In einem NZZ-Essay argumentiert der umtriebige Feuilleton-Chef René Scheu, dass Menschen ihre Verletzlichkeit und Begrenztheit verdrängen und sich genau damit um ihre Freiheit bringen. Dabei offenbart Scheu allerdings gerade jene Ideologie, auf der diese Flucht vor Verletzlichkeit in Wahrheit basiert.

  • Matthias Bertschinger

    Matthias Bertschinger ist Jurist und Konflikt­analytiker. Gegen­stand seines Inter­es­ses sind psy­chi­sche Konflikt­ursachen (existen­ziale bzw. herme­neu­tische Konflikt­analyse und Rechtstheorie).

In einem wie immer gelehrten Essay vom 14. Februar 2017 mit dem Titel „Wo bleibt die Begeis­te­rung für die Frei­heit?“ benennt René Scheu, sich dabei auf den Philo­so­phen und Psycho­ana­ly­tiker Carlo Strenger bezie­hend, zeit­ty­pi­sche, aber auch zeit­lose Formen der Abwehr von Verletz­lich­keit und mensch­li­cher Begrenzt­heit: Die Verdrän­gung der Fragi­lität der Zivi­li­sa­tion, den Wahn der Rund­um­ab­si­che­rung in allen Lebens­lagen, das Ideal des reibungs­losen Daseins, die Flucht in den Konsum, den Rückzug ins Private, die Selbst­über­hö­hung und den mit ihr verbun­denen „Dauer­ver­gleich“ aufge­bla­sener Egos.

Basie­rend auf diesem Befund führt Scheu – Strenger aller­dings mehr als nur frei inter­pre­tie­rend – zwei poli­ti­sche Kampf­be­griffe ein: Schuld an der Aver­sion gegen Verletz­lich­keit und Frei­heit sollen nämlich die „egali­täre Gesell­schaft“ und die „Poli­tical Correct­ness“ sein. Indem Scheu den Ange­hö­rigen heutiger west­li­cher Gesell­schaften Sehn­sucht nach Gleich­heit, Anspruchs­hal­tung und ein bequemes Wunsch­denken unter­stellt, denun­ziert er – gestützt auf die Floskel „Psycho­logie des verwöhnten Kindes“ – das Streben nach Eman­zi­pa­tion, Frei­heit und Gleich­heit, wie sie moderne Gesell­schaften auszeichnen, bloss noch als ein Rezept fürs Unglücklichsein:

Was das verwöhnte Indi­vi­duum quält, sind über­höhte Leis­tungs­er­war­tungen an sich selbst, die es aus dem Dauer­ver­gleich mit anderen gewinnt. In der gefühlten egali­tären Gesell­schaft der Gegen­wart vergleicht sich jeder mit jedem, auch wenn er am Ende mit dem Ergebnis des Vergleichs nicht leben kann. Die meisten sehen sich als poten­zi­elle Über­flieger – und leiden zwangs­läufig am eigenen Unge­nügen, weil auch unter Glei­chen nicht alle zu den Besten zählen können. Was bleibt, sind oftmals bloss Abstiegs- und Versa­gens­ängste. – René Scheu

Aver­sion gegen das Recht

Solche Zeit­dia­gnosen unter­schlagen, dass es bei den Ansprü­chen auf mehr Gleich­be­rech­ti­gung und gegen Diskri­mi­nie­rung aller Art, gegen die Scheu mit seinen wohl­feilen Kampf­be­griffen abzielt, um zutiefst libe­rale Werte geht: um Grund­frei­heiten, Rechts­staat und Demo­kratie, aber eben auch um ihre insti­tu­tio­nellen, kultu­rellen und mate­ri­ellen Voraussetzungen.

Zwar weiss auch Scheu, und es ist schlicht unbe­streitbar: „Nur wo das Gefüge von Grund­frei­heiten, Rechts­staat und Demo­kratie gegeben ist, können sich Indi­vi­duen entfalten und nach ihrer Fasson glück­lich werden.“ Scheu unter­schlägt aller­dings nicht zufällig, dass zu diesem formalen Rahmen des Rechts­staates auch der Sozi­al­staat gehört, auf den der Kampf­be­griff „egali­täre Gesell­schaft“ ja in Wahr­heit zielt.  Scheu – und mit ihm viele neurechte Intel­lek­tu­elle – unter­schlagen, dass die Frei­heit, von der sie spre­chen, mate­ri­elle Voraus­set­zungen hat, die sie gerne und bewusst unaus­ge­spro­chen einzig dem privaten Vermögen und Können über­ant­worten. Das Code-Wort dafür ist „nach seiner Fasson“ glück­lich werden.

Nan Goldin: Self-portrait in Kimono with Brian, 1983; Quelle: lempertz.com

Die ideo­lo­gi­sche Umkeh­rung ist daher unter der Hand flux voll­zogen: Nicht die möglichst von staat­li­chen Schranken befreite neoli­be­rale Wett­be­werbs­wirt­schaft erzeuge Verlierer und Unglück, sondern die angeb­lich durch den Sozi­al­staat erzeugte „Gleich­ma­cherei“. Scheu kreidet den Umstand, dass der Wett­be­werb Verlierer erzeugt, kurzer­hand dem „betreu­enden“ Sozi­al­staat an, dessen Funk­tion es in Wahr­heit ist, jene Verlierer aufzu­fangen, die die Ausschluss-Gesellschaft erzeugt.

Die im neurechten Feuil­leton immer wieder herum­ge­reichte These, dass es die pater­na­lis­ti­sche Betreuung durch den Sozi­al­staat sei, die die Indi­vi­duen dauernd mitein­ander konkur­rieren lässt, und nicht der Götze Konkur­renz und Wett­be­werb als allein­se­lig­ma­chendes Steue­rungs­prinzip, lenkt nur davon ab, die Härte dieses Wett­be­werbs mit kriti­schen Augen zu sehen. Ist es denn nicht gerade der Wett­be­werbs­druck, der die Menschen in einer sinn­ent­leerten Dauer­op­ti­mie­rung hält, sie entso­li­da­ri­siert und – wenn es denn zutreffen sollte – genau damit entpo­li­ti­siert, d.h. von der Beschäf­ti­gung mit und dem Enga­ge­ment für das Poli­ti­sche fernhält?

Aver­sion gegen Kultur

Auf die kultu­rellen Voraus­set­zungen von Grund­frei­heiten, Rechts­staat und Demo­kratie will Scheu eben­falls nicht verzichten. Scheu betont im Gegen­teil und im Anschluss an den Juristen Ernst-Wolfgang Böcken­förde, dass das Recht nicht ohne (Rechts-)Kultur auskommt: „Die frei­heit­liche Ordnung lebt von kultu­rellen und mentalen Voraus­set­zungen, die sie selbst nicht garan­tieren kann.“ Warum dann aber die Polemik gegen die „Poli­tical Correct­ness“? Geht es dieser nicht genau um diese frei­heit­liche Kultur, die nicht ausgrenzt und nicht diskri­mi­niert? Um eine Kultur also, die Voraus­set­zung des freiheitlich-demokratischen Rechts­staates ist?

Nan Goldin: One Month After Being Battered, 1984; Quelle: hellofirechild.com

Poli­ti­sche Korrekt­heit wendet sich gegen jede Ideo­logie der Ungleich­wer­tig­keit, gegen die Abwer­tung von Menschen bestimmter Gruppen, weil in dieser Diskre­di­tie­rung von Menschen der Ausschluss aus dem Diskurs und der Raub der Stimme liegt. Ausge­spro­chene oder unaus­ge­spro­chene Kern­bot­schaften der Reak­tio­nären machen dies deut­lich: „Ausländer haben hier nichts zu sagen“, „Muslime haben sich anzu­passen“, „Frauen gehören ins Haus und nicht in die Politik“, „Arme sollen nicht über die Verwen­dung von Steuern mitbe­stimmen, die sie nicht zahlen“ usw. Die Reduk­tion von poli­ti­scher Korrekt­heit auf Sprech­ver­bote negiert und verkehrt ihren ursprüng­li­chen Sinn. Authen­ti­sche poli­ti­sche Korrekt­heit will im Gegen­teil, dass jedes Mitglied der Gesell­schaft seine Stimme frei erheben und mitbe­stimmen kann.

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Abge­lenkt werden soll wohl davon, dass der Kampf um libe­rale Werte längst in andere Hände über­ge­gangen ist. Denn denje­nigen, auf die Scheu mit seinen Kampf­be­griffen abzielt, geht es tatsäch­lich um urli­be­rale Werte wie Gleich­be­rech­ti­gung unab­hängig von Geburt, Geschlecht, Haut­farbe, Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, sexu­eller Präfe­renz oder finan­zi­eller Potenz.  Scheu beklagt zwar bezug­neh­mend auf Carlo Strenger zu Recht die Abwe­sen­heit eines Bewusst­seins mensch­li­cher Begrenzt­heit: „Der verwöhnte Mensch über­schätzt sich laufend selbst, weil er seine eigenen Grenzen nicht erfahren hat. Für ihn sind Leben und Glück nicht in erster Linie Aufgabe, sondern Anspruch.“

Doch welches ist die Ideo­logie, die behauptet, man könne alles aus sich machen, wenn man nur will? Der von Scheu in sehr eigen­sin­niger Weise bemühte Strenger spricht vom „Just-do-it-Prinzip“, einem Prinzip, welches Grenzen negiert und zu hybrider Selbst­über­schät­zung anhält. Doch was begüns­tigt diesen Machbarkeits-, Männlichkeits- und Potenz­wahn? Ist es der „verwöh­nende“ Sozi­al­staat – oder ist es die gesell­schaft­liche Forde­rung, aus sich einen „Gewinner“ zu machen und sich in allen Lebens­be­rei­chen über andere zu erheben? Und was würden Betrof­fene dazu sagen, dass der Sozi­al­staat die Menschen „verwöhnt“?

Aver­sion gegen unver­füg­bare Grenzen

Zurück zu den Grenzen. An Grenzen wächst man: Nulla crux, nulla corona – per aspera ad astra – keine Ostern ohne Karfreitag… Was macht Scheu aus dieser alten Weis­heit? Er setzt kurzer­hand ontologisch-transzendente Grenzen wie Leiden und Tod (das heisst: Unver­füg­bar­keit) mit sozialen Grenzen wie Ausbeu­tung und Diskri­mi­nie­rung gleich. Erstere muss man annehmen, gegen Letz­tere hingegen muss man sich auflehnen, wenn man frei werden will.

Nan Goldin: Jimmy Paulette and Taboo! in the bathroom, 1991; Quelle: fadedandblurred.com

Der Reak­tionär verfährt genau umge­kehrt. Das Ressen­ti­ment richtet sich gegen unver­füg­bare Grenzen, es ist „Wider­wille gegen die Zeit“ (Nietz­sche) und richtet sich gegen die Eman­zi­pa­tion, da die Eman­zi­pa­tion dem Ressen­ti­ment Sünden­böcke wegzu­nehmen droht, auf die sich bedroh­liche Unver­füg­bar­keit proji­zieren lässt. Diese entschei­dende Diffe­renz unter­schlagen reak­tio­näre Vordenker wie Scheu oder Sloter­dijk, die uns die Schwa­chen, Entrech­teten, Geringsten und ihre Fürspre­cher als sozi­al­po­li­ti­schen Abgrund präsen­tieren. Die Perfidie ihres Vorge­hens liegt darin, dass sie eine Wahr­heit anspre­chen, um sie für deren Patho­logie fruchtbar zu machen: Sie brechen mutig das gesell­schaft­liche Tabu Schei­tern, Leiden und Tod, unter­schieben es dann aber feige den Schwa­chen und eman­zi­pa­tiven Kräften: „Verzär­telte“ Schwache und „Linke“ würden ein Schwach­sein leugnen, das zum Leben gehört, und damit vor Frei­heit fliehen.

Das Leiden an unver­rück­baren Grenzen ist eine gesell­schaft­lich verdrängte, anthro­po­lo­gi­sche Grund­kon­stante, deren Wirkung auf Alltag und Politik gar nicht hoch genug einge­schätzt werden kann. Eben­falls zum Menschen gehört die Neigung, unver­füg­bare Grenzen auf „Objekte“ zu proji­zieren und die eigene Begrenzt­heit dann in ihnen zu hassen. Diese Neigung machen sich alle reak­tio­nären Kräfte zunutze – egal, in welche ideo­lo­gi­schen Mäntel­chen sie sich hüllen.  Durch diese Verschie­bung von Unver­füg­bar­keit auf Sünden­böcke erhält man eine Illu­sion der Kontrolle über ontologisch-transzendente „Fakten“, d.h. über die facts of life, das ens realis­simum, das „aller­wirk­lichste Wirk­liche“: die harten Grenzen der Exis­tenz. Hier ist auch der tiefere Grund zu suchen für die reak­tio­näre Aver­sion gegen Fakten über­haupt. Die reak­tio­näre Versu­chung besteht darin, vor seinen Grenzen in mehr oder weniger geschlos­sene Welt­an­schau­ungen (Ideo­lo­gien) zu fliehen, welche die Abspal­tung der in den Affekten Angst und Scham erfah­renen mensch­li­chen Begrenzt­heit ratio­na­li­sieren und legi­ti­mieren helfen.

Eine Frage der intel­lek­tu­ellen Redlichkeit

Die Wett­be­werbs­ideo­logie aber begüns­tigt die in der conditio humana ange­legte Abwehr abso­luter Begrenzt­heit und Verdrän­gung eigener Schwäche, welche Fremde als bedroh­lich konstru­iert und Schwache verachtet. Sie schafft einer­seits neue, soziale Grenzen, indem sie Indi­vi­duen oder Gebiets­kör­per­schaften gegen­ein­ander ausspielt – etwa im Steu­er­wett­be­werb, der poli­ti­sche Hand­lungs­frei­heit kostet. Ander­seits leugnet sie mensch­liche Grenzen und muss sie gemäss ihrer Logik auch leugnen. Ihr in sich wider­sprüch­li­ches Credo lautet: Jeder kann es an die Spitze schaffen – wenn er nur will. Ihr Impe­rativ lautet: „Leugne (Deine) Grenzen“, „nimm Dich nicht als das endliche und begrenzte Wesen an, welches Du wirk­lich bist“ und damit „werde nicht, der Du bist“.

Nan Goldin: Amanda in the mirror, 1992, Quelle: hellofirechild.com

Frei­heit aber gründet auf Selbst­ak­zep­tanz, wie der von Scheu bemühte Carlo Strenger doch im Anschluss an Jaspers nicht müde wird zu betonen. Fassade und Ansehen aber kosten die Frei­heit, weil man sich im uner­bitt­li­chen Wett­be­werbs­druck keine Fehler erlauben, keine Schwäche zeigen und keine Blösse geben darf. Scheu löst nicht ein, was er bezug­neh­mend auf Strenger für sich rekla­miert, nämlich „ein ehrli­ches Verhältnis zur Tragik mensch­li­cher Exis­tenz“. Scheu betreibt hier genau das, was Adorno Heidegger vorwarf: Er über­höht die Tragik substan­zon­to­lo­gisch – und entzieht sich ihr gerade auf diese Weise. Scheu konstru­iert den Abgrund bei denje­nigen, die für gleiche Lebens­chancen aller Menschen kämpfen und in diesem Sinne „egalitär“ und „korrekt“ sind. Aver­sion gegen Leiden und Tod, oder mit Freud gespro­chen: die Revolte gegen die „Realität“, richtet sich immer auch gegen intel­lek­tu­elle Redlich­keit, da kriti­sches und herme­neu­ti­sches Denken der eigenen Vulnera­bi­li­täts­ab­wehr gefähr­lich wird. Dieses Opfer der Vernunft (sacrfi­cium intel­lectus) aber bezeichnet der Funda­men­tal­theo­loge René Buch­holz nicht ohne Grund als das „erste grosse, gegen die eigene Person gerich­tete Attentat“ im ideo­lo­gi­schen Radi­ka­li­sie­rungs­pro­zess eines Menschen.