Ist der Alpenmythos wirklich nur noch eine ferne Erinnerung? Oder lebt er als neuer politischer Mythos im grünen Gewand weiter fort, nachdem er seine militärische und nationalistische Bedeutung eingebüsst hat?

  • Romed Aschwanden

    Romed Aschwanden ist Doktorand an der Basel Graduate School of History. Er hat Geschichte und Religionswissenschaft in Basel und Bologna studiert und zum Gotthardpass und zum Kanton Uri publiziert.

Schwei­zeral­pen­land, Festung im Herzen Europas. Die Schweizer, die den Aktiv­dienst – also die Mobi­li­sie­rung der Armee zwischen 1939 und 1945 – erlebt hatten, redu­zierten ihr Vater­land auf die ausge­höhlten, bis an die Gipfel bewaff­neten Alpen und brüs­teten sich mit der erfolg­rei­chen mili­tä­ri­schen Vertei­di­gung der Schweiz. Dieser Réduit-Mythos ist inzwi­schen so weit abge­tragen, dass sogar der Ex-Verteidigungsminister Ueli Maurer 2013 die Bunker nicht mehr brau­chen wollte.

Schweizer Gebirgssoldat, um 1940; Quelle: swissinfo.ch

Schweizer Gebirgs­soldat, um 1940; Quelle: swissinfo.ch

Aber ist mit dem Ableben des alpinen Vertei­di­gungs­dis­po­si­tivs auch sein Mythos ausran­giert? Philipp Sarasin hat auf dieser Platt­form die These vertreten, dass der Schwei­ze­ri­sche Alpen-Mythos im 20. Jahr­hun­dert eins wurde mit dem Mythos der mili­tä­ri­schen Vertei­di­gung der Schweiz und dadurch zeit­gleich mit diesem, spätes­tens dann aber an der Expo 1964 verschwand. Das Ende des Réduit bedeu­tete aber keines­wegs das Ende des Mythos. Zwar war mit der mili­tä­ri­schen und geis­tigen Okku­pa­tion der Berg­flanken Schluss, doch der Alpen-Mythos tauchte in den 1990er-Jahren, nun in frisches Grün gekleidet, aus dem Dunst der Alpen­täler wieder auf.

Postkarte zur Alpeninitiative; Quelle:

Post­karte zur Alpen­in­itia­tive; Quelle: alpeninitiative.ch

„Réduit in Grün“ nannte der Jour­na­list Urs Paul Engeler den Gott­hard in einem Artikel zur Umset­zung der Alpen-Initiative in der Welt­woche vom 29. Juli 2000. Diese Initia­tive, die den Ausbau der Tran­sit­achsen im Berg­ge­biet strikt verbieten und den Schwer­ver­kehr auf die Schienen verla­gern wollte, berei­tete den Kommen­ta­to­rInnen Kopf­zer­bre­chen. Der Histo­riker Hans-Ulrich Jost diagnos­ti­zierte „[m]ythische Vorstel­lungen, die irgendwo in der vater­län­di­schen Geschichte und der geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung veran­kert“ seien, als Antriebs­kräfte der Initia­tive. „Der St. Gott­hard dient einmal mehr als Sinn­bild einer natio­nalen, innen­ge­lei­teten Exis­tenz“, so Jost weiter. Im Bundesrat und bei zahl­rei­chen Wirt­schafts­ver­tre­tern war der Ärger gross, als der Schwei­ze­ri­sche Souverän im Februar 1994 die „Initia­tive zum Schutz des Alpen­ge­biets vor dem Tran­sit­ver­kehr“ ange­nommen hatte. Man vermu­tete auch hier, die Initi­an­tInnen hingen den Über­resten des Réduit-Mythos nach und wollten ‚ihre‘ Alpen gegen die Last­wagen der Euro­päi­schen Union und gegen die Euro­päi­sche Inte­gra­tion über­haupt verteidigen.

Hier­ar­chie der Mythen

‚Mythi­sche Vorstel­lungen‘ spielten bei der Initia­tive zwei­fellos mit – aber ob dabei letzte Verkrus­tungen der geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung die Ober­hand hatte, ist zu bezwei­feln. Hier stellt sich die Frage, wie der Réduit-Mythos, noch dazu in Form einer „grün-roten“ Initia­tive, in den 1990er-Jahren wieder­auf­er­stehen konnte. Laut dem Reli­gi­ons­wis­sen­schaftler, Philo­so­phen und Mythen­for­scher Mircea Eliade (1907-1986) dienen Mythen der „Tran­szen­die­rung des Menschen“: Durch mythi­sche Erzäh­lungen entreisse sich das Indi­vi­duum der Zeit und schaffe so eine „mythi­sche Konti­nuität“ der Geschichte. Die Funk­tion von Mythen, so Eliade, ginge folg­lich darüber hinaus, einfach den Fort­gang der Geschichte erklärbar und erzählbar zu machen. Mythen seien auch hand­lungs­struk­tu­rie­rend für die Gegen­wart. Weiter geht Eliade davon aus, dass verschie­dene Mythen unter­ein­ander in einem Zusam­men­hang stünden und hier­ar­chisch struk­tu­riert seien.

Réduit- und Alpen-Mythos wären also nicht gleich­zu­setzen, sondern in ihrer Bezie­hung zu analy­sieren, um die Struktur der Alpen-‚Mythologie‘ beschreibbar zu machen. Der Réduit-Mythos wäre dem älteren und umfas­sen­deren Alpen-Mythos unter­ge­ordnet, aller­dings ist er im 20. Jahr­hun­dert lange Zeit domi­nant. Der These vom Unter­gang des Réduit-Mythos im Sinne Sara­sins ist demnach zuzu­stimmen, nicht aber der Annahme, dass gleich­zeitig auch der Alpen-Mythos, respek­tive die Alpen-Mythologie verschwanden. Engeler und Jost witterten zur Jahr­hun­dert­wende noch ihren alten Feind, das Réduit, und setzten dabei den Alpen-Mythos mit dem Réduit-Mythos gleich. Sie hatten aller­dings nicht reali­siert, dass ‚die Alpen‘ inzwi­schen für anderes standen als für Abschot­tung. Doch wofür?

Die Bergler – ein alter­na­tives Gesellschaftsmodell?

Als in der Nach­kriegs­zeit der Réduit-Teil der Alpen-Mythologie im Verschwinden begriffen war, begann sich die Mytho­logie zu verän­dern. Grund­le­gend dafür war einer­seits der Struk­tur­wandel in den Alpen, ande­rer­seits der Wandel des Alpen­bildes. Auto und Infra­struk­tur­ausbau in den Berg­ge­bieten rückten die Alpen näher an die Zentren und machten sie zum begehrten Frei­zeit­park der Mittel­klasse. Die Alpen wurden zum „Dach­garten Europas“, dem euro­päi­schen Naherho­lungs­ge­biet par excel­lence, Berg­steigen und Wandern wurden zum Brei­ten­sport. Die erha­benen Gipfel wichen dem Natur­spek­takel, das Réduit verwan­delte sich zum Hotel oder Museum.

Herbert Marcuse, Max Frisch und Theo Pinkus in Salecina, 1976; Quelle: salecina.ch

Herbert Marcuse, Max Frisch und Theo Pinkus in Sale­cina, 1976; Quelle: salecina.ch

Es liesse sich von einer Entmy­thi­fi­zie­rung der Alpen spre­chen, wäre da nicht noch ein weiterer Entwick­lungs­strang: Die bessere Mobi­lität in den Alpen nutzte auch Vertre­te­rInnen der 68er-Bewegung. Sie fanden in den entsie­delten und abge­le­genen Alpen­tä­lern eine ideale Umge­bung. Auto­ri­täts­fern und inmitten der Natur erprobten sie neue Formen des Zusam­men­le­bens. In entle­genen Weilern entstanden Kommunen (wie in Spruga im Onser­no­netal) sowie alter­na­tive Kultur­zen­tren (beispiels­weise die Stif­tung Sale­cina in Maloja). Im Alpen­raum fanden die 68er Auto­nomie, Wohn- und Arbeits­raum sowie eine vermeint­lich ursprüng­liche Gesell­schafts­form: „die Bergler“.

Filmstill aus Fredi Murer: Wir Bergler in den Bergen...; Quelle: filmpodium.ch

Film­still aus Fredi Murer: Wir Bergler in den Bergen…; Quelle: filmpodium.ch

1974 erschien Fredi M. Murers Doku­men­tar­film „Wir Bergler in den Bergen sind eigent­lich nicht schuld, daß wir da sind“. Murer, der damals in London lebte und eine Doku­men­ta­tion über eine Inuit-Siedlung in Alaska vorbe­rei­tete, kehrte Anfang der 1970er Jahre aufgrund des Todes seines Vaters ins Berg­dorf Bristen im Kanton Uri zurück. Er fand dort eine Gesell­schaft vor, die ihn einen Vergleich mit den Inuit ziehen liess – archa­isch, natur­ver­bunden, unver­dorben. Kurz entschlossen drehte er einen Film über die Urner Bergbauern.

Murers Insze­nie­rung der Bergler erin­nert stark an Berichte der frühen Alpen­for­scher und Aufklärer, die bereits zuvor die ‚edlen Wilden‘ im Alpen­raum ausge­macht hatten. Ob bewusst oder unbe­wusst, Murer griff, stell­ver­tre­tend für die Neue Linke, eine alte Facette der Alpen-Mythologie auf: Die Vorstel­lung, der Alpen­raum konser­viere eine ursprüng­liche kultu­rell noch nicht dege­ne­rierte Gesell­schaft, die nur der unzähm­baren Natur und Gott Rechen­schaft schuldete.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Die Neue Linke schuf den Ideal­typen des Berg­lers als unkon­ven­tio­nelle Perso­ni­fi­ka­tion der Schweizer Werte: Beschei­den­heit, Fleiss – und ‚Frei­heit‘. Unzäh­lige Alpen-Dokumentarfilme nach Murer bezeugen die Wirk­mäch­tig­keit dieser Figur bis in die Gegen­wart und machen ihn zum grund­le­genden Bestand­teil der Alpen-Mythologie. Diese plura­li­sierte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts stark, indem sie die unter­schied­lichsten Elemente aufnahm.

Die inte­gra­tive Funk­tion der Alpen-Mythen

Neben der 68er-Bewegung leis­teten auch die Wissen­schaften ihren Beitrag: Vertre­te­rInnen der Human­geo­gra­phie und Biologie forderten ab den 1980er-Jahren vehe­ment den Erhalt der ‚Kultur­land­schaft Alpen‘. Nicht nur das kultu­relle, sondern auch das ökolo­gi­sche Erbe gelte es zu bewahren. Waren die Alpen-Mythen lange Zeit national-konservativ besetzt gewesen, boten sie nun auch Inte­gra­ti­ons­fläche für linke und grüne Ideo­lo­gien, für Tourismus und Kommerzialisierung.

Natür­lich befür­wor­tete das Stimm­volk die Alpen-Initiative auch aus Sorge um die Umwelt. Gross war aber ebenso die Iden­ti­fi­ka­tion mit den ‚über­fah­renen‘ Berg­le­rInnen – oder mit deren Ideal­typus. Bundesrat und Wirt­schafts­ver­treter argu­men­tierten mit mangelnder Euro­pa­fä­hig­keit, Wirt­schafts­feind­lich­keit und Kurz­sich­tig­keit gegen die Initia­tive, die Mehr­heit des Stimm­volks argu­men­tierte mit dem Mythos dafür. Das heisst, mit dem ganzen Spek­trum der Alpen-Mythen, von Anti-Europäischem über Umwelt- und Heimat­schutz bis hin zu Globalisierungs- und Wachs­tums­kritik. Hier zeigte sich exem­pla­risch die inte­gra­tive Kraft von Mythen.

Es lässt sich nicht verneinen, dass die von Linken und Grünen lancierte Initia­tive auch etwas vom über­kom­menen Réduit-Mythos nach­schleppte. Die ökolo­gisch moti­vierte Verkehrs­be­schrän­kung stand quer zur geplanten Verwirk­li­chung des Binnen­marktes der Euro­päi­schen Union. Auch brachten die Abstimmungs- und Umset­zungs­dis­kus­sionen die ewige Dualität des Natur­schutzes zwischen alternativ-progressiven und konser­va­tiven Idealen zutage. Die Alpen blieben für konser­va­tive Kreise das Boll­werk gegen eine unge­wollte Inte­gra­tion, gegen den Feind von Aussen. Für Linke und Grüne wurden sie zum Schutz­wall gegen das unge­bremste Wirt­schafts­wachstum und irra­tio­nale Trans­port­wege. Und für beide Kreise glei­cher­massen waren sie der letzte Vertei­di­gungs­kern gegen die Fremd­be­stim­mung, sei es durch ‚Brüssel‘ oder durch die ‚Transport- und Indus­trie­lobby‘. Auch wenn der Ursprungs­ge­danke der Initia­tive kein anti-europäischer gewesen war, liess sich die Trenn­schärfe im Abstim­mungs­kampf nicht mehr aufrechterhalten.

Abstimmungsplakat 2016; Quelle: seilers-werbeblog.ch

Abstim­mungs­plakat 2016; Quelle: seilers-werbeblog.ch

Inso­fern hatten Engeler und Jost nicht Unrecht, jedoch über­sahen sie die progres­sive Ebene und die zugleich statt­fin­dende Soli­da­ri­sie­rung des Projekts mit Europa: Auch die Bevöl­ke­rung der übrigen Staaten mit Alpen­an­teil litt unter dem Tran­sit­pro­blem, gegen das sich die Alpen-Initiative wehrte. Überall lobby­ierten Bürger­initia­tiven gegen den Ausbau der Tran­sit­stre­cken und für eine Verkehrs­ver­la­ge­rung von der Strasse auf die Schiene. Um inter­na­tio­nale Soli­da­rität zu bekunden, entfachten ab 1991 Akti­vis­tInnen aus allen Alpen­län­dern jeweils im Sommer „Feuer in den Alpen“ und signa­li­sierten: „Es reicht!“ Der Alpen­raum wurde zuneh­mend als zusam­men­hän­gend verstanden, nicht mehr nur als Puzzle natio­naler Einzelstücke.

Durch die Euro­päi­sche Inte­gra­tion konnte sich die Alpen-Mythologie zu ihrer trans­na­tio­nalen Grösse entfalten. Nicht nur den Anti-Transit- und Umwelt­be­we­gungen gab sie Antrieb und Legi­ti­mität, sondern auch national-konservativen und euro­pa­feind­li­chen Grup­pie­rungen. Dass der Mythos dabei nicht einer objek­ti­vie­renden Betrach­tung der Alpen wich, scheint in der Natur der Sache zu liegen. Um ein letztes Mal Mircea Eliade zu bemühen: „Bestimmte Aspekte und Funk­tionen des mythi­schen Denkens sind für den Menschen konstitutiv.“