Ein neues Gesetz soll ermöglichen, dass die Bezüger von Sozialversicherungen bei Missbrauchsverdacht bis hinein in die Privatsphäre und auf Anordnung auch privater Versicherungsunternehmen überwacht werden können. Einer kritischen Prüfung hält das Gesetz, gegen das das Referendum ergriffen wurde, nicht stand.

  • Niccolò Raselli

    Niccolò Raselli war von 1995 bis 2012 Ordentlicher Richter am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne – bis 2008 in der II. zivilrechtlichen Abteilung (wovon sechs Jahre als Präsident) und von 2009 in der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung.

Im Jahre 2016 kriti­sierte der Euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte, dass in der Schweiz verdeckte Über­wa­chungen von Bezü­gern von Sozi­al­ver­si­che­rungs­leis­tungen ohne genü­gende gesetz­liche Grund­lage erfolgen. Das Parla­ment reagierte prompt und hat im Früh­jahr 2018 die gesetz­liche Rege­lung der Über­wa­chung verab­schiedet. Das wäre an sich nicht zu bean­standen. Es gibt im Bereich der Versi­che­rungen, auch der Sozi­al­ver­si­che­rungen, wie überall Miss­bräuche, ja Betrugs­fälle, die es zu verhin­dern gilt. Zu bean­standen ist, dass das Parla­ment über­bordet und die Schleusen für unver­hält­nis­mäs­sige Obser­va­tionen geöffnet hat.

Über­wa­chung als schwerer Grundrechtseingriff

Die verdeckte Über­wa­chung von Personen stellt einen schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Fami­li­en­le­bens dar (Art. 13 Abs. 1 Bundes­ver­fas­sung). Darum bedarf der Eingriff nicht nur einer gesetz­li­chen Grund­lage – er muss auch verhält­nis­mässig sein (Art. 36 Abs. 3 BV). Die vom Parla­ment beschlos­senen Über­wa­chungs­mög­lich­keiten betreffen die AHV (Hilf­lo­sen­ent­schä­di­gung), die IV, die Unfall- Arbeitslosen- und die Kran­ken­ver­si­che­rung. Damit dürften prak­tisch sämt­liche Einwohner und Einwoh­ne­rinnen der Schweiz unter den Anwen­dungs­be­reich der Über­wa­chungs­re­geln fallen. Das neue Gesetz ist, mit anderen Worten, von enormer Tragweite.

Als tech­ni­sche Über­wa­chungs­mittel erlaubt das Gesetz nicht nur Video- und Tonauf­nahmen (ohne dabei Tele­ob­jek­tive und Richt­mi­kro­phone auszu­schliessen), sondern auch den „Einsatz von tech­ni­schen Instru­menten zur Stand­ort­be­stim­mung.“ Bei Fahr­zeugen sind das soge­nannte GPS-Tracker, doch der vage Begriff „Geräte zur Stand­ort­be­stim­mung“ schliesst selbst den Einsatz von Drohnen nicht aus. Sogar den kanto­nalen Sozi­al­di­rek­toren (SODK) gehen Tonauf­nahmen und GPS-Tracker, wie das Gesetz sie zur Über­wa­chung von Versi­cherten vorsieht, deut­lich zu weit.

Das Gesetz erlaubt die Über­wa­chung einer Person über­dies nicht nur, wenn diese sich an einem allge­mein zugäng­li­chen Ort befindet, sondern auch, wenn sie sich an einem Ort befindet, „der von einem allge­mein zugäng­li­chen Ort aus frei einsehbar ist.“ Erlaubt ist damit die Über­wa­chung privater Gärten, von Balkonen und Wohnungen, mithin auch von Wohn- und Schlaf­zim­mern (mittels Tele­ob­jek­tiven und Richt­mi­kro­phonen). Man denke dabei an neue Wohn­bauten, wo oft ganze Fronten aus Fens­tern bestehen… Demge­gen­über dürfen Verdäch­tige im Rahmen einer poli­zei­li­chen Straf­ver­fol­gung nur „an allge­mein zugäng­li­chen Orten“ obser­viert werden, wie Art. 282 der Straf­pro­zess­ord­nung fest­hält. Private Räume, auch wenn diese von einem öffent­li­chen Ort aus einsehbar sind, bleiben für die Straf­er­mittler tabu. Das heisst, dass die Organe der Sozi­al­ver­si­che­rungen – d.h. die auch von privaten Versi­che­rungs­un­ter­nehmen beauf­tragten Sozi­al­de­tek­tive – stärker in die Privat­sphäre von Verdäch­tigen eingreifen dürfen als die Organe der Straf­ver­fol­gung, sprich die Polizei. Mit anderen Worten: Das Gesetz ermäch­tigt die Sozi­al­ver­si­che­rungen zu Grund­rechts­ein­griffen, welche selbst bei der Verfol­gung von Verbre­chen in dieser Form nicht zulässig sind.

Ein Gummi­pa­ra­graph

Ange­sichts der Schwere des Eingriffs in die Privat­sphäre sollten Über­wa­chungen auf schwer­wie­gende Fälle einge­schränkt werden; ferner müsste dafür ein klar begrün­deter Verdacht bestehen. Doch das neue Gesetz bestimmt als Voraus­set­zung der Über­wa­chung in ausge­spro­chen vager Weise nur, dass aufgrund „konkreter Anhalts­punkte“ anzu­nehmen sei, dass „die versi­cherte Person unrecht­mässig Leis­tungen bezieht oder zu erhalten versucht“. Allein, was heisst „konkrete Anhalts­punkte“, was heisst „Leis­tungen zu erhalten versucht“? Das Gesetz schweigt dazu, die Ausle­gung bleibt den Versi­che­rungs­ge­sell­schaften über­lassen. Dazu kommt, dass Anzeigen wohl in den meisten Fällen rache­ge­steuert sein dürften – es würde sehr leicht sein, private Konflikte auf diese Weise auszutragen.

Denn das Gesetz sieht nicht vor, dass ein Gericht bzw. ein Richter solche Anzeigen prüft, bevor eine Über­wa­chung einge­leitet wird. Nur der Einsatz von GPS-Trackern bedarf einer rich­ter­li­chen Geneh­mi­gung, wie das auch in der Straf­pro­zess­ord­nung und im Nach­rich­ten­dienst­ge­setz vorge­sehen ist. Obser­va­tionen durch Sozi­al­de­tek­tive hingegen – ausge­rüstet, wie gesagt, mit Tele­ob­jek­tiven und Richt­mi­kro­phonen – können von den Versi­che­rungen selbst veran­lasst werden, und zwar, wie es im Gesetz heisst, auf Anord­nung durch eine „Person mit Direk­ti­ons­funk­tion“. Weil Obser­va­tionen durch Versi­che­rungs­ge­sell­schaften und damit von einer Verfah­ren­s­partei, das heisst einer nicht unab­hän­gigen Instanz, ange­ordnet werden, ist realis­ti­scher­weise davon auszu­gehen, dass diese im Zweifel die Über­wa­chung anordnet.

Schliess­lich ist fest­zu­halten, dass die Über­wa­chung laut Gesetz an 30 Tagen inner­halb von sechs Monaten statt­finden darf. Diese Frist kann um weitere sechs Monate verlän­gert werden, wenn „hinrei­chende Gründe“ dafür bestehen. Die Über­wa­chung kann demzu­folge während des Zeit­raumes eines ganzen Jahres statt­finden. Abge­sehen davon, dass „hinrei­chende Gründe“ eine Leer­formel ist, dürften solche immer gegeben sein, wenn erst einmal eine Über­wa­chung ange­ordnet worden ist.

Grund­sätz­liche Probleme der rechts­staat­li­chen Ordnung

Das Gesetz wirft weitere grund­sätz­liche Probleme der rechts­staat­li­chen Ordnung auf. Zum einen: Dass das Gesetz den Einsatz von Privat­de­tek­tiven in einer so weit­rei­chenden Weise erlaubt und prak­tisch ohne Einschrän­kung Über­wa­chungen von Privat­per­sonen durch­ge­führt werden können, bedeutet nichts anderes als eine Aufwei­chung des staat­li­chen Gewalt­mo­no­pols. Daran ändert auch die Absicht des Bundes­rates, Versi­che­rungs­de­tek­tive einer Bewil­li­gungs­pflicht zu unter­stellen, nichts.

Zum andern: Das Gesetz regelt die Frage nicht, ob unrecht­mässig erho­bene Beweis­mittel verwertet werden dürfen. Nach der laschen Praxis des Bundes­ge­richtes hängt deren Verwert­bar­keit von Fall zu Fall von einer Abwä­gung zwischen den invol­vierten privaten und öffent­li­chen Inter­essen ab. Das kommt einer Aufmun­te­rung zu ille­galen Beweis­erhe­bungen gleich – nach dem Motto „nützt’s nichts, schadet’s nichts“ -, ziehen doch ille­gale Über­wa­chungen weder Sank­tionen noch ein Verwer­tungs­verbot nach sich. Im Straf­ver­fahren sind illegal erlangte Beweise nur ausnahms­weise verwertbar, wenn es „zur Aufklä­rung schwerer Straf­taten uner­läss­lich“ ist (Art. 141 Abs. 2 Strafprozessordnung).

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Die SVP-Polemik gegen „Sozi­al­schma­rotzer“ trägt ihre giftigen Früchte

Warum soll man Menschen, die des Miss­brauchs von Sozi­al­ver­si­che­rungs­leis­tungen verdäch­tigt werden, härter anfassen als Verdäch­tigte eines Verge­hens oder Verbre­chens, ganz zu schweigen von jenen, die der Steu­er­hin­ter­zie­hung verdäch­tigt werden? Es ist unüber­sehbar, dass die jahre­lange Verleum­dung der Sozi­al­leis­tungs­be­züger als „Sozi­al­schma­rotzer“ und „Schein­in­va­lide“ ihre giftigen Früchte trägt. Wie anders ist es zu erklären, dass nur Bezüger von Leis­tungen der Sozi­al­ver­si­che­rungen aufs Korn genommen werden, nicht aber Bezüger von Subven­tionen, geschweige denn hinter­zie­hende Steu­er­schuldner? Ob jemand Steuern hinter­zieht oder unrechts­mässig Sozi­al­ver­si­che­rungs­leis­tungen bezieht, macht für das geschä­digte Gemein­wesen keinen Unter­schied. Bezüger von Sozi­al­ver­si­che­rungs­leis­tungen werden einem Gene­ral­ver­dacht unter­stellt. Anders ist diese unver­hält­nis­mäs­sige Über­wa­chungs­ge­setz­ge­bung nicht zu erklären. Und aus den genannten Gründen ist sie auch in keiner Weise zu rechtfertigen.