Kunst ist ‚Verfremdung‘ (ostranenie), schrieb der russische Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij vor mehr als hundert Jahren, 1916, in einem Aufsatz, der zu einem Kulttext der Literaturtheorie avancierte. Šklovskij lenkte damals die Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit von Kunst, unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit zu verändern:
Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge.
Verfremdung, wie Šklovskij sie verstand, ist immer „Deautomatisierung“ durch Einnahme von Distanz zum Gewohnten. Sie ist gegen Routinen gerichtet, gegen Abstumpfung, die Kunst nicht auch noch durch ihre Schreibweisen verdoppeln, sondern möglichst stören solle. Ein konsequenter Verfremder für Šklovskij war Tolstoj, der u.a. eine Alltagsgeschichte aus der Perspektive eines Pferdes erzählte.

Verfremdung von Kunst, aus der Reihe „Izoizoljacija“ (Aus der Isolation/Kunst der Isolation) im russischen facebook, hier: Ivan Ischenko, Dari Vasileva, Marc Chagall, „Über die Stadt“ (1918).
Aber was, wenn es die Wirklichkeit selbst ist, die die Wahrnehmung verändert und die Deautomatisierung regelrecht erzwingt? Um das zu denken, sollte man zwar keinen Virus benötigen, dennoch ist die Corona-Pandemie die bislang vielleicht größte globale Deautomatisierungsmaschine, die wir gemeinsam erleben. Und dies nicht nur, weil wir plötzlich seltsame Dinge tun, die wir uns bis vor kurzem noch nicht vorstellen konnten, oder weil wir so langsam beginnen, alte Gewohnheiten als fremd zu empfinden, sondern auch weil wir mit einem Unsichtbaren interagieren.
Touristin im eigenen Leben
Doch zunächst noch einmal zurück zur Verfremdung der Wirklichkeit. Šklovskij war nicht der einzige, der im 20. Jahrhundert Verfremdungskonzepte für die Kunst beschrieb. Auch für die Theatermacher Nikolaj Evreinov und Bertolt Brecht war Verfremdung ein Mittel, mit der Künstler unsere Wahrnehmung verändern sollten.
Auch ihre Konzepte haben etwas mit Distanz und Abstand zur alltäglichen Routine zu tun. Evreinov hatte die Idee, man solle sich, um den Alltag, um das Gewohnte zu verfremden, im eigenen Leben wie eine Touristin verhalten. Evreinov begriff den Menschen selbst als Routinetier, das immer wieder Verwandlung, d.h. Verfremdung zu sich selbst nötig habe:
Um das Interesse an einem langweilig gewordenen Gegenstand wieder zu wecken, muss man einen neuen Zugang finden, mit neuen Augen auf ihn schauen. Man braucht den Akt der Verwandlung – nicht des Gegenstands, sondern man selbst muss sich in Bezug auf ihn verwandeln.
Diese Idee nimmt er 1920 in einem Manifest auf, das sogar behauptet, Deautomatisierung habe einen therapeutischen Effekt:
Weil man Sie von ihrem gewohnten Ort weggeführt hat, von dem aus Sie aufgehört hatten, wegen der Anpassung und der zahlreichen Dinge, die von der betrachtenden Wahrnehmung der Umwelt ablenkten, auf ihre Umgebung zu schauen wie auf irgendein Spektakel, das von sich aus interessant ist.
In einer fremden Umgebung nehme man, so seine Beobachtung, die Umwelt wie ein Theaterzuschauer wahr, man sehe anders, sehe bewusst. Aber nicht nur dies: Das Leben wie eine Bühne anzuschauen, führe auch zu der Einsicht, dass man es verändern könne, dass man den nächsten Akt einfach umschreiben könne. Allein diese Einsicht, so Evreinov, sei wie Medizin.
Distanz herstellen
Es sind jeweils andere Erkenntnismodelle, die eine Verfremdung von und eine Verfremdung durch Wirklichkeit hervorbringt. Verfremdung von Wirklichkeit gründet auf Erkenntnis durch Distanz. Šklovskij hatte sich 1916 auf den deutschen Philosophen Broder Christiansen und dessen Philosophie der Kunst von 1909 bezogen. Darin hatte sich Christiansen über die „Veralltäglichung von Kunstwerken“ beklagt und ebenfalls eine „Distanz vom Gewohnten“, eine „Differenzqualität“ gefordert, die Kunst herstellen solle – zur gewohnten Kunst und zum gewohnten Alltag.
Es ist bei Christiansen, später auch bei Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Bertolt Brecht immer wieder die gleiche Idee, die dahintersteckt, und zwar, dass man erst etwas sehen könne, wenn man einen Schritt zur Seite geht und Distanz herstellt. Brecht wird in diesem Zusammenhang vom „Staunen“ als Voraussetzung von Erkenntnis sprechen und Šklovskij von „Verwunderung“:
Verwunderung schafft eine Distanz zwischen uns und der Erscheinung, sie ist die Kritik der Erscheinung, ihre Beurteilung.
Dabei geht es nicht nur um eine räumlich gedachte Distanz, sondern auch um Distanz zur Gegenwart selbst, die erst das Verstehen und auch Kritik ermögliche: „Kritik ist eine Sache des rechten Abstands“, so Benjamin. Dagegen mache die Vertiefung in Tagesaktualität, die blosse Beschäftigung mit Gegenwart blind und unfähig, Kritik zu üben. Ganz in diesem Sinne schreibt der Soziologe Norbert Elias in seinem Buch Humana conditio von 1985:
Manchmal ist es nützlich, um die Tagesfragen besser zu verstehen, sich in Gedanken ganz von ihnen zu entfernen und dann gleichsam aus der Distanz langsam wieder zu ihnen zurückzukehren. Man versteht sie dann besser. Denn wer nur in die Tagesfragen vertieft ist, wer niemals über sie hinaussieht, ist praktisch betrachtet blind.
Die politische Theorie der Verfremdung
Bertolt Brecht, der dritte Verfremdungstheoretiker, hat viel stärker noch als seine Vorgänger auf das Politische von Verfremdung durch Kunst bestanden. Dies nicht nur, weil er Kritikfähigkeit durch das distanzierte Zeigen gesellschaftlicher Entwicklungen erzeugen wollte, sondern weil er, wie Evreinov, durch Kunst zeigen wollte, dass Verfremdung Veränderbarkeit bedeutet:
Wie, alles ist so, weil es so sein muß? Wo wir doch gerade wissen, daß es nicht so sein muß!
So beginnt Brecht seinen kurzen Text zur politischen Theorie der Verfremdung 1936 im Exil, geschrieben zur Zeit der Diktaturen und des Terrors in Deutschland und der Sowjetunion. An anderer Stelle antwortet er:
Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als vergänglich darzustellen.
Brecht ging es darum, auf der Bühne und im Leben zu zeigen, dass die gesellschaftliche Ordnung, in der wir leben, nicht gegeben, sondern sozial hergestellt und jederzeit erneuerbar ist. Es ist diese Idee, an der sich auch viele Theorien des Politischen in den vergangenen Jahrzehnten orientiert haben, das Aufrechterhalten von Offenheit und die Verhandelbarkeit von Werten, Traditionen, Ansichten.

Verfremdung von Kunst, aus der Reihe „Izoizoljacija“ (Aus der Isolation/Kunst der Isolation) im russischen facebook, hier: Irina Neznamova, Marc Chagall, „Mann am Tisch“.
Aus heutiger Perspektive ist es erstaunlich, dass Šklovskij, Evreinov und Brecht ihre Verfremdungstheorien zu Zeiten formulierten, die alles andere als langweilig oder eintönig waren. Šklovskij schrieb seinen berühmten Aufsatz während des Ersten Weltkriegs, Evreinov seine Theorie zwischen 1916 und 1920 – inmitten von Revolution und des durch den nachrevolutionären Bürgerkrieg ausgelösten Chaos, an dem kein Tag war wie der andere, kein Stein auf dem anderen blieb. Zu jener Zeit hätte man nicht, wie Evreinov vorschlug, nach Italien reisen müssen, um mal etwas Neues zu sehen. Im Gegenteil, gerade nach der Revolution bekam man die Kontingenz des Lebens täglich vor Augen gestellt.
Die Revolution war selbst eine Art Verfremdungspraxis, eine, die die Zukunft vieler völlig ungewiss machte. Auch Evreinov wusste 1920 noch nicht, dass er das Land schon 1924 in Richtung Paris verlassen wird. Die permanente Deautomatisierung des Alltags wurde zunehmend bedrohlich, bevor sie in den 1930er Jahren, als Brecht seine Theorie formulierte, schliesslich selbst zu einem Instrument des Terrors gemacht wurde.
Die Illusion der Distanz
Der russische Philosoph und Literaturtheoretiker Michail Bachtin war es, der den Erkenntnisgewinn durch künstlerische Verfremdung anzweifelte. Er hielt sie für eine theoretische oder ästhetische Illusion, die die Wirklichkeit nicht erfassen könne und diese selbst verdecke. Denn wenn wir immer und überall versuchen, Distanz herzustellen, können wir nicht zeigen, was es bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein. Dann erfassen wir nicht, was es heißt, in der Gegenwart – aus der Nähe, involviert, immer nur Ausschnitte sehend – etwas erkennen zu wollen

Verfremdung von Kunst, aus der Reihe „Izoizoljacija“ (Aus der Isolation/Kunst der Isolation) im russischen facebook, hier: Kateryna Rudakova, Ramon Casas, Jeune décadente. Après le bal (1899).
Bachtin nannte die Distanz das Alibi der Theorie und Ästhetik. Man tue so, als können man alles überblicken und sei an der Handlung, die man gerade aktiv vollzieht, selbst nicht beteiligt – als sei man irgendwo anders. Es sei jedoch die Gegenwart selbst, die uns zeige, dass dies nicht gehe. Und Distanz durch Verfremdung arbeite mit an einer Illusion des Sehenkönnens. Bachtin spricht deshalb eher von „liebevoller Entfernung“, bei der man die eigene Involviertheit in das Geschehen und die eigene partielle Blindheit nicht vergisst. Ihm ist also eher an einer Kunst gelegen, die sich mit der Verfremdung durch Wirklichkeit befasst.
Realismus in der Kunst bedeutete ihm, die Kontingenz und Fragilität von Gegenwart nicht zu verdecken. Dazu gehört auch, durch Kunst zu verstehen, wie politische oder religiöse oder kapitalistische Nähetechniken – Identifikation, Involvierung, Verführung oder Hypnose usw. – überhaupt funktionieren. Im Unterschied zu Brecht hätte Bachtin wohl eher mit der Nähe gearbeitet, während Brecht, der keine „Fühlbude“ wollte, nüchtern zeigte, was emotionalisiert, und dort Distanz schuf, wo Nähe, ja Identifikation erzwungen wird.
Und heute? Derzeit ist es unnötig, die Pandemie aus der Perspektive eines Pferdes zu erzählen, denn wir selbst sind das Pferd. Pandemie und Klimawandel machen vielmehr spürbar, dass die Bedingungen für Kritik, für Kunst (Kunstproduktion- und Rezeption), für Politik selbst völlig deautomatisiert worden sind. Für die Kritik bedeutet das, mit Nahsicht zu arbeiten und das Sprechen in der Gegenwart über die Gegenwart nicht jenen zu überlassen, die das Unklare und Unbestimmte mit Überholtem und Reaktionären vollstopfen. Für die Kunst könnte das hoffentlich bedeuten, dass man sie nicht mehr als etwas betrachtet, das ganz selbstverständlich passiert, sondern dass man sie aus der Perspektive ihrer fragilen Produktionsbedingungen neu sieht.