichen beschert: Thomas Macho leuchtet den Raum zwischen beiden aus und holt ans Licht, was der Krisenbegriff meint – und was er mit uns macht.

  • Thomas Macho

    Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler und Philosoph. Er leitet das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Zuletzt erschien von ihm: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin 2017.

Gegen­wärtig leben wir im Schatten einer Pandemie, die häufig als Corona-Krise bezeichnet wird. In ökono­mi­scher Hinsicht wird sie regel­mäßig mit der Finanz­krise (ab 2007) vergli­chen, in poli­ti­scher Hinsicht mit der soge­nannten Flücht­lingskrise (2015), in ökolo­gi­scher Hinsicht mit der Klima­krise. Der Krisen­be­griff erlebt inzwi­schen eine Art von Infla­tion: Eine Krise geht zu Ende, sobald die nächste Krise ausge­rufen wird. Ursprüng­lich wurde der Krisen­be­griff in der grie­chi­schen Antike von der Gerichts­sprache – κρίσις bedeu­tete die Entschei­dung, das Urteil – in die ärzt­liche Termi­no­logie einge­führt; als Krise galt der an bestimmten Tagen erreichte, mehr oder weniger ausge­dehnte Höhe­punkt im Verlauf einer Krank­heit, an dem entweder eine Ände­rung zum Besseren oder zum Schlech­teren eintritt. In der Krise beginnt die Gene­sung oder das Sterben der Pati­enten. In diesem Sinne betont Hippo­krates im ersten Buch seiner Epide­mien, dass „die Krisen zum Leben oder zum Tode führen oder entschei­dende Wendungen zum Besseren oder Schlim­meren bringen werden“.

Bis zur Neuzeit domi­niert der medi­zi­ni­sche Wort­ge­brauch. Erst im 17. Jahrhun­dert wird der Krisen­be­griff auch auf poli­ti­sche Verhält­nisse bezogen: Rein­hart Koselleck zitiert in seinem einschlä­gigen Artikel zur Krise den Dichter und Politi­ker Sir Benjamin Rudyerd, der 1627, anläss­lich eines Konflikts zwischen Krone und Parla­ment, bemerkte: „This is the Chrysis of Parlia­ments; we shall know by this if Parlia­ments life or die“. Der Satz klingt noch ganz nach Hippo­krates; doch erscheint jetzt das Parla­ment an Stelle des Pati­enten, und spätes­tens nach der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion die Monar­chie. Poli­ti­sche Krisen werden als Span­nungen, begleitet von Kriegs­dro­hungen, zwischen Nationen und Regierun­gen wahr­ge­nommen, als Streit um Verfas­sungen, als schwie­rige Verhandlun­gen, die stets bedroht sind von Abbruch und Schei­tern. Häufig werden sie durch Orts­an­gaben konkre­ti­siert: die Berlin-Krisen von 1948/49 und 1958/59, die Suez­krise (1956), die Kuba­krise (1962), die Panama-Krisen von 1964 und 1989/90. In seinen posthum heraus­ge­ge­benen Welt­ge­schicht­li­chen Betrachtun­gen (1905) spricht Jacob Burck­hardt von sozialen und revo­lu­tio­nären Krisen, von Krisen der Restau­ra­tion, Verfas­sungs­krisen oder kultu­rellen Krisen, die er als „furcht­bare“ Beschleu­ni­gungen beschreibt: „Entwick­lungen, die sonst Jahr­hunderte brau­chen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüch­tige Phan­tome vorüber­zu­gehen“, gleichsam wie ein „Fieber“, eine „Aushilfe der Natur“. Die­sem hippo­kra­ti­schen Akzent des Krisen­be­griffs folgt noch dreißig Jahre später der nieder­län­di­sche Kultur­his­to­riker Johan Huizinga, selbst ein Arzt­sohn, mit sei­nem Essay Im Schatten von morgen (1935), in dem es heißt: „Krisis ist ja selbst ein hippo­kra­ti­scher Begriff. Für das Gesell­schaft­liche und Kultu­relle ist keine Figur so stimmig wie die medi­zi­ni­sche. Fieber hat unsere Zeit ohne Zweifel.“ Doch wie kann eine Zeit zu fiebern beginnen?

Und wie lange kann ein Fieber dauern?

Inzwi­schen haben wir uns daran gewöhnt, auch von ökono­mi­schen Krisen, von Wirt­schafts­krisen, Finanz­krisen, Geld­krisen, Währungs­krisen oder Schuldenkri­sen zu spre­chen. Daneben leiden wir an psychi­schen Krisen, womög­lich gar an suizi­dalen Krisen, was auch erklärt, warum die 1948 von dem Psych­iater Erwin Ringel in Wien gegrün­dete „Lebens­mü­den­für­sorge“ 1975 umbe­nannt wurde; seither wird sie als „Krisen­in­ter­ven­ti­ons­zen­trum“ geführt. Gemeinsam ist frei­lich allen diesen Erwei­te­rungen des Krisen­be­griffs, dass sie – wie das viel­zi­tierte Fieber – auf kurze, über­schau­bare Zeit­räume bezogen werden. Nicht umsonst erwähnt Hippo­krates vier-, fünf-, sieben- oder neun­tä­gige Fieber; von jahrelan­gem Fieber ist nicht die Rede. Eine Krise ist also nur solange eine Krise, als ein Urteil oder eine Diagnose über die weitere Entwick­lung – zum Besseren oder Schlim­meren – erwartet werden darf. Anders gesagt: Krisen werden als Ereig­nisse wahr­ge­nommen. Nach Maßgabe der Unter­schei­dung Fernand Brau­dels zwischen longue durée und Ereig­nis­ge­schichte (histoire événe­men­ti­elle) betre­ten sie vorrangig als Ereig­nisse die Bühne unseres Bewusstseins.

Vergan­gen­heit wird in Aktua­lität aufgelöst

Nun lässt sich leicht argu­men­tieren, dass Politik und Medien die Wahr­neh­mung von Krisen als Ereig­nissen notwendig begüns­tigen. Die Ausübung poli­ti­scher Funk­tionen ist – teil­weise selbst in auto­ri­tären Systemen – an Wahl­zy­klen ge­bunden; die Nachrichten-Medien sind einem Impe­rativ der Aktua­lität unter­worfen, der sich schon in Titeln wie Tages­schau oder heute mani­fes­tiert. Sie reden vom Jetzt, seltener von der vergan­genen Woche, und einen Jahres­rückblick empfangen wir besten­falls zu Silvester. Selbst die Welten-Saga zum Kultur­erbe der Mensch­heit, die gerade vom ZDF in der Terra X-Reihe ausge­strahlt wird, lebt erstens von den Reise­bil­dern monu­men­taler Schau­plätze und Ruinen, zwei­tens von Chris­to­pher Clark, der als histo­risch gebil­deter Reisefüh­rer auftritt, um dem Publikum zu erklären, was gerade gezeigt wird. Vergangen­heit wird in Aktua­lität aufge­löst, wie ein Löffel Zucker im frisch gebrühten Tee. Nach ähnli­chen Regeln funk­tio­niert Erin­ne­rungs­po­litik: Sie ist gebunden an auf­rufbare Jubi­läen. Heute vor fünf­und­siebzig Jahren ging der Zweite Welt­krieg zu Ende, wurde dieses oder jenes Konzen­tra­ti­ons­lager befreit, wurde diese oder jene Persön­lich­keit geboren; am 20. März 2020 feiern wir den 250. Geburtstag Hölder­lins, am 16. Dezember 2020 den 250. Geburtstag Beet­ho­vens. Doch die geplanten Ausstel­lungen, Gedenk­ze­re­mo­nien und Veran­stal­tungen wurden we­gen der aktu­ellen Pandemie abge­sagt oder auf das nächste Jahr verschoben; ob sich der Zauber solcher Jubi­läen vertagen lässt, bleibt aller­dings frag­lich. Sollen wir dann den 251. Geburtstag Hölder­lins oder Beet­ho­vens begehen?

Indi­vi­du­elles Erin­nern und kollek­tive Amnesie

Was bedeutet es, eine Pandemie als Krise, als Ereignis, wahr­zu­nehmen? Worü­ber belehrt uns der Blick auf den tägli­chen „Corona-Ticker“, der nicht nur die jeweils neuesten Statis­tiken und Kenn­zahlen verzeichnet, sondern auch die Ausbrüche neuer Infek­tionen in einem Pfle­ge­heim, einer Fleisch­fa­brik, einem Restau­rant, im Gottes­dienst? Pande­mien gehören – ebenso wie Migra­tionen – zur longue durée mensch­li­cher Geschichte. Dennoch scheinen sie kein Kontinu­um zu bilden, keine tiefen Spuren im kultu­rellen Gedächtnis zu hinter­lassen, sie werden viel­mehr wieder­holt vergessen. Selbst die Pest­säulen auf zahl­rei­chen Plätzen euro­päi­scher Städte wirken beliebig, als könnten sie jedes denk­bare Er­eignis bezeichnen: den Sieg in einer Schlacht, den Abschluss eines Friedensver­trags, die Grün­dung einer Repu­blik, die Krönung eines Monar­chen, die Rettung vor einer Gefahr, sei es nun ein Erdbeben, der Angriff einer feind­li­chen Armee, eine Feuers­brunst, eine Flut oder eben die Über­win­dung einer Epidemie. Was bezeugt die Pest­säule am Graben in der Wiener Innen­stadt? Feiert sie die gött­liche Drei­fal­tig­keit, die geschei­terte Türken­be­la­ge­rung von 1683, das Ende der Pest­epi­demie von 1679, den Glauben und die Tapfer­keit der Stadt­be­völ­ke­rung oder den Ruhm des damals herr­schenden Kaisers Leopold I.? Immerhin wurden während der Corona-Pandemie mitunter Kerzen, Zeich­nungen und Gebets­texte am Fuß der Säule niedergelegt.

Egon Schiele, Kauerndes Menschen­paar (Die Familie), Quelle: Wikipedia

In ihrer Unter­su­chung der kata­stro­phalen Pandemie der soge­nannten „Spani­schen Grippe“ von 1918/19 – der Name ist irre­füh­rend, denn die Erreger wur­den vermut­lich aus den USA einge­schleppt und die Pandemie trug verschiede­ne Namen, in Groß­bri­tan­nien hieß sie beispiels­weise „flan­dri­sche Grippe“ – be­tont Laura Spinney schon in der Einlei­tung, wie wenig wir über diese Pandemie wissen. Daher gebe es „weder in London noch in Moskau oder Washington D.C. irgendein Monu­ment, das an die Pandemie erin­nert. Die Spani­sche Grippe schlägt sich in persön­li­chen Erin­ne­rungen nieder, nicht im kollek­tiven Gedächt­nis. Sie steht uns nicht als histo­ri­sche Kata­strophe vor Augen, sondern bildet sich in Millionen einzelner privater Tragö­dien ab.“ So bewun­dern wir Egon Schieles Gemälde von der Familie des Künst­lers, das im März 1918 erst­mals ausge­stellt wurde; seltener denken wir daran, dass Edith Schiele ein halbes Jahr später, am 28. Oktober 1918, im sechsten Monat ihrer Schwan­ger­schaft, der Spani­schen Grippe erlag, ebenso wie Egon Schiele selbst, der am 31. Oktober starb, er war erst 28 Jahre alt. Wie viele Bücher wurden seit 1918 über den Er­sten Welt­krieg verfasst! Und doch haben die drei Wellen der Spani­schen Grippe mindes­tens dreißig, womög­lich sogar siebzig bis hundert Millionen Todes­opfer gefor­dert, also deut­lich mehr als in den gesamten vier Jahren des großen Kriegs (mit sieb­zehn Millionen Toten). 1918 wusste die medi­zi­ni­sche Forschung noch nichts über Viren, während heute, wenige Wochen nach Ausbruch der Corona-Pandemie in China, bereits die gene­ti­sche Struktur des neuen Virus voll­ständig deco­diert und welt­weit bekannt­ge­geben werden konnte.

Fragen ohne Antwort

Krisen als Ereig­nisse fesseln die mediale und poli­ti­sche Aufmerk­sam­keit, doch werden sie rasch vergessen, wenn sie nicht durch erheb­liche Anstren­gungen immer wieder verge­gen­wär­tigt werden. Nicht zufällig brauchte es ein Centena­rium, um die Spani­sche Grippe in Erin­ne­rung zu rufen; nicht zufällig wurde erst im Hori­zont der Corona-Krise der längst verges­senen „Asia­ti­schen Grippe“ von 1957/58 (mit bis zu zwei Millionen Toten) oder der „Hongkong-Grippe“ von 1968–70 (mit einer Million Opfer) gedacht. Darum klagt der Viro­loge Peter Piot, der selbst an Covid 19 schwer erkrankt war, „dass große Ziele, die nach SARS oder nach dem Ausbruch der Schwei­negrippe 2009 formu­liert worden waren, still­schwei­gend in büro­kra­ti­schen Schub­laden gelandet sind, sobald die Krise von den Titel­seiten verschwunden war. Als ob man die Feuer­wehr abschafft, sobald ein Haus gelöscht worden ist, und erst beim nächsten Brand wieder neu gründet.“ Die Frage, welche Zeit­struk­turen mit dem Krisen­be­griff sinn­voll er­fasst werden können, verschärft sich noch, wenn wir nicht nur die Vergangen­heit ins Auge fassen, sondern auch die Zukunft. Wie sollen denn das Anthropo­zän, das Arten­sterben – The Sixth Extinc­tion, nach Eliza­beth Kolbert – und der Klima­wandel mit einem ereig­nis­be­zo­genen Krisen­be­griff ange­messen beschrie­ben werden? Gewiss, die aktu­ellen Regeln zur Eindäm­mung der Corona-Pande­mie, die verord­neten Ausgangs-, Reise- und Kontakt­be­schrän­kungen, haben die meisten Menschen auf allen Konti­nenten, oft unter schwie­rigsten Bedin­gungen, akzep­tiert und einge­halten; doch schon nach wenigen Wochen werden nun Proteste und Demons­tra­tionen gegen diese Maßnahmen orga­ni­siert. Es fällt nicht schwer sich vorzu­stellen, wie kompli­ziert es wäre, Verzichte und Be­schränkungen zu verein­baren und durch­zu­setzen, deren Geltungs­dauer nicht befristet werden könnte, und deren Erfolge nicht nach ein paar Wochen, son­dern erst nach Jahr­zehnten, und womög­lich bloß in Gestalt eines etwas weni­ger schlimmen Verlaufs der Erder­wär­mung, eintreten würden.

Die Klima­krise ist eben gar keine Krise, kein „Fieber“, das den Planeten erhitzt, sondern die longue durée einer unab­seh­baren Zukunft. Sie folgt nicht der Logik von Ereig­nissen, die täglich beur­teilt, berichtet und mode­riert werden könnten. Sie erin­nert eher schon an die unlös­baren Fragen, die 1984 anläss­lich einer De­batte zur Errich­tung von Atommüll-Endlagern aufge­worfen wurden: Wie kann die Gefähr­lich­keit dieser Orte den Gesell­schaften in zehn­tau­send Jahren ver­mittelt werden? In welcher Sprache, mit Hilfe welcher Insti­tu­tionen, Zeichen und Symbole? Damals bekannte der Semio­tiker Thomas A. Sebeok resi­gniert in seinem Report für das „Office of Nuclear Waste Isola­tion“ in Columbus/Ohio, „that no fail-safe method of commu­ni­ca­tion can be envi­saged 10,000 years ahead“. Nur am Rande unseres von der Corona-Pandemie täglich beanspruch­ten Bewusst­seins haben wir wahr­ge­nommen, dass vom 4. April bis zum 14. Mai die Wälder in der Sperr­zone um den Atom­re­aktor von Tscher­nobyl brannten; niemand weiß genau, welche Mengen an Radio­ak­ti­vität in diesen Wochen frei­gesetzt wurden. Eine neue „Tschernobyl-Krise“? Die „Krise“ – wie unbrauchbar erscheint doch dieser Begriff – hat vor 34 Jahren begonnen, und sie wird noch Jahr­tau­sende lang andauern.

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