Leere Straßen, Menschen in Seuchenschutzanzügen, Landkarten, die immer größere rote Kreise zeigen – die Bilder, die derzeit die Berichterstattung aus China und Italien prägen, können Angst einjagen. Der neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2 und die von ihm ausgelöste Lungenkrankheit COVID-19 provozieren in uns Vorstellungen, die an Filme wie Outbreak oder Contagion erinnern: Eine sich rasend ausbreitende Infektion, die Millionen Menschenleben gefährdet und die Zivilisation an den Rand des Abgrunds führt. Fiktionen prägen unsere Wirklichkeitserfahrung. Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat aus diesem Grund zurecht darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, die Art und Weise zu hinterfragen, „wie wir uns fürchten“. Auf dem Spiel steht nämlich unser realer Umgang mit einer viralen Bedrohung. Fiktionen erweitern unsere Imaginationsvermögen, lassen uns üblicherweise Unbedachtes bedenken, doch sie können sich auch wie ein Schleier über unsere Erfahrungswelt legen und ganz eigene Gefahren produzieren.
Gegenwärtig scheinen unsere Vorstellungen vor allem uns selbst im Weg zu stehen. Die Angst vor dem Zusammenbruch motiviert einen beachtlichen Teil der Bevölkerungen zu Hamsterkäufen von Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischem Equipment. Vor allem letzteres bringt jene Mitbürger in Bedrängnis, die aufgrund von Vorerkrankungen oder ihrem Alter durch das Virus einem höheren Sterberisiko ausgesetzt sind. Sie können sich ohne entsprechende Mittel nicht ausreichend schützen. Es gibt in Berlin einen Fall von Desinfektionsmitteldiebstahl auf einer Kinderkrebsstation, der die dortigen Patienten und das medizinische Personal in Lebensgefahr bringen kann. Gerade die Fiktion, sich am Vorabend eines apokalyptischen Szenarios zu befinden, kehrt anscheinend Egoismen hervor, zu einer eigenen Gefahrenquelle werden. Gerade dann, wenn viele nur noch ihr eigenes Überleben im Sinn haben. So schlug etwa ein NDR-Zuhörer dem Virologen Christian Drosten vor, man solle sich im eigenen Interesse doch schleunigst selbst infizieren, um noch rechtzeitig Zugang zu einer ordentlichen Gesundheitsversorgung zu bekommen. Dass ein solches Verhalten, als gesellschaftliche Maxime genommen, noch viel schneller zum Kollaps führt, ist offenbar nachrangig, sobald die eigene Haut auf dem Spiel steht.
Was ist rational?
Aber die Übertreibung der Einen kann andere zu Untertreibung verführen. Wo Hamsterkäufe ganze Regale leerfegen und die Preise für Desinfektionsmittel in gigantische Höhen treiben, liegt es nahe, mit Panikmachevorwürfen die eigene Sorglosigkeit zu rationalisieren. Denn die Tatsache, dass das Virus bei den meisten eher milde Symptome hervorrufen dürfte und auch im Allgemeinen der normalen Grippe ähnelt, macht es leicht, seine Gefährlichkeit herunterzuspielen, obwohl das Virus deutlich gefährlicher als eine normale Grippe ist. Aus den Niederlanden berichtet etwa die Korrespondentin Naomi O’Leary, dass eine Verharmlosung des Virus vonseiten der Behörden und der Medien zu einem underreporting und bedenkenlosen Umgang von Infizierten geführt hat. Da für die Mehrheit der Bevölkerung individuell keine großen individuellen Risiken drohen, ernten Behörden viel Unverständnis bei strengeren Hygiene-Empfehlungen, Veranstaltungsabsagen und Quarantäne-Maßnahmen. Eine Haltung, die aktuell die deutsche Politik davon abhält, Massenveranstaltungen wie Fußballspiele zu verbieten, obwohl einige Virologen und Epidemiologen dazu raten.
Insgesamt scheint es zumindest in Westeuropa schwierig zu sein, die Bürger auf kommende Einschränkungen und Risiken vorzubereiten, ohne irrationale und im Ergebnis gefährliche individuelle Panikreaktionen hervorzurufen. Besonders im Weg steht hierbei der spezifische Gefährdungscharakter der aktuellen Corona-Epidemie: Er ist genau zwischen den beiden Polen individueller und systemischer Risiken angesiedelt. Weder ist bloß der Einzelne in unmittelbarer Gefahr, wie bei Kriminalität oder Unfällen, noch ist einfach nur das Gesundheitssystem einem Risiko ausgesetzt, das – wie etwa bei Finanzengpässen – durch Reform beseitigt werden kann. Die Corona-Welle ist verzwickter: Trotz individuell geringer Risiken hängt alles davon ab, dass sich die Infektion möglichst langsam ausbreitet, um nicht die Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems zu überschreiten. Infizieren sich zu viele Menschen in zu kurzer Zeit, verschlechtert sich die medizinische Versorgung und sind nicht nur Corona-Patienten höheren Risiken ausgesetzt.
Um eine solche Situation zu vermeiden, müssen nicht nur die Behörden und Politik gute Arbeit leisten, sondern auch die Bevölkerung. Es gilt häufig die Hände zu waschen, große Menschenmengen zu vermeiden, zu anderen Personen Abstand zu halten, die Nies-Etikette zu beachten und bei Symptomen umgehend und umsichtig zu reagieren. So können Infektionsketten unterbunden oder zumindest verlangsamt werden und die Anzahl zu behandelnder Fälle zur gleichen Zeit nimmt ab.
Solidarität
Doch systemische Risiken sind abstrakt. Solange keine Kapazitäten überschritten sind, sieht man sie als Normalbürger im Regelfall nicht. Sich füllende Krankenbetten, knapp werdende Medizinvorräte und Überstunden des medizinischen Personals bleiben unserem Blick verborgen. Was wir sehen sind leere Regale, abgesagte Veranstaltungen und größtenteils gesunde Menschen um uns herum. Wir lassen uns von unseren Fiktionen zu irrationaler und im Ergebnis schädlicher Panik verleiten – oder unterschätzen das gesellschaftliche Risiko aufgrund unserer eingeschränkten, individuellen Sichtweite. Dadurch bringen wir das System, von dessen Existenz und Funktionieren wir abhängig sind, unbedacht in Gefahr. Dass dieses Problem auch Leute betreffen kann, die sich alltäglich in Abstraktionen bewegen, stellte jüngst der italienische politische Philosoph Giorgio Agamben unter Beweis. Unter der Prämisse, dass das neuartige Corona-Virus für Betroffene ja ähnlich gefährlich wie eine Grippe sei, kritisierte er die Maßnahmen der italienischen Politik zur Eindämmung der Virusverbreitung als „frantic, irrational, and absolutely unwarranted (…) militarization“. Die Problematik systemischer Kapazitätsgrenzen tauchen in seinem Text dagegen nicht auf.
In Situationen wie diesen wird umso deutlicher, wie wichtig eine zu Solidarität fähige Gesellschaft ist. Wo aus mangelndem Zusammenhalt die Egoismen blühen, erhöht sich die Gefahr. Nur wenn wir eine politische Sprache vorfinden, die es uns erlaubt, Risiken und Verhaltensempfehlungen zu kommunizieren, die über unsere unmittelbare Erfahrung hinausgehen, lässt sich die Krise meistern. Dafür braucht es ein Grundvertrauen in die Politik und in unsere Mitbürger. So argumentieren etwa die Kommunikationswissenschaftlerinnen Georgina Cairn, Marisa de Andrade und Laura MacDonald in einer Studie, die einen Blick auf die Untersuchungen zu vergangenen Epidemien und Pandemien wirft, dass Vertrauen in epidemischen Krisensituationen dazu führt, dass selbst unter starker Ungewissheit starke Einschränkungsmaßnahmen effektiv ergriffen und implementiert werden können. Fehlt das Vertrauen, laufen Aktionen ins Leere. Denn wo Amtsträger kein Vertrauen genießen, liegt es nahe, ihren Anweisungen die Folge zu verweigern, oder gar wichtige Maßnahmen durch Unverständnis im Vorhinein zu verhindern. Das Zurückschrecken davor, Bundesligaspiele selbst im Ausbruchsgebiet Nordrhein-Westfalen abzusagen, legt dafür ein ernüchterndes Zeugnis ab.
Aber auch das Verhältnis der Bürger untereinander ist von gegenseitigem Vertrauen und solidarischem Handeln abhängig. Niemand wird Menschen daran hindern, Desinfektionsmittel zu horten, obwohl es andere dringender bräuchten. Ich muss im Supermarkt selbst meinen apokalyptischen Fiktionen widerstehen, um Ware für Risikogruppen übrig zu lassen. Ich muss auf Hobbies und Aktivitäten verzichten, die mir Freude bereiten, auch wenn ich keine unmittelbare Gefahr sehe, um nicht in Menschenmengen zu geraten. Ich muss mich um Ältere und Kranke in gefährdeten Gebieten kümmern, sie mit Nahrungsmitteln versorgen, damit sie nicht das Haus verlassen müssen. Ich muss Einschränkungen hinnehmen, wo sie befohlen, und freiwillig Beschränkungen vornehmen, wo sie empfohlen werden. Und bei aller dem Virus geschuldeten Vorsicht im Hinterkopf behalten, welche ganz eigenen politischen Gefahren in der Virusbekämpfung schlummern, vom staatlichen Ausnahmezustand, der zum Beispiel in China aktuell ungekannte Dimensionen der digitalen Überwachung eröffnet, über alltäglichen Rassismus, dem asiatisch aussehende Menschen aktuell vielerorts ausgesetzt sind, bis zu Verschwörungstheorien, deren Urheber politisches Kapital aus der Situation schlagen wollen. Dass das Leben nach einer viralen Pandemie ohne allzu großen gesundheitlichen und politischen Schäden weitergehen kann, hängt genau davon ab, inwieweit wir bereit sind, in unserem Handeln auch Sorge um jene menschliche Pluralität zu tragen, in der es zuallererst und ausschließlich stattfinden kann.