Wer sich heute in die Tradition der Aufklärung stellt, hat es nicht einfach: Unübersehbar findet gerade ein massiver Angriff auf ihre Grundwerte, insbesondere die Achtung vor Wahrheit und Menschenwürde statt. Im Kampf dagegen macht der Aufklärung zusätzlich ihr eigenes Erbe zu schaffen. Nicht zuletzt zeigt sich das am Begriff «Mythos». Mit schöner Regelmässigkeit hält sie ihn den reaktionären Geschichtslügen und den nationalistischen und patriarchalen Ideologien von Volk und Staat entgegen – als wären Mythen per se illegitim und jenseits aller Diskussion.
Darin zeigt sich aber ein Problem der Aufklärung selbst: Seit jeher hat sie ein schiefes Verhältnis zum Mythos. Und zwar nicht einmal so sehr, weil sie ihn im Übermass kritisiert. Das Gegenteil ist wahr: Gerade weil die Aufklärung kein wirklich reflektiertes Verhältnis zum Mythos hat, bleibt sie ihm gegenüber befangen und produziert ihrerseits die Kritik nur als Cliché: Vor sich sieht sie immer nur «mythisches Dunkel» und den Menschen im Bann traumhafter Gestalten; mit ihr hingegen kommt angeblich das «Licht», les lumières, wie man im 18. Jahrhundert sagte. Die Versprechen der Aufklärung waren keine geringen: An die Stelle der mythischen Geschichten soll das gesicherte Wissen über die Welt treten und an die Stelle der Überlieferung die freie Entscheidung im «rationalen» Diskurs. Durch Erkenntnis soll die Menschheit sich aus dem «Schlaf der Vernunft» befreien. Der Preis dafür sei, so Max Weber, die «Entzauberung der Welt». Als Lohn winke die klare Sicht auf die Verhältnisse.
Dass all das auch seinerseits ein Mythos ist, fiel allerdings schon den Romantikern im frühen 19. Jahrhundert auf und inspiriert die Aufklärungskritik seit Nietzsche. Seither scheut sich die Aufklärung gewissermassen vor sich selbst. Denn solange sie ihr Ziel als Überwindung der Mythen definiert, kann sie selbst mit gutem Gewissen keine haben. Ihre Selbstkritik mündet daher entweder in Selbstaufgabe, wie namentlich in der postmodernen Feier der Alterität, der «Identität» und der (jeweiligen) «Kultur». Oder sie verharrt in der generellen Zurückweisung des Mythos, damit aber auch in einem ungeklärten Verhältnis zu sich selbst; denn ohne Mythen kommt die Aufklärung in Wirklichkeit so wenig aus wie ihr Widerpart.
Mythos ist nicht «primitives» Denken
Das Problem liegt, jedenfalls was seine theoretische Seite angeht, in einem falschen Begriff vom Mythos. Der Mythos gilt der Aufklärung als «primitives» Denken, als ein Relikt der Natur im Menschen. Von den regressiven Mythen der Rechten sieht sie sich darin bestätigt. Aber damit perpetuiert sie einen falschen Gegensatz, und sie versagt sich dreierlei: die konsequente Umsetzung des Programms der Aufklärung, von Kant definiert als den «Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit», die effektive Kritik reaktionärer Mythologien und die bewusste, kritisch geklärte Nutzung mythischer Potenziale für sich selbst.
Ernsthafte Kritik würde demgegenüber bedeuten: Prüfen, was der Mythos ist, Benennen, was er nicht ist, und Anerkennen, was sein Recht ist. Teil einer reflektierten Aufklärung muss es entsprechend sein, den Mythos als Form der Vernunft zu akzeptieren, also nicht nur als finsteren Rest, den die Vernunft wegen ihrer Gefangenschaft im Fleisch nicht loswird, sondern als Teil und Möglichkeit ihrer selbst. Erst wenn man nicht mehr glaubt, die Identifikation von etwas als «Mythos» reiche schon aus, um es obsolet zu machen, kann man einzelne Mythen auch sinnvoll kritisieren. Wenn die Vernunft zu der Einsicht kommt, dass sie nur als endliche existiert, dann kann sie sich auch eingestehen, dass sie grundsätzlich der Mythen bedarf. Und diese sind ihr, wie sie dann erkennen kann, so wenig von der Natur wie von höheren Mächten (der Geschichte, der Tradition, der Herkunft, den Göttern) vorgegeben. Vielmehr sind sie ihr eigenes Produkt. Das Verhältnis zu den Mythen wird damit ein anderes sein als das der Reaktion. Denn wenn man weiss, dass die Mythen, und zwar alle, von Menschen geschaffen wurden, geht damit die Freiheit (und Notwendigkeit!) einher, sie zu bewerten, unbrauchbar gewordene zu verabschieden und, vor allem, neue, den eigenen Bedürfnissen gemässe Mythen zu erfinden.
Geschichten, die das Handeln lenken
Was also ist, in diesem Verständnis, ein Mythos, wenn es sich dabei nicht um «primitives» oder «anderes Denken» oder dergleichen handeln soll? Kurz gesagt: Eine Geschichte, die das Handeln lenkt. Genauer: Mythen sind, wie der Zürcher Altphilologe Walter Burkert einmal sagte, überlieferte Erzählungen mit einer «sekundären Referenz auf einen Gegenstand von sozialer Bedeutung» – also Erzählungen mit einem bedeutungsvollen Bezug auf die Gegenwart. Dabei ist die «sekundäre Referenz» in gewisser Hinsicht die Hauptsache: Sie erst macht aus der Erzählung einen Mythos, indem sie ihr eine verbindliche Bedeutung für die gegenwärtige Wirklichkeit gibt. Zum Mythos gehört damit immer ein Logos, der die Verbindung zur Gegenwart herstellt. Schon deshalb führt das klassisch moderne Schema «vom Mythos zum Logos» in die Irre.
Nicht alle Geschichten sind also Mythen, sondern Geschichten, die mit dem Anspruch erzählt und aufgegriffen werden, dass wir die Gegenwart und uns selbst aus ihnen verstehen sollen. Den Grund für diesen Anspruch liefert der Logos im Mythos: Er stellt eine Verbindung zur Gegenwart her, die der Willkür entzogen ist. Das kann eine genealogische, historische oder geographische Verbindung sein, etwa weil die Figuren des Mythos Vorfahren oder Vorläufer der von ihm Angesprochenen sein sollen wie Armin der Cherusker in Deutschland oder Wilhelm Tell in der Schweiz. Es kann aber auch, wie in Freuds Variante des Mythos von Ödipus, eine angebliche Grundstruktur der menschlichen Psyche sein, oder wie in Camus’ Version der Sisyphos-Figur, der menschlichen Existenz als solcher. Die letzten Beispiele zeigen auch, wie Mythen schon für die Aufklärung in Dienst genommen wurden, ohne dass jedoch dabei das Konzept des Mythos selbst zureichend reflektiert worden wäre.
In jedem Fall verbinden Mythen ausgezeichnete Aspekte der Gegenwart mit einer Erzählung, die ihnen Sinn verleiht. Sie «bahnen» damit, nach einem Wort des Philosophen Yves Citton, die Aufmerksamkeit. Sie zeichnen aus, was wichtig ist, wichtig genug, um nach mythischer Grundlegung zu verlangen. Zugleich geben sie durch die Bindung an eine erzählte Handlung Optionen nicht nur für das Verständnis der Gegenwart, sondern auch für das Handeln in ihr vor. Darin liegt ihre geradezu magische Kraft. Denn indem die erzählte Geschichte mit der Gegenwart verbunden wird, erscheint diese im Licht ihrer Handlung. Damit wird identifiziert, «um was es geht», und auch die Rollen werden verteilt. Im Geschichtentyp der Suche («quest»), dem wohl die meisten Mythen folgen, sind das nach dem klassischen Schema des litauisch-französischen Linguisten Algirdas Julien Greimas: Auftraggeber, Objekt, Empfänger, oder: Held, Widersacher, Helfer. Wird der Mythos akzeptiert, dann weiss man, wo man selbst und die anderen stehen und was zu tun ist.
Mythische «Wahrheit»
Mythen beanspruchen mit ihrer Kombination von Erzählung und Anbindung an die gegenwärtige Wirklichkeit eine «Wahrheit», die eben nicht unbedingt aus der Faktizität der erzählten Geschichte kommen muss. Für Freuds Inanspruchnahme des Ödipus-Mythos ist es gleichgültig, ob es die darin auftretenden Figuren wirklich gab und, falls ja, ob sie handelten, wie der Mythos erzählt. Weniger eindeutig ist das vielleicht für Mythen, deren Logos auf die Geschichte abstellt; aber auch deren Geltung lässt sich nicht allein dadurch widerlegen, dass man nachweist, die vom Mythos erzählte Geschichte habe sich gar nicht oder anders zugetragen. Hans Blumenberg hat für diesen spezifischen Modus von Geltung den Term «Bedeutsamkeit» geprägt. «Bedeutsam» kann eben auch etwas sein, das nie wirklich stattgefunden hat, zum Beispiel, weil es schon Generationen vor uns als Referenz gedient hat, oder weil es sich als aufschlussreich erweist.
Dazu kommt: Der Sinn eines Mythos liegt nie fest, wie bei einem theoretischen Satz oder im religiösen Dogma. Im Gegenteil: Es sind jene Geschichten, die sich neu und anders erzählen lassen, und denen immer ein zusätzlicher Sinn gegeben werden kann, die als Mythen über die Zeit erfolgreich sind; Blumenberg sprach von «hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit». Das gilt aber nicht nur für die erzählte Geschichte, sondern auch für den Logos, der sie mit der jeweiligen Gegenwart verbindet. Die Fähigkeit von Mythen, in der Veränderung erkennbar zu bleiben und immer neue Deutungen zuzulassen, sichert ihnen die Anreicherung mit Bedeutsamkeit über die Zeit.
Wie Mythen kritisieren?
Umgekehrt fordert der Mythos einen anderen Modus der Kritik als jenen der logischen oder faktischen Widerlegung, die ihn ohnehin nicht trifft. Man kann sich daher einzelnen Mythen am ehesten mit Aussicht auf Erfolg entgegenstellen, wenn man sie entweder neu erzählt, oder sie durch andere ersetzt. Denn, um nochmals Blumenberg zu zitieren: «In das Angebot einzuwilligen, das scheinbar Sinnlose umschliesse Sinnhaftigkeit, fehlt es nirgendwo und niemals an Bereitschaft.» Und umgekehrt: Die schlichte Zurückweisung des Mythos, die Kritik des Mythos durch den Nachweis etwa seiner historischen Unwahrheit, mithin das Angebot, die Sinnhaftigkeit des Mythos durch die faktische «Sinnlosigkeit» als Resultat seiner Dekonstruktion zu ersetzen, wird wenig Gegenliebe finden. Wer auf einen Mythos Wert legt, wird gegenüber solchen Angriffen von aufklärerischen Kritikern ebenso reagieren wie auf jene Spielverderber, die sich im Fussballstadium darüber mokieren, dass alle die Kreidelinien auf dem Rasen so unglaublich wichtig nehmen. Mit Spielverderbern redet man nicht: man zuckt die Achseln und macht sie notfalls mundtot.
Die – zugegeben schwierige – Aufgabe ist also, sich auf das Spiel des Mythos einzulassen. Die Metapher ist bewusst gewählt; denn tatsächlich funktioniert der Mythos in vielem wie ein Spiel. Er fordert nicht, dass man an seine «Realität» glaubt, so wenig wie an die «Realität», die mehr wäre als die schlichten Regeln im Fussball oder Schach – Fussball und Schach sind nur diese Regeln und nichts darüber hinaus. Folglich muss man den Mythos als Aussagesystem akzeptieren, und sei es, weil er anderen wichtig ist. Dann aber kann man mit ihm sein Glück versuchen: die Geschichte neu erzählen, die Rollen neu bestimmen, das Ziel verändern, andere Schlüsse ziehen, ihr eine andere Anwendung geben. Oder man bietet eine andere Geschichte an, die der Gegenwart einen anderen Sinn verleiht; denn das aufgeklärte Verhältnis zum Mythos besteht ja gerade darin, dass man sich von ihm nicht gefangen nehmen lässt. Nur der inquisitorische Eifer, die Reduktion auf die eine Wahrheit, verträgt sich nicht mit dem, was weder Theorie noch Dogma ist. Die Mythen brauchen wir ja gerade da, wo die Theorie nicht greift, weil sie, und sei es aus Zeitgründen, keine zureichenden Gründe liefert: um trotzdem nicht willkürlich zu entscheiden und dem, was wir tun, einen Sinn zu geben, über den man sich verständigen, über den man auch streiten kann.