Heute ist es nicht nur gängige Praxis, eine Patientenverfügung abzufassen, sondern es scheint allmählich auch zum guten Ton zu gehören, besonders in Zeiten des Coronavirus. So forderte jüngst die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin dazu auf, in einer solchen festzuhalten, ob man im Falle eines schweren Verlaufs einer COVID-19-Erkrankung lebensverlängernde Massnahmen wünsche oder nicht. Der Bundesrat zieht aus der Pandemie bereits die Lehre, dass „die gesundheitliche Vorausplanung verbessert werden muss“, wie es in dem am 18. September 2020 vorgestellten Bericht „Betreuung und Behandlung von Menschen am Lebensende“ heisst. Denn würden Behandlungsziele mit Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen frühzeitig geklärt, und zwar möglichst noch in den Pflegeheimen, lasse sich eine Triage in den Spitälern vermeiden.
Bereits im Frühjahr hatten sich Palliativmedizinerinnen und Palliativmediziner mit ähnlichen Vorschlägen zu Wort gemeldet und argumentiert, die meisten Menschen wollten ohnehin nicht auf einer Intensivstation sterben. Das Schweizerische Rote Kreuz und die Fach- und Dienstleistungsorganisation für das Alter Pro Senectute geben an, die Nachfrage nach Patientenverfügungen sei im Zuge der Pandemie nach oben geschnellt. Eilig schufen manche Organisationen eigene „Corona-Verfügungen“ samt zugehörigen Entscheidungshilfen, die ausdrücklich auf die Behandlungsoptionen bei einer COVID-19-Erkrankung eingehen und beispielsweise Argumente für und gegen lebensverlängernde Therapien aufführen. Freilich mangelt es nicht an Beteuerungen, niemand werde genötigt, sich eine Patientenverfügung zuzulegen, und ausserdem bleibe es jedem unbenommen, in derselben festzuhalten, man wünsche eine Maximaltherapie. Gleichwohl trieb einige ältere Menschen die Frage um, ob sie wohl verpflichtet seien, sich um eine Patientenverfügung zu kümmern.
Es mag überraschen, dass ausgerechnet Ärztinnen und Ärzte dafür werben, eine Vorausverfügung zu erstellen. Den ersten Patientenverfügungen begegneten sie mit Argwohn – schliesslich dienten die Schriftstücke durchaus auch dem Zweck, ihrem Wirken Grenzen zu setzen. Denn wer eine Patientenverfügung besitzt, kann unerwünschte Interventionen unterbinden, selbst wenn er sich in dem Moment nicht zu äussern vermag. Indem er seine Wünsche schriftlich festhält, kommt seine Autonomie auch in Zuständen mangelnder Urteilsfähigkeit zum Tragen – und ärztlicher Übereifer oder gar Paternalismus wird im Keim erstickt. Was ist geschehen, dass heute Ärztinnen und Ärzte öffentlich dazu auffordern, eine Patientenverfügung abzufassen? Und wem nützt die Vorausplanung eigentlich?
Der Wunsch nach Autonomie
Wie die rund 50-jährige Geschichte der Patientenverfügung zeigt, fallen die Antworten auf diese Fragen höchst unterschiedlich aus – und sind immer wieder von Zweifeln durchzogen, ob die Vorausplanung tatsächlich denjenigen zugutekommt, deren Belangen sie ursprünglich dienen sollte: den Patientinnen und Patienten.
In den USA ebenso wie mit einiger Verzögerung in Deutschland und der Schweiz entstammen die ersten Patientenverfügungen dem Umfeld der Sterbehilfebewegung, worauf sich ein Teil der ärztlichen Skepsis zurückführen lässt. Deren Entstehung und deren Einsatz für die Legalisierung der Sterbehilfe nährten sich aus der Furcht, gegen den eigenen Willen am Leben erhalten zu werden und ein qualvolles Sterben, angeschlossen an piepsende Geräte, zu gewärtigen, weil Ärzte in dem Ruf standen, den Tod als eigenes Scheitern zu empfinden und unbeirrt alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen. In den ausgehenden 1960er Jahren bahnte sich ein Wandel im Umgang mit Sterben und Tod an, wovon nicht nur die Gründung erster Sterbehilfeorganisationen, sondern auch das Aufkommen der modernen Hospiz- und Palliativbewegung zeugen. Sie alle einte das Anliegen, dem Schreckensszenario etwas entgegenzusetzen und ein Lebensende zu ermöglichen, das den Wünschen und Bedürfnissen der sterbenden Person entsprach. Vor allem unter den Proponenten der Sterbehilfe war klar, was das hiess: über Zeitpunkt und Umstände des eigenen Ablebens selbst zu bestimmen. Und dabei konnte auch eine Patientenverfügung helfen.
Diese Entwicklung fügt sich in eine Zeit, als in der Medizin allmählich die Auffassung Raum gewann, dass der Autonomie der Patientin Respekt gebühre und ärztlicher Paternalismus in die Schranken zu weisen sei. Unter dem Eindruck der Menschenversuche der Nationalsozialisten und vor dem Hintergrund des Wirkens verschiedener sozialer Bewegungen wurde die informierte Einwilligung zur selbstverständlichen Voraussetzung für medizinische Eingriffe, was nach Meinung der Erfinder der Patientenverfügung mithin auch gelten musste, wenn eine Patientin der Urteilsfähigkeit entbehrte. Doch brachten die neuen Dokumente, die erstmals in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren verbreitet wurden, auch Rechtsunsicherheit mit sich, was zu ihrer zögerlichen Annahme in der Ärzteschaft beigetragen haben dürfte: Ignorierten die behandelnden Ärzte den Wunsch einer Patientin auf Abbruch der Behandlung, riskierten sie ebenso, rechtlich belangt zu werden, wie wenn sie ihr eine unerwünschte Therapie angedeihen liessen.
Ringen um die gesetzliche Regelung
Seit es Patientenverfügungen gibt, wird über sie gestritten. Auf Seiten der Ärzteschaft offenbarten die Auseinandersetzungen wiederholt Ängste vor dem Verlust von Macht und Bedeutung sowie vor rechtlichen Konsequenzen; Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen forderten andererseits den Respekt für ihre Autonomie ein und brachten ihre Furcht vor der hochtechnisierten Apparatemedizin zum Ausdruck. Hinzu kam, dass Ärztinnen und Ärzte sich ihrem hergebrachten Berufsethos verpflichtet fühlten und Fürsorge der Autonomie voranstellten, wie beispielsweise frühe Richtlinien für die Sterbehilfe der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und der Bundesärztekammer verdeutlichen: Könnte sich der Wille der Patientin nicht geändert haben, seit sie die Patientenverfügung verfasste? Denn wer in gesunden Tagen eine Patientenverfügung aufsetzt, entbehrt schliesslich der Erfahrung der Krankheit. Er weiss nicht, wie es sich für ihn anfühlt, krank zu sein, und wie er mit der gesundheitlichen Krise umgeht – wie also soll er heute entscheiden, was er zukünftig will? Eine Patientenverfügung liefere mithin bestenfalls Indizien für den mutmasslichen Willen, lautete das zentrale Argument, und es obliege der Ärztin, im Gespräch mit den Angehörigen zu ermitteln, was ihr Patient wünsche, und dementsprechend zu entscheiden. Mit welcher Tendenz das zu geschehen hatte, hielten die Richtlinien der Bundesärztekammer von 1993 und 1998 freilich unmissverständlich fest: Ärztinnen sollten ihre Patienten davon abbringen, notwendige Behandlungen zu verweigern.
Während der US-amerikanische Kongress die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen bereits 1991 im Patient Self-Determination Act festschrieb, folgten entsprechende Bestrebungen in der Schweiz und Deutschland erst gute zehn Jahre später. Nach wie vor schimmerte in den Debatten über die Gesetzgebung die Befürchtung seitens der Ärzteschaft durch, einen Machtverlust zu erleiden, beispielsweise als die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) in der Vernehmlassung des ersten Gesetzesentwurf 2004 beklagte, dass Behandlungsteams zu „reinen Befehlsempfängern“ degradiert würden, obwohl sich Angehörige doch meist eine gemeinsame Entscheidung wünschten.
Bis zur gesetzlichen Regelung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen – 2009 in Deutschland, 2013 in der Schweiz – schwand zwar allmählich die Skepsis in der Ärzteschaft, zugleich jedoch intensivierten sich die Vorbehalte, was schliesslich dazu führte, dass Ärztinnen und Ärzte erneut an Einfluss auf Behandlungsentscheidungen gewannen. Unter dem Titel „Enough. The Failure of the Living Will“ veröffentlichten die Psychologin Angela Fagerlin und der Bioethiker Carl E. Schneider im Jahr 2004 eine beissende Kritik, die einiges Aufsehen erregte, zumal die beiden Autoren argumentierten, Patientenverfügungen dienten gar nicht der Sicherung von Autonomie, ganz im Gegenteil: Zunächst einmal wollten die meisten Leute – aus durchaus vernünftigen Gründen – keine Patientenverfügung, selbst wenn man sie noch so sehr zu überzeugen versuchte. Zudem beruhe die Idee der Vorausplanung auf einer irreführenden Einschätzung, wie wir Entscheidungen träfen, nämlich keineswegs rational, sondern oft von Emotionen gesteuert und ohne ausreichende Kenntnisnahme von Fakten, die wir mangels medizinischen Fachwissens sowieso nicht genügend verstünden. Schon gar nicht liessen sich die komplexen Überlegungen in einem simplen Schriftstück festhalten. Kurzum, von autonomen Entscheidungen könne keine Rede sein und man solle sich endlich eingestehen, dass Patientenverfügungen nichts taugten.
Ein neuer Paternalismus?
Das vernichtende Urteil – nicht das einzige, aber das schärfste – führte nun allerdings nicht dazu, dass Patientenverfügungen grundsätzlich in Frage gestellt wurden. In Reaktion auf die Kritik entstanden vielmehr neue Formen der Vorausplanung, die umso grössere Zweifel weckten, ob Vorausverfügungen tatsächlich die Patientenautonomie stärkten: Wer vorsorgen will, füllt im Rahmen des neu entwickelten Advance Care Planning (ACP) nicht mehr in einem einsamen Akt eine Patientenverfügung aus, sondern lässt sich in wiederholten Gesprächen von einer Fachperson beraten und bei der Abfassung des Dokuments helfen. Entscheidungen fallen nicht allein, sondern gemeinsam mit der ACP-Beraterin in einem Prozess des shared decision making. Als Ergebnis soll eine wohlbegründete, widerspruchsfreie und für alle verständliche Patientenverfügung vorliegen, in der die Lebenshaltung und die Wertvorstellungen einer Person zum Ausdruck kommen.
Der Gedanke an einen neuen Paternalismus liegt nicht fern – und er brach sich Bahn, als der amerikanische Präsident Barack Obama im Jahr 2009 nicht bloss empfahl, sich eine Patientenverfügung zuzulegen, sondern die Beratungsgespräche über die Krankenversicherung Medicare und das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid rückvergüten lassen wollte. Die Republikanerin Sarah Palin, damals Gouverneurin von Alaska, behauptete daraufhin, das geplante Gesetz diene der Schaffung von „death panels“, die darüber befinden sollten, ob beispielsweise ein älterer Mensch noch einer medizinischen Behandlung wert sei. Obschon der „death panel myth“ rasch enttarnt war, veranschaulicht die aufgeregt geführte Debatte, wie sich die Sorgen in den rund 30 Jahren seit dem ersten Entwurf einer Patientenverfügung gewandelt hatten: Es stand nicht mehr die Befürchtung im Mittelpunkt, gegen den eigenen Willen am Sterben gehindert zu werden, sondern die Angst, dass Ärztinnen und Ärzte Behandlungen abbrächen, obwohl ein Mensch noch zu leben wünschte.
Darin drückten sich freilich auch Bedenken aus, einer Rationierung zum Opfer zu fallen. Bereits in den 1990er Jahren wurde diskutiert, ob Patientenverfügungen hülfen, Kosten zu senken – und ob es sich moralisch rechtfertigen lasse, sie aus diesem Grund zu bewerben oder gar verpflichtend zu machen: Untergräbt ein solches Vorgehen den Gedanken der Autonomie und vermittelt älteren Personen womöglich den Eindruck, ihren Mitmenschen zur Last zu fallen? Oder lassen sich ohne Schaden für die Autonomie sinnlose Therapien vermeiden, weil schliesslich nur dem ausdrücklichen Wunsch einer Patientin stattgegeben wird?
Paradoxe Verkehrung
Mittlerweile hat man es mit einer verwickelten Gemengelage zu tun: Ärztinnen und Ärzte eroberten sich Einfluss zurück, indem sie Beratungen zur Abfassung von Patientenverfügungen anbieten, bei denen sich die Frage stellt, ob sie ein Einfallstor für einen neuen Paternalismus darstellen. Besitzt ein Patient eine Vorausverfügung, reduziert sich für die Behandlungsteams der Stress, denn sie gewinnen unschwer Klarheit über dessen Präferenzen – auch ein Grund, die Verfügungen zu befürworten. Ähnlich ergeht es Angehörigen, die es oft belastet, eine Entscheidung über einen Behandlungsabbruch zu fällen, falls eine Patientenverfügung fehlt. Nicht nur Ärztinnen und Ärzten, sondern ebenso weiteren Fachpersonen im Gesundheitswesen eröffnet sich darüber hinaus ein interessantes Tätigkeits- und Geschäftsfeld, denn die Beratungsgespräche kosten, ebenso wie die teure Weiterbildung zur zertifizierten ACP-Beraterin. Selbst Sterbehilfeorganisationen, die sich im Namen der Autonomie für die Vorausplanung einsetzen, profitieren von einer steigenden Nachfrage nach Patientenverfügungen. Und schliesslich verbinden sich all diese Interessen mühelos mit staatlichen Anliegen, Kosten in der Gesundheitsversorgung einzusparen.
Und die Patientin mit ihrem Wunsch nach Autonomie? Am Ende steht eine Entwicklung zu Buche, die sich als paradoxe Verkehrung deuten lässt. Einst als Instrument erdacht, die Autonomie zu stärken, bewirkt die Patientenverfügung das Gegenteil, wenn als Pflicht erlebt wird, eine solche abzufassen. Bestimme selbst über deine Behandlung! – so lautet die widersprüchliche Botschaft, die sich in der Aufforderung verbirgt, sich eine Patientenverfügung zuzulegen. Heteronomie kommt mithin im Gewand der Autonomie daher, was die paradoxe Pointe des Geschehens verdeutlicht: Nach wie vor erfolgt die Berufung auf das ursprüngliche Freiheitsideal, doch entstehen in dessen Namen neue Zwänge, die das eigentliche Anliegen konterkarieren. Wenn obendrein Schreckensbilder überfüllter Intensivstationen oder eines qualvollen Corona-Todes an Schläuchen beschworen und mit der Aussage verknüpft werden, so wolle freilich niemand sterben, stellt sich die Frage, was von der weiterhin hochgehaltenen Autonomie noch bleibt.