Polen hat als Gesellschaft innerhalb von fünf Wochen weit mehr als zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Für kurze Zeit traten die innenpolitischen Kämpfe in den Hintergrund, die Bedrohung aus dem Osten schweißt für einen historischen Moment Polen zusammen, denn es geht jetzt konkret darum, wo die Bekannten aus Schytomir in den nächsten Wochen unterkommen, wo der geflüchtete Junge aus Charkiw zur Schule gehen kann und wo medizinische Versorgung für die Rentner:innen aus Dnipro zu finden ist. Warschau hat seit Ende Februar fast zehn Prozent mehr Einwohner, die jetzt an den Ämtern auf Registrierung warten. Der Hauptbahnhof wurde über Nacht zu einem Fluchtzentrum, in dem sich die Zivilgesellschaft selbst organisierte: Pfadfinder, Hilfsorganisationen und von der Stadtverwaltung koordinierte Freiwillige bauten zusammen eine temporäre Infrastruktur für die Weitervermittlung der ankommenden Frauen, Kinder und Alten auf. Für aus der Ukraine flüchtende Ausländer:innen engagierten sich die Aktivist:innen der Grupa Granica, die zuvor an der belarusisch-polnischen Grenze Flüchtenden aus dem Mittleren Osten halfen und dort noch immer im Einsatz sind. Sie alle zusammen wurden tätig, sprachen die Dienste ab und koordinierten die Verteilung von Sachspenden, die von Restaurants und Firmen eingingen, weil allen klar war, was im Angesicht des nur dreihundert Kilometer entfernten Krieges zu tun ist.
Der polnische Staat erlangte nach der Ausweitung der Kampfzone durch Wladimir Putin am 24. Februar aber auch von heute auf morgen eine neue Legitimität innerhalb der Europäischen Union: Zum einen hatte gerade die polnische Rechte stets vor der Gefahr aus Russland gewarnt – Lech Kaczyński war 2008 in den ersten Tagen des russisch-georgischen Kriegs nach Tiblissi geflogen und hatte dort vorausgesagt, dass Russland nicht Halt machen werde und weitere Länder zum Angriffsziel würden. Und zum anderen wird Polen als größter Staat in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kriegsgeschehen nun in der Europäischen Union gebraucht – nicht nur, um Waffenlieferungen in die Ukraine auf dem Landweg abzuwickeln, sondern auch um die einhellig verabschiedete Sanktionspolitik gegenüber Russland weiterzuführen und dabei Länder fest einzubinden, deren Abhängigkeit von russischen Energielieferungen noch größer ist als die von Deutschland.
Polens Präsident Duda bekommt plötzlich Konturen
In dieser Ausnahmesituation trat das Ringen um die Schwächung der Gewaltenteilung, das systematische Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit und die Gleichtaktung staatlicher Medien in der Polnischen Republik in den Hintergrund. Der Opposition blieb kaum eine Alternative, als die Regierung in ihrem klaren Kurs zur Unterstützung der Ukraine und Verhängung weit reichender Sanktionen gegenüber der Russländischen Föderation zu unterstützen. In diesem Sinne hat Putins Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine in Polen eine Konsolidierung bewirkt, die zunächst vor allem der PiS-Regierung nutzt, da sie im Schatten der Bedrohung ihre Herrschaft sichern kann. Schon jetzt hätte die Partei von Jarosław Kaczyński die Möglichkeit, in vorgezogenen Wahlen die absolute Mehrheit zu erlangen und die zwei rechten Splitterparteien aus der Regierung zu drängen, die den Premier Mateusz Morawiecki zuvor mit immer neuen Radikalisierungsschüben vor sich hergetrieben hatten.

Andrej Duda stoppt das umstrittene Fernsehgesetz LEX TVN; Quelle: wirtualnemedia.pl
Mit Blick auf die spätestens 2023 anstehenden Wahlen findet der zuvor konturlose Präsident Andrzej Duda im Schatten des russischen Angriffskriegs die Kraft, zentrale Elemente des Kulturkampfs der Regierung als Gesetzesvorlagen zu stoppen. Er hatte noch Ende 2021 sein präsidiales Veto gegen die sogenannte LEX TVN eingelegt, die es ermöglicht hätte, gegen den wichtigsten oppositionellen Fernsehsender vorzugehen, weil sein US-Kapital mehrheitlich außerhalb der EU alloziert ist. Am 2. März 2022 erklärte Duda sein Veto gegen den Gesetzesentwurf zur Ideologisierung der Schulen in Polen mit dem kurzen Statement: „Lasst uns diese Angelegenheit als beendet anerkennen. Wir brauchen jetzt keine weiteren Streitigkeiten“.
Wir werden damit Zeugen, wie Andrzej Duda von einem passiven Interpreten von Jarosław Kaczynskis Drehbüchern zu einem eigenständig agierenden Politiker wird, der sich anschickt, mit einer eigenen politischen Formation in das Ringen um das Erbe von Kaczyński einzutreten. Zwar liegen er, Morawiecki und der katholische Intellektuelle Szymon Hołownia von der oppositionellen Bürgerbewegung Polen 2050 als Nationalkonservative ideologisch relativ nah beieinander. Ihre Konkurrenz um die Mehrheit der Stimmen des polnischen Mainstreams wird die Demokratie in Polen aber wahrscheinlich eher beleben als zu Grabe tragen – Demokratie verstanden als politischer Kampf um die Stimmen freier Wähler:innen. Damit ist das Ende der Demokratie in Polen nicht vorgezeichnet, nur weil Russland seit den 1990er Jahren im Widerspruch zur formellen Verfassungsordnung keine beständige demokratische Praxis etabliert hat.
Die Deregulierung der Gewaltenteilung, die verfassungswidrige Übernahme des Verfassungsgerichts sowie die Einrichtung einer Disziplinarkammer innerhalb des Obersten Gerichtshofs schwächten die Demokratie in Polen, aber sie schufen sie nicht per se ab. Dennoch täuscht die März-Euphorie, die in Warschau und anderen Städten über die eigene Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln zu spüren ist. Denn alle innenpolitischen Kämpfe sind nur temporär zurückgestellt. Das Programm zum strukturellen Umbau des Staates hat die PiS-Regierung nicht aufgegeben. Der Dauerkampf des staatlichen Fernsehens gegen den inneren Feind ist nur auf Standby gestellt, weil alle Aufmerksamkeit der Bedrohung durch den äußeren Feind gilt, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit versucht, den benachbarten Staat militärisch zu zerschlagen.
Das schon vor der Ausweitung der russischen Kampfzone in der Ukraine dominante Freund-Feind-Denken wird nicht allein nach außen projiziert, sondern dominiert weiterhin die Art der politischen Auseinandersetzung im Inneren Polens. Dieses von Carl Schmitt inspirierte und von Jarosław Kaczyński verinnerlichte Politikverständnis führt dazu, dass oppositionelle Gegner weiterhin als angebliche Angehörige einer deutschen oder russischen fünften Kolonne diffamiert werden und die Europäische Union selbst im Moment des Zusammenrückens jederzeit mit der UdSSR verglichen werden kann. Der Justizminister Ziobro, der mit der Gruppierung Solidarisches Polen jeden Tag um das politische Überleben ringt, obwohl er Teil der Koalition ist, hält selbst in Tagen der „Zeitenwende“ an seinem zentralen Feindbild Deutschland fest.
Ebenso setzt die Opposition ihre direkten Vergleiche der polnischen Rechten mit Putin fort. Donald Tusk warnt mit Verweis auf Kaczyński und Orban еbenfalls im März 2022 vor einer fünften Kolonne. Auch im Angesicht der russischen Aggression ist nach dem Sommer 2022 und einem Abebben der Welle der Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine nicht die Versöhnung der politischen Lager zu erwarten, denn im Kern ist Polen wie viele andere europäische Gesellschaften in einem Kulturkampf gefangen, der alle lebensweltlichen Kontroversen in weltanschauliche Grundsatzfragen überführt, deren Beantwortung zunehmend von Gruppenzugehörigkeit bestimmt werden soll.
Kulturkampf statt Kontroversen

Quelle: teatrwkrakowie.pl
Einige Beispiele dazu: Der Kulturminister Piotr Jarosław hatte noch 2021 nach einer neuen Inszenierung des polnischen nationalen Epos der „Totenfeier“ („Dziady“) von Adam Mickiewicz im Krakauer Słowacki-Theater die Verhandlungen zur Förderung aus Mitteln seines Ministeriums abgebrochen. Die Regisseurin Maja Kleczewska hatte die Handlung in einem Wilnaer Gefängnis in die polnische Gegenwart verlegt und den Helden Gustaw Konrad von einer Frau spielen lassen. Alle Konflikte im Ringen zwischen der nationalpatriotischen Rechten und einer linken Kritik des Patriarchats werden im Stück verdichtet und zugespitzt. So lässt die Regisseurin den bei Mickiewicz für die geistige Erbauung von Gustaw Konrad zuständigen Priester Piotr als Vergewaltiger darstellen. Das stieß weder auf das Wohlwollen der für die Schulaufsicht zuständigen Regionalpolitiker, noch des Warschauer Kulturministers. Als der Direktor des Theaters noch einem Konzert der feministischen Sängerin Maria Peszek im Großen Saal seines Hauses zustimmte, leitete das Regionalparlament im Februar ein Verfahren zu seiner Absetzung ein. Wer gedacht hätte, dass dieser Versuch einer direkten Einflussnahme auf die künstlerischen Entscheidungen in einem der wichtigsten polnischen Theater der Gegenwart nach dem 24. Februar zurückgestellt würde, täuschte sich. Sowohl das Kulturministerium als auch die Regionalverwaltung setzen ihre Bemühungen zur ideologischen Kontrolle der polnischen Kulturlandschaft fort.
Die russischen Bomben auf ukrainische Städte haben diese gegen die Anerkennung einzelner Gruppen und ihrer lebensweltlichen Praktiken gerichtete Politik in gleichsam exemplarischer Weise radikal zugespitzt und in grellster Weise kenntlich gemacht. Russland spricht der Ukraine als Staat und den Ukrainern als Nation das Existenzrecht ab, indem es die Anerkennung der ukrainischen Gesellschaft als historisches Subjekt verweigert. Genau deshalb sind die Bilder aus Butscha so verstörend, die uns nach dem 3. April 2022 erreichten. Die am 21. Februar 2022 vorgetragene Geschichtsstunde des Wladimir Putin und die nun sichtbaren Morde an ukrainischen Zivilist:innen in Vororten von Kijiw, die von der ukrainischen Armee zurückerobert wurden, verbindet ein ideologischer Kern. Der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte lässt mit Panzern und Raketen nicht nur den ukrainischen Staat angreifen, sondern auch die Ukraine als Gesellschaft, die dafür bestraft werden soll, dass sie selbst über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden will. Die russischen Soldaten scheinen die Botschaft verinnerlicht zu haben, wenn sie während des Abzugs wahllos ukrainische Zivilist:innen töten.
Rassismus an der Grenze
Mangelnde Anerkennung erfahren zur selben Zeit auch die Menschen, die an der belarusisch-polnischen Grenze weiterhin rechtlos mit Gewalt zurückgewiesen werden. In einer eigens geschaffenen Zone im Nordosten der Polnischen Republik verhindert die Regierung, dass Hilfsorganisationen Menschen in Not helfen. Dort ist der Zugang zu Informationen auch innerhalb der Europäischen Union eingeschränkt, weil es sich um Menschen aus dem Nahen Osten handelt. Der Kontrast zwischen der engagierten Aufnahme von über zwei Millionen Ukrainer:innen und ihren Angehörigen und die aktive Nichtanerkennung von wenigen Hundert Opfern des Menschenhändlers Alexander Lukaschenka durch denselben polnischen Staat ist der deutlichste Beleg dafür, dass der Kulturkampf in Polen UND in der Europäischen Union auch im Schatten des Krieges fortgesetzt wird.
Aus dem Autokraten, Flugzeugentführer und Menschenhändler Lukaschenka wurde ein Komplize im russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Er löste kürzlich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit das Lager im Industriegebäude am Grenzübergang Bruzgi auf. Die Lage der an der polnisch-belarusischen Grenze verbliebenen Menschen änderte sich indes kaum. Die wenigen Hundert Migrant:innen werden von uniformierten Vertretern des belarusischen Staats mit Schlägen über die Grenze in die EU getrieben. Es ist anzunehmen, dass dieses Vorgehen auch mit Moskau abgestimmt ist. Auf dem Territorium der Europäischen Union angekommen, werden die Betroffenen entweder mit illegalen Pushbacks gewaltsam zurückgeschoben oder in von der Öffentlichkeit abgeschotteten Lagern eingesperrt, in denen sie auf die wahrscheinliche Ablehnung ihrer Asylanträge warten.
Migrant:innen an der polnisch-belarusischen Grenze; Foto: Marianna Podlaska
Kürzlich wurde auf dem muslimischen Friedhof der tatarischen Gemeinde von Bohoniki der Leichnam des 26-jährigen jemenitischen Kriegsflüchtlings Ahmed Al Shawafi beigesetzt, der 2022 in der Europäischen Union starb, weil er in Jemen zur Welt kam und nicht in der Ukraine. Das Ausmaß des Dramas an der polnisch-belarusischen Grenze ist ungleich geringer als die anfangs Kilometer langen Schlangen von Frauen und Kindern an den ukrainischen Grenzübergängen. Aber es hält der gesamten Europäischen Union einen Spiegel vor: Niemand in Deutschland widersprach Horst Seehofer lautstark, als er 2021 im Wahlkampfmodus Polen für den Schutz Europas dankte. Auf diese Weise hatte Putin mit den Händen seines belarusischen Statthalters Lukaschenka schon vor dem 24. Februar 2022 Europa verändert. Der anhaltende Zynismus einer rassistischen Flüchtlingspolitik schließt einen Kreis: ab 2015 flohen aus Syrien Millionen Menschen – viele von ihnen, weil ihre Wohnungen in Homs und Aleppo von russischen Bomben zerstört wurden.
Es ist richtig und wichtig, dass im Moment, in dem Russland den Bombenkrieg unmittelbar an die Außengrenzen der Europäischen Union trägt, alle Mitgliedsstaaten zusammenstehen. Diese Geschlossenheit sollte über die bisherigen Sanktionen hinaus auch ein sofortiges Embargo auf russisches Gas und Öl umfassen. Es sind noch immer wichtige Staatsbanken in Russland und Belarus mit dem Swift-System verbunden. Polen gehört zu den Staaten, die bereits nach der Annexion der Krim reagiert hatten und ein Flüssiggasterminal an der Ostsee bauten, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Wir können also von Polen lernen: im Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine und in einer klaren Einschätzung der Bedrohung durch das Russland von Wladimir Putin. Das entbindet uns aber nicht von der Verpflichtung, auch innerhalb der Europäischen Union auf der Einhaltung von Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung zu beharren. Es bleibt die Frage, wie wir die daraus resultierenden Konflikte in Zukunft so austragen, dass sie nicht allein als hinter Barrikaden geführter Kulturkampf geführt werden. Als politische Übung für ihre Beantwortung bleibt im Angesicht der größten Fluchtwelle in der europäischen Nachkriegsgeschichte die Herausforderung eine gemeinsame europäische Migrationspolitik zu schaffen, die auch das Unrecht an der polnisch-belarusischen Grenze beendet.