Im Jahr 2004 hat der amerikanische Journalist Ralph Keyes in The Post-Truth Era seinen Landsleuten in einer im Rückblick geradezu altmodisch moralischen Weise vorgerechnet, wie oft sie im Alltag Euphemismen gebrauchen, unehrlich sind oder schlicht lügen würden. Keyes zielte zwar hauptsächlich auf die alltäglichen kleinen Lügen, aber er hatte auch schon Medien und Politiker als role models fürs Lügen im Visier. Heute scheint sich durch alle politischen Diskurse von links bis rechts der Zweifel gefressen zu haben, ob man in der politischen Öffentlichkeit überhaupt noch auf so etwas wie die ‚Wahrheit‘ oder ‚Fakten‘ bauen kann. Das zeigt neu ein Buch von 2016: In Lies Incorporated. The World of Post-Truth Politics von Ari Rabin-Havt erscheint die Lüge und die faktenfreie Rede nicht mehr primär als moralisches Problem der Durchschnittsamerikaner_innen, sondern als das bevorzugte tool im Kampf um Deutungshoheit und Macht.
Postmoderne Beliebigkeit?

U.S. Aussenminister Colin Powell behauptet am 5. Februar 2003 im UN-Sicherheitsrat, der Iraq produziere in mobilen Produktionsanlagen die Biowaffe Anthrax – es war eine glatte Lüge; Quelle: nbcnews.com
Desinformation und Propaganda sind sicher nichts Neues (im Kalten Krieg waren sie an der Tagesordnung). Neu ist aber – Donald Trump und andere Politiker führten es täglich vor –, dass es weniger darum geht, falsche Behauptungen wie Fakten aussehen zu lassen, wofür die Geheimdienste im Kalten Krieg oft einen ziemlichen Aufwand betrieben haben. Vielmehr bemühet man sich oft gar nicht mehr um einen ernsthaften, ‚wahrhaftigen‘ Bezug auf Fakten. Weltwoche-Chef Roger Köppel liess kürzlich in diesem Sinne trockenen Auges verlauten, dass „bei Trump selbst die Lügen ehrlicher klingen als die hochgestochenen Pseudowahrheiten seiner Konkurrentin Clinton“.
Das war nicht etwa kritisch gemeint: Lieber „ehrlich“ lügen als „hochgestochen“ die Wahrheit sagen (was um Himmels Willen soll eine „Pseudowahrheit“ sein?). Köppel spricht ohne Scheu aus, was er im politisch-publizistischen Geschäft von der Wahrheit hält. Und er ist kein Einzelfall. Es erscheint heute zunehmend akzeptabel, den Eindruck zu erwecken, alle Fakten könnten in beliebiger Weise „interpretiert“ werden; rechts von der politischen Mitte wird daraus ein Programm: Gegenüber Historikern wird eingewandt, es käme nicht auf Belege und Quellen, sondern auf „saftige Geschichten“ an. Völlig normale wissenschaftliche Diskussionen etwa von Klimatologen gelten als Beleg dafür, dass diese auch nicht mehr als blosse „Meinungen“ zu bieten hätten. Ein AfD-Politiker schliesslich konterte den Einwand, es gäbe viel weniger Flüchtlinge in Deutschland, als seine Partei behaupte, mit der heute gängigen, dennoch sehr erstaunlichen Behauptung: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht darum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also das, was man fühlt, ist auch Realität.“
Was ist nur passiert? Kann man im Ernst der amtlichen Statistik widersprechen, weil man etwas Anderes „fühlt“? Sind wissenschaftliche Erkenntnisse blosse Ansichtssache? Kann man gar „ehrlich lügen“…? Man reibt sich die Augen: Wie ist es möglich geworden, so zu denken? Viele kritische, zu Recht besorgte Beobachter behaupten, dies sei das Resultat der Postmoderne (cum Google), d.h. die Folge eines angeblich verbreiteten anything goes, dem zynischen Spiel mit blossen Worten, der frivolen Behauptung, ‚alles‘ sei nur eine beliebige „Konstruktion“ und überhaupt Wissen von Glauben nicht zu unterscheiden… Das wäre zweifellos verwirrend. Sind Fakten tatsächlich nicht mehr, was sie einmal waren? Sind Fakten nun Tatsachen oder Konstruktionen, gar blosse Erfindungen?
Fragen Sie Kant!
Man kommt bei solchen Fragen schnell mit den ganz grossen Problemen der abendländischen Philosophiegeschichte in Berührung: Was sind Wahrheit, Wirklichkeit, Realität, Vernunft, Erkenntnis? Die Moderne – in diesem Fall seit Kant – hat auf diese alten Fragen in vielen Varianten die Antwort gegeben, dass wir von der Wirklichkeit das erkennen, was unsere Vernunft „in sie hineingelegt hat“, wie Kant sagte. Kant sah in diesem Beitrag der menschlichen Vernunft nichts weniger als die Garantie für wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: Nur weil die menschliche Vernunft die Welt durch ihre „Kategorien“ (angefangen bei Raum und Zeit) stabil und verlässlich strukturiert, sind gesicherte Aussagen über die Wirklichkeit möglich. Mit anderen Worten: die unveränderlichen Kategorien unserer Vernunft schaffen aus der „chaotischen Mannigfaltigkeit“ (Kant) der äusseren Welt erkennbare Tatsachen. Das „Ding an sich“ (Kant) hingegen bleibt uns auf ewig verborgen, ist unserer Wahrnehmung unerreichbar.
Die Moderne hat diesen Gedanken bis in unsere postmoderne Gegenwart hinein variiert. „Modern“ heisst seither eine Gesellschaft bzw. eine Epoche, in der der Gedanke vorherrscht, dass es keine absoluten – etwa religiösen – Wahrheiten geben kann, sondern nur relative, d.h. an unser Erkenntnisvermögen zurückgebundene Wahrheiten. Kant versuchte, die Gewissheit von (wissenschaftlicher) Erkenntnis dadurch zu retten, dass er die Strukturen der menschlichen Vernunft als absolut gewiss und unveränderlich setzte. Ohne die gesamte Philosophiegeschichte seit Kant aufrollen zu wollen, lässt sich sagen: Diese Gewissheit löste sich schrittweise auf. Beispielsweise wurden bei Hegel und Marx, aber auch im sogenannten Historismus, Wahrheiten historisch relativiert, indem sie als zeitgebunden, nur für eine bestimmte Epoche gültig betrachtet wurden.
Ebenso einflussreich war die sich seit dem Ende des 19. Jh. formierende Annahme, dass es keine Wahrheit ausserhalb der Sprache geben könne. Weil wir ohne Sprache nicht denken und Aussagen über die Wirklichkeit machen können, bildet, so die neue Vermutung, die Sprache gleichsam den unübersteigbaren Rahmen, ja die Schranke unseres Wissens von der Welt. Denn die Sprache verändert sich laufend, sie ‚passt‘ nie ganz, sondern stellt immer nur den nie vollständig gelingenden Versuch dar, die Dinge in Worte zu fassen. Nietzsche und Wittgenstein sind die wichtigsten Gewährsleute für dieses Konzept, das landläufig erst der Postmoderne, d.h. dem späten 20. Jahrhundert zugerechnet wird. Richtig ist jedoch: Die philosophische Postmoderne hat nur die erkenntnistheoretischen Konzepte der Moderne, wie sie seit Kant angelegt und von Nietzsche und Wittgenstein weiterentwickelt wurden, konsequent zu Ende gedacht.
Fakten sind nicht beliebig
Wahrheiten und damit das, was wir „Fakten“ nennen, sind also an das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden, variieren historisch, und sie bewegen sich nicht ausserhalb unserer Sprache. Aus der Philosophie der Naturwissenschaften heraus entwickelte sich zusätzlich die Einsicht, dass „wissenschaftliche Tatsachen“ (Ludwik Fleck) einem „Denkkollektiv“ entstammen und unumgänglich von einem bestimmten „Denkstil“ geprägt sind, sowie schliesslich, dass sie auch von den Apparaten und Instrumenten abhängen, mit denen Natur beobachtet, gemessen und analysiert wird.
Dies alles bedeutet, zusammengenommen, dass Fakten nicht ausserhalb von Theorien, Konzepten, Modellen und Experimentalsystemen gedacht werden können, weil es ohne diese nicht möglich ist, die „chaotische Mannigfaltigkeit“ der Welt irgendwie zu deuten bzw. zu verstehen. Weil Modelle und Theorien aber veralten, kann Wissen schal und bislang für wahr Gehaltenes falsch werden. Ja, mehr noch: Aussagen über Fakten sind grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, in irrigen Vorannahmen und fixen Überzeugungen, in Denkroutinen und Ideologien gefangen zu sein. Bedeutet das nun, dass Fakten sich nicht von Überzeugungen, Wahrheiten nicht von Lügen und Wissenschaft sich nicht von Glauben unterscheiden lassen? Und wenn nein – warum nicht?
Tatsachen bzw. Fakten gelten in der heute dominanten Wissenschaftstheorie – und zwar in den Natur- ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften – aus den angeführten Gründen als „Konstruktionen“, das heisst als gemacht und von den Bedingungen ihrer Herstellung als wissenschaftliche Tatsachen geprägt. Das heisst, im Umkehrschluss, allerdings nicht, sie seien deshalb beliebig, blosse Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden. Kein Postmoderner hat das je behauptet. Die Absicherung für die – immer nur relative – Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis liegt heute aber nicht mehr, wie bei Kant, in der Vernunft, sondern in einem durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community. Argumente und Behauptungen über die Wirklichkeit müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein, sie müssen andere Diskussionsteilnehmer_innen überzeugen, und sie müssen an bisherige Diskussionen und Erklärungsmodelle anschliessen können.
Aussagen über die Welt müssen, mit einem Wort, ‚Sinn ergeben‘. Wenn sie das nicht tun, gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Sie erweisen sich nach allen Masstäben als falsch oder gelten als uninteressant (oder beides) – oder aber sie werden, früher oder später, zum Ausgangspunkt neuer Wahrheiten, neuer Erkenntnis, neuer Tatsachen. Fakten sind daher seit der Moderne und explizit in unserer Postmoderne „kontingent“, wie der Soziologe Niklas Luhmann sagte: Sie lassen sich nicht ‚letztlich‘ und ‚notwendiger Weise‘ als ‚absolut‘ wahr erweisen, und sie gehören in den Raum dessen, was der Fall ist bzw. sein kann (wovon wir bspw. UFOs ausschliessen).
Ein letzter Punkt: Soweit es nicht die Natur, sondern die soziale Welt betrifft, so ist seit der Postmoderne deutlicher denn je, dass unsere Welt ausschliesslich aus kontingenten Regeln und zeitgebundenen Institutionen, aus Kommunikation und Interpretation besteht – von der Verfassung eines Staates bis zum Fussballspiel. Und die Postmoderne hat deutlich gemacht, wie sehr wir diese unsere soziale Wirklichkeit nicht ausserhalb unserer Medien und unseres Sprechens erleben können. Doch dass heisst nicht, dass diese Wirklichkeit beliebig ist: Ein Rotlicht ist eine vollständig kontingente Regel, ein einfacher Code, den man interpretieren können muss. Wer ihn falsch interpretiert, riskiert den Tod.
Eine Frage der Redlichkeit
Trotz der (nicht erst) postmodernen Absage an eine als absolut verstandene ‚Objektivität‘ sind Fakten nach wie vor ‚robust‘: Sie sind durch viele Evidenzen bestätigt und erscheinen als die beste Auskunft, die wir gegenwärtig zu geben im Stande sind. Sich in ‚nicht-absoluter‘, eben kontingenter Weise auf Fakten zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, hat daher eine ethische Dimension: Es ist eine Frage der Redlichkeit, unseren Bezug auf Fakten immer mit einer Fussnote zu versehen, um offenzulegen, dank welcher Annahmen, Quellen und Modelle ein bestimmtes Faktum ‚möglich‘, ja ‚wahr‘ ist. Mit bestem Wissen und Gewissen, gleichsam.
Diese Redlichkeit ist ein doppelter Schutz. Sie schützt uns einerseits davor, „Positivist“ zu sein, das heisst glauben zu machen, Fakten seien – ganz unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit – ‚an sich‘ da und wahr und müssten bloss ‚ans Licht‘ gebracht werden. Wer eine solche Vorstellung von ‚Fakten‘ behauptet, tut mächtiger, als er menschenmöglich sein kann: ein Dogmatiker, ein Ideologe in Gestalt eines ‚Realisten‘. Gegen solche Versuchungen hat die postmoderne Philosophie nicht nur immer wieder die Konstruiertheit, sondern auch die damit immer mögliche Vielfalt von Aussagen über die Wirklichkeit angemahnt. Sie bedeutet aber, wie gesagt, nicht, dass man n’importe quoi sagen, dass man Beliebiges über die Wirklichkeit behaupten kann. Aussagen über die Welt müssen begründbar und für Andere nachvollziehbar sein, sonst sind es Glaubenssätze – oder Lügen. Im Garten steht kein rosaroter Elefant, auch wenn ich ihn „fühlen“ sollte.
Diese Redlichkeit schützt daher andrerseits auch gegen den Zynismus, der gegenwärtig am (breiten) rechten Rand des politischen Spektrums zu beobachten ist: Weil Wissenschaft, Experten und tendenziell komplizierte Erklärungen der Welt in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit merkwürdigerweise als „links“ oder „elitär“ gelten, wird in ziemlich dreister Weise die postmoderne Epistemologie dazu missbraucht, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit einzuebnen. Das hat mit der Postmoderne nichts zu tun, sondern enthüllt nur, wie wenig diese Leute von Wissenschaft, Argumentation, Überprüfbarkeit und Rationalität halten. Das ist an sich nichts Neues. Aber es scheint heute keine Geheimdienste mehr zu brauchen, um mit komplizierten Operationen der schwarzen Propaganda Lügen den Anschein der Wahrheit zu geben. Die Neue Rechte lacht einfach über jene, die an so etwas wie die Wahrheit noch glauben.