Folgt man den Empörungsrufen und dem Warngeschrei, ist die Verbreitung des Opfers immens. Die NZZ legte kürzlich nahe, dass sich mittlerweile „alle“ als Opfer fühlten; sie sprach sogar von einem „neuen Opferautoritarismus“, der sich ausgebreitet habe. Es ist ein unangenehmes, ein hässliches Wort, das sich der NZZ-Feuilleton-Chef René Scheu da ausgedacht hat, um die Vorstellung zu nähren, diese (angeblich) selbst ernannten Opfer übten eine geradezu autoritäre Form von Herrschaft aus und setzten rücksichtslos und egoistisch ihre eigenen Bedürfnisse durch. Fast kommen einem da schon wieder Marx und Engels in den Sinn: „Der Kommunismus“, nein, halt: das Opfer „wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt“.
Scheus Artikel erschien vor fast zwei Monaten. Eine deutliche Kritik an seinem Gebaren, das Minderheiten und Menschen mit anderen Lebensentwürfen diskreditiert, gab es zwar in den social media, doch letztlich blieb es bei wenigen Stimmen – leider: Denn immerhin holte Scheu zu einem beißenden Rundumschlag aus, indem er eine Karikatur der heute „Diskriminierten“ zeichnete, deren Anliegen und Ansprüche er damit gleich in einem Aufwasch entwerte. Erinnern wir uns kurz: Scheu nannte
die Homosexuellen, die Bisexuellen, die Asexuellen, die Transsexuellen – und auch die Heterosexuellen. Die Ausländer – und die Inländer. Die Muslime, die Christen, die Agnostiker – und die Atheisten. Die Alten und die Jungen. Die arbeitenden Mütter, die arbeitenden Hausfrauen, die arbeitenden Väter, die Alleinstehenden, die Verheirateten – und die Familien. Die Armen, der Mittelstand – und die oberen ein Prozent. Die Vegetarier, die Veganer, die Frutarier, die Omnivoren, die Velofahrer, die Autofahrer, die ÖV-Benutzer – und die Fussgänger.
Man fragt sich, warum Scheu nicht auch noch diejenigen in seine Reihung aufnahm, die morgens um sieben Uhr den Wecker stellen müssen.
Scheu will nicht witzig sein. Er will nicht einmal provozieren. Seine ganze Argumentation ist darauf ausgerichtet, ernsthaft zu ‚belegen’, dass Bürger sich heute „dauerdiskriminiert“ fühlen, weil sie „ebenso selbstverliebt wie wehleidig“ seien und sich benähmen wie „Egozentriker“. Für diese Behauptung ruft Scheu „zeitgenössische Psychoanalytiker und Soziologen“ als Zeugen auf, die das heutige „empfindliche Ich“ entsprechend beschrieben hätten. Sie bleiben namenlos. Allerdings fallen rasch aufeinander andere Namen: Heinz Kohut, Christopher Lasch, Alexis de Tocqueville. Das klingt gelehrt. Doch es ist – mit Verlaub – gelehrtes Geschwätz, Imponiergehabe. Es ist ein Wedeln mit großen Namen – ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass der Psychoanalytiker Kohut (dem es ganz zentral um Mutter-Kind-Beziehungen ging) und der US-amerikanische Historiker und Kulturkritiker Lasch in den 1970er Jahren gar nicht das gleiche Konzept von „Narzissmus“ hatten und beide ohnehin völlig unterschiedliche Anliegen verfolgten. Von Tocqueville ganz zu schweigen, den während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die politischen Zustände Frankreichs schreckten.
Name-dropping ist eine Machtechnik und verrät eine Pose, über die man sich ärgern kann. Beängstigend ist allerdings, dass und wie Scheu seine Attacken gegen die angeblich überall lungernden und lauernden „Egozentriker“ mit einem Sprechen über „Opfer“ verknüpft. Über diesen „Egozentriker“ – und man mache sich noch einmal klar: Gemeint sind alle, die sich gegen Diskriminierungen verwehren – weiß Scheu nämlich zu berichten: „Um zu seinem Recht zu kommen, reklamiert er für sich den Opferstatus.“ Menschen, die sich gegen Diskriminierung wehren und Rechte geltend machen, erschleichen sich demnach etwas. Sie geben vor, ein Opfer zu sein, obwohl sie es – laut Scheu – gar nicht sind. Sie kleiden sich in das Gewand des Opfers, nehmen gewissermaßen dessen Namen an, um aufzufallen und von seinem Prestige zu profitieren: Denn Opfer genießen „Aufmerksamkeit“, ja „Autorität“, lernt man bei Scheu, und sie haben Anspruch auf Wiedergutmachung – selbst derjenige, der sich nur „glaubhaft als Opfer darzustellen vermag“, wie er insinuiert. Es klingt geradezu als hätten Opfer einen Hauptgewinn im Leben gezogen.
Schenkte man René Scheu Glauben, haben wir es heute mit einer Vielzahl an Heuchlern, Missgünstigen und vor allem zu empfindlichen Menschen zu tun, die einfach nur behaupten, ein Opfer zu sein; die sogar einen „Wettbewerb der Meistdiskriminierten“ austragen. Es ist eine boshafte Behauptung, sie ist sogar hetzerisch. Sie ist hetzerisch, weil Scheu an keiner einzigen Stelle ein konkretes Beispiel nennt. „… Bisexuelle, … arbeitende Mütter, arbeitende Hausfrauen, … Veganer …“ – all das sind Pauschalisierungen, Behauptungen, die einfach nur im Raum stehen. Dadurch aber werden nicht nur die verschiedenen Gruppierungen an sich diffamiert, selbst wenn sie das Wort Opfer für sich gar nicht verwenden. Scheu beteiligt sich vielmehr kräftig daran, Misstrauen gegenüber allen zu säen, die sich tatsächlich als Opfer bezeichnen oder als ein solches bezeichnet werden. Denn wer ein „echtes“ Opfer ist und wer nur ein „gefühltes“, lasse sich heute ja gar nicht mehr voneinander unterscheiden, wie er einstreut. Welchem Opfer aber ist dann noch zu trauen?
Was Scheu betreibt, ist das Anstacheln einer Stimmung, die bereits in vollem Gange ist. Dass die Abneigung gegen die Verwendung des Opferbegriffs zunimmt, kann man seit Jahren beobachten: „Aua! Schon wieder ein Opfer“ lautete bereits vor fünf Jahren eine Titelgeschichte im „Magazin“. Seither hat es diverse missliebige Äußerungen über die „Selbstviktimisierung“ gegeben; darunter fraglos auch differenzierte Überlegungen. Doch insgesamt zeigt sich eine deutliche Tendenz: Wer sich als Opfer bezeichnet, genießt alles andere als die „ungeteilte Aufmerksamkeit“ und „Autorität“, die dem Opfer gegenwärtig von Kritikern zugeschrieben wird.
Scheu Artikel ist deshalb nicht originell; er ist ein Symptom für eine Diskursverschiebung, der man gegenwärtig zuschauen kann – und die man aufmerksam beobachten sollte. Denn die Neue Rechte treibt ein zynisches Spiel in diesem Stimmungsfeld, das ihnen eine paradoxe Haltung erlaubt: Einerseits am Begriff des Opfers festzuhalten, wenn es politisch opportun ist (so etwa mit dem SVP-Slogan: „Opfer besser schützen – Kriminelle Ausländer endlich ausschaffen“); und andererseits gegen Opfer zu polemisieren, um Erwartungen an den Sozial- und Rechtsstaat und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu desavouieren. Scheu tut das gezielt. Und er tut es mit großer Respektlosigkeit vor den Menschen, die Diskriminierungen zur Sprache bringen, weil diese demütigend sind, erniedrigend, kränkend.
Diese Verachtung ist das eigentliche Problem, dem es entgegenzutreten gilt, und damit auch die Opferaversion, die sie schüren will. Denn eine Zukunft, die nur einen negativ konnotierten Opferbegriff kennt, ist nicht wünschenswert. Er würde Menschen, die leiden, nicht nur eine Sprache nehmen; es würden viele Leiden gar nicht mehr zur Sprache gebracht: Aus Angst vor dem Vorwurf, sich als Opfer zu gebärden, zu empfindsam, verweichlicht, vielleicht sogar, ein Simulant zu sein. Das aber ist 19. Jahrhundert; das ist die Zeit Tocquevilles. Man muss schon ein „aristokratischer Liberaler“ sein, wie dieser, dem der Abschied aus der Ständegesellschaft schwerfiel, um sich dahin zurückzusehnen.