
Im rechtspopulistischen Milieu ist es ein fest etabliertes rhetorisches Spiel, Flüchtlinge als gefährliches Wasserereignis darzustellen. Inmitten der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 erklärte etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán – generell ein Freund des brachialen Sprachgebrauchs –, er sei erst dann zufrieden, „wenn die Flut aufgehalten worden ist.“ Doch auch aus der politisch weniger eindeutig verorteten Medienberichterstattung ist die Vorstellung von Flüchtenden als reißenden Wassermassen – ob als „Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsstrom“ oder eben „Flüchtlingsflut“ – nicht wegzudenken. Bestimmte Bilder verstärken sie oft visuell: Vermeintlich migrantische Menschenmengen schlängeln sich mäandernd wie Flüsse durch die Landschaft oder steuern „wellenreitend“ auf Booten über das Mittelmeer auf die Strände von Südeuropa zu.
In den letzten Jahren gab es etliche wichtige Kritiken an der Naturalisierung und Entpolitisierung von Flucht und an der Entmenschlichung von Geflüchteten durch eine solche Wortwahl. Durch ihre sprachbildliche Gleichsetzung mit einer Naturkatastrophe werden die betroffenen Menschen zu einer vagen, emotional aufgeladenen Bedrohung. Daher drängt sich die Frage auf, welche Geschichte die Metaphernfamilie der Welle, Flut und Überschwemmung hat und woher ihre Präsenz im öffentlichen Diskurs kommt?
Flüssiges und Fließendes im Wissenschaftsdiskurs
In ihrem Diskurshistorischen Wörterbuch zur Einwanderung (2000) lokalisieren die Sprachwissenschaftler:innen Matthias Jung, Thomas Nier und Karin Böke den Ursprung der deutschsprachigen Wassermetaphorik in der Nachkriegszeit; ab den 1970er Jahren stellen sie eine eindeutig negative Konnotation von Migration fest, die in der Warnung vor der vermeintlichen „Überflutung“ des Arbeitsmarkts durch die sogenannten Gastarbeiter zum Ausdruck komme. Ab den 1990er Jahren sei dieses Vokabular zwar kritisch reflektiert worden. Doch wie die oben genannten Beispiele zeigen, erfreuen sich die aquatischen Metaphern weiterhin großer Beliebtheit.

Grafik in Hein de Haas, Simona Vezzoli and María Villares-Varela, “Opening the floodgates? European migration under restrictive and liberal border regimes 1950-2010”, working paper, International Migration Institute Network, Februar 2019
Hinzu kommt, dass sich dieser Wortschatz nicht nur im Populärdiskurs der im Wörterbuch untersuchten und kritisierten Medien wiederfindet. Auch im akademischen Sprechen ist die Wassermetaphorik omnipräsent; hier reden selbst Ökonom:innen und Soziolog:innen ganz ohne Ironie von „Migrationsströmen“ und „Einwanderungswellen“. Auch groß angelegte historische Überblickswerke zur Ein- und Auswanderungsgeschichte, die der Kontextualisierung der aktuellen Migrationspolitik dienen sollen, sind von Wellen und Strömen durchzogen. Und selbst in der eigentlichen Migrationsforschung findet sich eine metaphorische Orientierung am Wasser und dessen physikalischen Gesetzen: Die klassische analytische Unterscheidung zwischen „pull“- und „push“-Faktoren der Migration, die in den 1960er Jahren durch die Arbeit des amerikanischen Soziologen Everett Lee geprägt wurde, ist an die Regelmäßigkeiten der Gezeiten angelehnt – bildet doch die Wechselwirkung von Ebbe und Flut durch die Anziehungskräfte von Mond und Sonne ein scheinbar universelles Modell des Zu- und Abwanderungsgeschehens. Die damit suggerierte Berechenbarkeit erlaubt es auch, Migration mit anderen gesellschaftlichen Prozessen in Relation zu setzen. So zeigte beispielsweise das amerikanische Magazin National Geographic 2019 mit einer mehrteiligen, als „Migration Waves“ betitelten Infografik den wellenförmigen vorgestellten und damit angeblich gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Fluktuationen und Migration.
Was diesen Beispielen gemein ist und sie in gewissem Maße von den rechtspopulistischen Parolen unterscheidet, ist nicht, dass der Gebrauch einer Sprache der Liquidität die Zerstörungskraft von Migration versinnbildlichen soll, sondern dass sie das gesellschaftliche Phänomen als ein gesetzmäßiges, ja beinahe naturgesetzmäßiges interpretiert. Die Wassermetaphorik ist mithin ambivalenter, als es die momentanen politischen Parolen vermuten lassen. So signalisieren Welle und Flut nicht nur Naturkatastrophen, sondern, vor allem im wissenschaftlichen Kontext, (Natur-)Gesetze. Das Wasser hat dabei die Funktion einer „epistemischen Metapher“, die nicht mittels Analogie einen bereits bekannten Gegenstand politisch deutet, sondern diesen als Wissensgegenstand erst generiert, das heißt erkennbar macht.

Grafik in Alberto Lucas López, Ryan Williams, and Kaya Berne, „Migration Waves: The Shifting Patterns of Movement“, National Geographic Magazine, August 2019. Quelle: National Geographic.
Die Welle als Naturgesetz
Diese Grundannahme einer wissenschaftlich feststellbaren, wellenförmigen Regelmäßigkeit der Migration knüpft an eine längere Tradition innerhalb der Sozialtheorie an, in der soziale Realität als in Wellenform existierend und darstellbar angenommen wird. Der amerikanische Anthropologe Stefan Helmreich weist in seiner kürzlich erschienenen Skizze der Geschichte der „Wellentheorie“ darauf hin, dass die Figur der Welle wie viele andere sozialwissenschaftliche Begriffswerkzeuge den Naturwissenschaften entlehnt ist und bei Sozialtheoretikern bereits seit dem späten 19. Jahrhundert Konjunktur hatte. In der Tat beschäftigten sich um 1900 eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen – von der Linguistik über die Ökonomie bis zur Epidemiologie – leidenschaftlich mit den „steigenden und fallenden Tendenzen im Sozialkörper“. Dabei fungierte die Welle gleichzeitig als wissenschaftliches Interpretationswerkzeug und als Prophezeiung mit Drohpotential. In diesem Sinne ist auch die allgegenwärtige „Coronawelle“ zumindest konzeptuell mit der „Flüchtlingswelle“ verwandt: Beide „Wellen“ sind sowohl Beschreibung einer natürlichen, (fast) vorpolitischen Regelmäßigkeit als auch implizite Handlungsaufforderung.
Mittlerweile hat sich dieses hydraulische Verständnis von gesellschaftlichen Prozessen auch in der Geschichtswissenschaft etabliert, wo die (zumeist anglophone) Historiographie mit der Identifizierung von „guten“ Wellen, die nach demselben Schema der angenommenen natürlichen Regelmäßigkeit funktionieren, sozialen Fortschritt beschreibt. Allein im 20. Jahrhundert begegnen den Leser:innen die „Wellen“ der Frauenbewegung, der Demokratisierung oder der Dekolonisation. Obgleich dieses prozessorientierte Schema um Komplexität bemüht ist, gibt es auch hierzu seit einiger Zeit gute und wichtige Kritik. Diese lässt sich exemplarisch an der Geschichte der Frauenbewegung beschreiben. Hier beruht die Darstellung der sozialen Bewegung in wellenförmigen Schüben oft auf einer selektiven Wahrnehmung von Fortschritt, die sich an neuer Gesetzgebung und den Errungenschaften für weiße, gut situierte Frauen orientiert, aber letztlich die kontinuierliche Arbeit und die Erfahrungen von nicht-weißen, proletarischen Aktivistinnen marginalisiert.
Ähnlich verhält es sich dann auch mit der Metapher der „Migrationswelle“, die versucht, die scheinbar wahllosen Wanderungsbewegungen über Jahrhunderte hinweg als große Naturgesetzmäßigkeiten zu deuten. Dies hat zwar den Vorteil, dass Migration nicht als Ausnahmehandlung in der Menschheitsgeschichte stigmatisiert wird, – aber die Motivationen und Erfahrungen jener Individuen, die die jeweiligen „Wellen“ bilden, werden in diesem Schema zwangsläufig außen vor gelassen beziehungsweise stereotypisiert. Gerade im Bereich der internationalen Migration wird ihre Bewegung entweder zur natürlichen Folge des Krieges (Kategorie „Flüchtling“) oder sie ist Resultat der vermeintlich magnetischen Anziehungskraft des Arbeitsmarktes im Zielland (Kategorie „Migrant“).
Von der epistemischen zur politischen Metapher
In den Sozialwissenschaften haben die aquatischen Metaphern allerdings nicht nur eine epistemische, wissensgenerierende, Funktion, sondern können sehr schnell in eine nur noch politische Bedeutung umschlagen. Zum Verständnis der außerordentlichen Wirkmächtigkeit der Welle als politischer Metapher lohnt sich ein Blick auf ihre Verwendung im Kontext der nordamerikanischen Immigration des frühen 20. Jahrhunderts. Hier wird deutlich, dass die Welle, über das sprachliche Bild hinaus, als graphische Veranschaulichung der historischen Immigrationsstatistik diente und in dieser Funktion vermeintlich neutrale, wissenschaftliche Daten abbildete, aber eben gleichzeitig auch deren Bedrohung symbolisierte. Eine ganze Reihe von amerikanischen Wissenschaftlern benutzte in den 1910er und 1920er Jahren in diesem Sinne die hydraulische Sprache. Das berüchtigte Werk des Historikers Lothrop Stoddard, The Rising Tide of Color: The Threat Against White World-Supremacy, aus dem Jahr 1920 ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass eine solche Rhetorik eng mit rassistischen Vorstellungen verflochten war.

Louis Dalrymple, “The High Tide of Immigration—A National Menace,” Judge Magazine, August 22, 1903. Quelle: The Ohio State University Billy Ireland Cartoon Library & Museum.
Aber auch das weniger bekannte – obgleich vielsagend betitelte – Buch The Immigrant Invasion des Ökonomen und Statistikers Frank Julian Warne von 1913 liefert ein treffendes Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Rhetorik Fantasien von Naturkatastrophen heraufbeschwören konnte. Warnes Diagramme zur Statistik der Einwanderung in die Vereinigten Staaten zwischen 1860 und 1910 gleichen optisch einer Abfolge von immer höher schwappenden Wellen, deren Höhepunkte in den Jahren 1873, 1882 und 1907 mit Finanzpaniken und industriellen Depressionen zusammenfielen, die, nach Warnes Lesart, somit kurzerhand als deren Ursache interpretiert werden konnten. „Man beachte den ‚Welleneffekt‘ der Linie, die die Schwankungen des jährlichen Zustroms misst“, betonte Warne dann auch im Begleittext zur Grafik – als ob die Leser:innen eine weitere Ermutigung gebraucht hätten, um die Verbindung zwischen der vermeintlich „neutralen“ statistischen Darstellung der Realität und der von Warne beklagten Bedrohung herzustellen, die in dem Sprachbild der auf die amerikanischen Küsten zurollenden „Einwanderungswellen“ vermittelt wurde.

Grafik in Frank Julian Warne, The Immigrant Invasion (New York: Dodd, Mead and Company, 1913).
Das Problem bei der Welle als Datenvisualisierung ist, dass Zahlen, ob groß oder klein, ziemlich abstrakt erscheinen, wenn sie in einer einfachen Tabelle zusammengestellt sind. Viel mehr Dringlichkeit und Alarm wird hingegen suggeriert, wenn sie als Diagramm dargestellt werden, wobei durch die Wahl der Maßstäbe auf den jeweiligen Achsen und die Manipulation ihrer Proportionen zueinander dramatische visuelle Effekte erzeugt werden können. Wie man bei Warne sieht, werden bei der Migration solche Effekte inhaltlich noch dadurch verstärkt, dass die Akkumulation von Datensätzen über die Zeit hinweg die Form einer sich aufbäumenden Welle annimmt und sich der Forschungsgegenstand “zufällig” genau in solchen Wellen bewegt.
Von Strömen zu Sedimenten
Die überwiegend von Sozialwissenschaftlern verfassten einwanderungsfeindlichen Traktate des frühen 20. Jahrhunderts überschneiden sich nicht zufällig mit dem Aufstieg der Demografie als akademischer Disziplin. Die Verwendung von statistischem Material durch Demografen, die um wissenschaftliche Anerkennung rangen, suggerierte, dass vielleicht keine komplette Steuerung oder gar Unterbindung einer „Einwanderungswelle“ möglich sei, gleichwohl aber eine auf historische Daten gestützte Vorhersage. Dieser Zusammenhang ist auch insofern wichtig, als es in der Demografie in Bezug auf Migration traditionell nicht um einzelne, in Bewegung geratene Individuen oder Gruppen geht, sondern um das allumfassende Konstrukt der „Bevölkerung“ und darum, wie sich Migration auf die Beschaffenheit dieser Bevölkerung auswirkt. Anders gesagt: Hier wird die Welle nicht als einmaliger Aufprall einer Naturgewalt verstanden, sondern es geht darum, was diese Welle angeblich auf lange Zeit gesehen „wegspült“ beziehungsweise um das „Sediment“, welches sie hinterlässt.
Diese Facette der Wassermetaphorik lässt sich in den politischen Diskussionen des 21. Jahrhunderts, in denen es um die Reproduktionsraten von vermeintlich fremden gegenüber „einheimischen“ Frauen geht, ohne Probleme wiederfinden. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wird die Theorie eines „Bevölkerungsaustauschs“, wonach angeblich die vorranging weiße europäische Bevölkerung fortschreitend durch nicht-weiße – und besonders muslimische – Einwanderer:innen „ersetzt“ wird, durch Rechtspopulisten wie Thilo Sarrazin und Renaud Camus propagiert. Der angebliche „Untergang“ der europäischen Gesellschaft in den sogenannten „Fluten“ der Migranten ist dabei konzeptioneller Dreh- und Angelpunkt. Und auch bei der vielbesprochenen „Festung Europa“ geht es eigentlich darum, einer vermeintlichen demografischen „Sintflut“ als Damm standzuhalten – und dieses imaginäre Bild findet selbst dann Anwendung, wenn es für kritische Zwecke genutzt wird.
Künftige Fluten
Das problematische Framing der aktuellen Geflüchteten findet natürlich nicht nur durch Wassermetaphorik statt – und umgekehrt ist die hydraulische Sprache auch nicht auf die Migrationsgeschichte beschränkt, sondern hat besonders in den Humanwissenschaften ein breites Anwendungsfeld gefunden. Doch die „Flüchtlingswelle“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie solche Metaphernfamilien selbst eine Geschichte haben und nicht ohne historischen Kontext verstanden werden können. In einer paradoxen Weise könnte es sich in Zukunft allerdings erweisen, dass die buchstäbliche Bedeutung der Flut in neuer Weise ernst genommen werden muss und von bloßen Metaphern keine Rede mehr sein kann: Dann nämlich, wenn den „Fluten“ der Klimaflüchtlinge ein durch globale Erwärmung real steigender Wasserspiegel vorausgeht, der die Begriffe von Flucht und Flut neu zusammenfließen lässt.