Gesellschaften erzählen sich Geschichten und entwerfen Bilder, um sich als Einheit zu formen und sich in ihnen wiederzuerkennen. In populären Liedern und Geschichtsbüchern, auf Kalenderblättern, in Sonntagspredigten und Ansprachen zu nationalen Feiertagen, in Leitartikeln und Pamphleten geben sie sich fortwährend Antworten auf die immer gleichen Fragen: Wer sind wir? Wer gehört zu uns? Wer nicht? Woher kommen wir? Welches sind unsere Wurzeln, unsere Ahnen, unsere Ursprünge? Welche Heldentat hat uns von Fremdherrschaft befreit…? Aber auch: Wo leben wir? Welches ist unser Land? Auf welchen Boden gehören wir? Wie sollen wir uns regieren (oder regieren lassen)? Wie wollen wir leben…?

Jean Renggli der Ältere: Der Rütlischwur 1291, 1891; Quelle: dhm.de
Solche Fragen sind zwar teilweise sehr alt und in allen Gesellschaften der Erde anzutreffen, aber erst im 19. Jahrhundert wurde in den neu entstehenden Nationalstaaten damit begonnen, diejenigen Geschichten und Bilder zu standardisieren, die dann als die ‚richtigen’ Antworten galten: Sie wurden zu nationalen Mythen verdichtet. Und meist erst am Ende des 19. Jh. wurden nationale Feiertage eingerichtet – in der Schweiz der 1. August erstmals 1891 –, an denen die Nationen in Gestalt ihrer Repräsentanten, aber auch ihrer Bürger rituell in den Spiegel dieser Mythen blickten, um immer dasselbe, stabile Bild von sich selbst zu sehen: das Bild ihrer eignen Grösse, Einzigartigkeit und Besonderheit. Es waren diese Selbst-Bilder, die die Nation „wahr“ werden liessen.
Es sind bekanntlich zwei Gruppen von zum Teil alten mythischen Erzählungen und Bildern, die sich in der Schweiz im späten 18. Jh. zu Elementen einer erst noch zu schaffenden „Nation“ zu formieren begannen: zum einen die mythischen Ursprungsgeschichten der Eidgenossenschaft (von Tell über Morgarten bis Marignano), und zum anderen die Mythen vom „Schweizeralpenland“. Nach dem Sonderbundskrieg von 1847 und der Gründung des Bundesstaates 1848 kam ihnen die Aufgabe zu, die neue, noch sehr prekäre staatliche Einheit festigen.
Was ist ein Mythos?

Schweizerlieder, dritte Auflage, Zürich 1786; Quelle: zvab.com
Im „Jubiläumsjahr“ 2015 (Marignano…!) waren die Medien voll von der Diskussion über die Schlachten-Mythen; hier soll es um die Alpen gehen, angefangen gleich bei diesem merkwürdigen Begriff: das „Schweizeralpenland“. Der Ausdruck stammt vom patriotischen Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater, der ihn in seinen sehr populären Schweizerliedern von 1761 prägte – und der damit exemplarisch schon eine typische Eigenart des mythischen Redens anzeigt: Das „Schweizeralpenland“ und die „Schweizerlieder“, aber auch die bis vor wenigen Jahren gebräuchliche Form „Schweizergeschichte“, erwecken als Nomen den Eindruck, als seien dies Alpenlandschaften, Lieder oder Geschichte(n), die wesensmässig ‚schweizerisch’ sind, mit andern Alpen, Liedern oder Geschichten unvergleichbar. Das ist kein Zufall: Mythen sind eine Form der Rede, die immer etwas Wesenhaftes behauptet. Der Mythos, sagte der Literaturtheoretiker Roland Barthes, verwandelt Geschichte in Natur, raubt ihr den Status des Veränderlichen, Gewordenen und damit letztlich immer auch Zufälligen, und überführt die angesprochene Sache in etwas Ewiges oder ‚von Natur aus’ Seiendes, in ein Wesen, das mit sich identisch und unwandelbar ist.
Und noch etwas: Mythen müssen zwei Anforderungen erfüllen, um zu ‚funktionieren’ – sie müssen einfach gestrickt sein, und sie müssen eine gewisse Bandbreite von Deutungen zulassen. Einen Mythos kann man daher nicht leicht durch Fakten zum Verschwinden bringen. Denn er ist eine viel zu gute Geschichte, ein viel zu eingängiges Bild; er ist auch flexibel genug, um etwa die Einwände von Historikern entweder in seine ‚höhere’ (oder ‚tiefere’) Wahrheit zu integrieren – oder sie souverän zu ignorieren. Letztlich bleibt daher nichts Anderes, als zu versuchen, ihm eine andere, durch empirische Argumente gestützte Erzählung konkurrierend zur Seite zu stellen bzw. ein ‚realistischeres’ Bild zu entwerfen, um ihm das Wasser abzugraben, d.h. ihn letztlich doch blass und unplausibel werden zu lassen. Zuweilen aber ist es auch einfach der Gang der Geschichte, der bestimmte Mythen auf ihrem Misthaufen zurücklässt.
Und ein Letztes: Es gibt, folgt man dem grossen Mythenforscher Claude Lévy-Strauss, keinen Ursprung des Mythos. Es gibt von Mythen immer nur Kopien, immer nur Varianten einer Erzählung, von der sich keine „Ur-Form“ finden lässt. Eine Erzählung ist erst dann ein Mythos, wenn er ‚immer schon’ erzählt wurde, wenn die Geschichten und die Bilder, die er hervorbringt, vielfältig in einer Gesellschaft zirkulieren.
Die Schweiz als alpine Insel

Flüeli Ranft, untere Kapelle, Wandbild von Robert Durrer, 1921; quelle: mural.ch
Konzentrieren wir uns daher auf einige Erscheinungsformen des Alpen-Mythos der Schweiz im 20. Jahrhundert (ohne dabei immer zu zeigen, dass diese Bilder oft viel älter sind). Ein erstes, gewichtiges Beispiel findet sich in der Bruder Klaus-Kapelle in Flüeli Ranft. Auf einem die ganze Stirnseite der Kapelle füllenden, grossen Wandbild aus dem Jahr 1921 sieht man auf der rechten Seite die Schweiz als Berg, auf welchem zuoberst der Heilige Niklaus von der Flüe auf den Knien liegt, um im Ersten Weltkrieg himmlischen Schutz für sein Land zu erflehen. Der Berg ist allerdings zugleich eine Insel in einem Meer voll von kriegerischem Chaos: ein Meer voller Gerippe, Waffen und zerfetzter Fahnen, aus dem sich wie in einer schaurigen Himmelfahrt die Furie der Revolution erhebt. Ein starker Engel schützt mit seinem Schild die Schweiz vor diesem Schrecken, und der Berg bleibt – das Bild ist durchaus auch kritisch gemeint – weiterhin nicht nur eine idyllische Alpenlandschaft mit einer netten, aber wirkungslosen Armee, sondern auch ein Hort für zwielichtige Gestalten, die hier ihre Geschäfte machen. Allein, das Meer des Todes, des Untergangs, des Chaos und der Revolution: das ist Europa…
Diese zweifellos wichtigste Ikone des politischen Katholizismus in der Schweiz formuliert einen zentralen Aspekt des Alpen-Mythos: das Gelände selbst, die alpine Topographie schützt die Schweiz – allerdings, und das ist das Besondere hier – nicht in Verbund mit der Armee, sondern nur dank der Fürbitte des Heiligen. Das passt zwar gut zur auch heute noch gesungenen Nationalhymne von 1841 mit ihrer Verbindung von Alpenmystik und Frömmigkeit („Wenn der Alpenfirn sich rötet, / Betet, freie Schweizer, betet!“, etc.), steht aber doch in einer gewissen Spannung zu einer anderen, bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein sogar dominierenden Form des Alpenmythos. Diese hat der katholisch-konservative Langzeit-Bundesrat Philipp Etter vor allem in seinen Reden kurz vor dem Zweiten Weltkrieg wirkungsmächtig in Worte gefasst.
Die Alpen im Krieg
![Bundesrat Philipp Etter [ohne Jahr]; Quelle: m.bote.ch](https://geschichtedergegenwart.ch/inhalte/2016/07/Etter__m_bote_zh.jpg)
Bundesrat Philipp Etter, BR 1924-1959 [ohne Jahr]; Quelle: m.bote.ch
Doch das ist noch nicht alles, ja noch nicht einmal das Wichtigste. Denn Philipp Etter behauptete in seinen Reden (und in den fast gleichen Worten auch in der bundesrätlichen „Kulturbotschaft“ zur Geistigen Landesverteidigung von 1938), die Schweiz habe von ihrer „Festung“ herab nicht primär die Aufgabe der Selbstverteidigung. Vielmehr habe sie die Aufgabe, eine „grosse geistige Sendung zu verteidigen“, nämlich die „Verbindung, Vermittlung und gegenseitige Befruchtung jener Kulturen, auf denen die geschichtliche und geistige Grösse des Abendlandes ruht!“ Die Schweizer sollen „im Herzen des Abendlandes Wache stehen an den Pässen und an den Quellen“, denn, so Etter weiter, „die Berge, an denen die Völker Europas sich scheiden, die Pässe, die jene Völker verbinden, die Quellen der Ströme, die das wirtschaftliche und geistige Leben Europas befruchten, sollen frei bleiben, sollen in der Obhut eines freien Volkes stehen.“ Es zeigt sich hier, wie flexibel der Mythos sein kann: die Alpen sind Festung, Ort der Selbstverteidigung und der Abwehr des Fremden – und sie erscheinen gleichzeitig als Ort des Austausches, der Verbindung, ja der „Befruchtung“ der grossen europäischen Kulturen.
Dieses Bild stammt nicht von Etter selbst, sondern findet sich – wiederum in einer anderen Variante – auch schon beim religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz, der sich in seinem Buch Die Neue Schweiz aus dem Jahr 1918 am Ende des Ersten Weltkrieges die Frage stellte, welchen Beitrag die Schweiz für die Erneuerung Europas leisten könnte – und was diese Aufgabe wiederum für die Erneuerung der Schweiz bedeuten würde. Bei Etter bekommt die Rede von „den Pässen und den Quellen“ dann aber eine andere Bedeutung: Man kann ihn im speziellen Jahr 1939 gar nicht anders verstehen, als dass es die Aufgabe der Schweiz sei, die Pässe zwischen Nord und Süd – das heisst: zwischen Hitler-Deutschland und dem faschistischen Italien – offenzuhalten, um die Verbindung zwischen den „europäischen Kulturen“ zu sichern, bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen nationalen Unabhängigkeit als „Wächter“.

Schweizer Gebirgssoldat, um 1940; Quelle: swissinfo.ch
Durchaus ähnliche Töne hörte man anlässlich der „Landi“, der Landesausstellung 1939: Es „wetterleuchtet“, heisst es dort in einer offiziellen Publikation, „am Gesichtskreis unserer friedlichen Heimat, die eigenständig, unnachahmbar […] im Mittelpunkte drohender Spannungsfelder die Pflicht einer europäischen Hochwacht zu erfüllen hat“ (meine Hervorh.). Im Sommer 1940, als Frankreich von der Wehrmacht überrollt wurde, bekräftigten die Bundesräte Pilet-Golaz und Etter im Radio sowie General Guisan am sogenannten Rütli-Rapport, dass es nun die Aufgabe der Schweiz sei, einerseits die Unabhängigkeit und andrerseits die „Alpenpässe“ zu verteidigen. Oder, wie der damalige Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz in seiner Radioansprache zum Nationalfeiertag von 1940 sagte: die Aufgabe der Armee bestehe darin, „Hüterin der Alpen zu sein“ – „Festung und Schlussstein Europas zugleich“. Das Alpen-Réduit, der Rückzug der zu zwei Dritteln demobilisierten Armee ab dem Herbst 1940 in Festungsbauten im und rund um den Gotthard, erschien daher gleichzeitig als (sehr moderate) Widerstandsgeste wie auch als Verwirklichung von Etters „Wächter“-Mythos in einer alpinen fantasy-Landschaft: In der „gottgebenen“ Festung wurden die „Pässe und die Quellen“ am Kreuzungspunkt der „europäischen Kulturen“ „gesichert“.
Die Geschmeidigkeit, mit der Etter, Pilet-Golaz und andere Vertreter der wirtschaftlichen und politischen Elite im Sommer 1940 andeuteten, dass die Schweiz sich in das von Deutschland beherrschte „Neue Europa“ werde einfügen können, teilten sie mit vielen europäischen Politikern, die die von den USA geschaffene liberale und nationalstaatliche Versailler Ordnung hinter sich lassen wollten. Diese Europa-Träume hatten ebenso ihre alte, katholische Wurzel im Heiligen Römischen Reich wie sie dem konservativen Hass auf die Französische Revolution entstammten. Deutschland schien nun die Macht zu sein, die endgültig eine neue, gesamteuropäische Ordnung errichten werde – eine Ordnung auch, die die „bolschewistische“ Revolution abwehre wie der Engel auf dem Fresko im Flüeli Ranft. Etter sagte das nicht. Aber angesichts seiner scharfen antikommunistischen Grundhaltung kann kein Zweifel bestehen, dass er es dachte.
Das Ende vom Lied
Mythen können, wie angedeutet, auch verblassen, ihre Plausibilität verlieren oder ausserhalb des Rahmens fallen, was politisch vertretbar war. Nach 1945 weiterhin vom „Wächteramt“ in einem „Neuen Europa“ zu sprechen, war definitiv nicht mehr möglich; die Schweiz hatte sich durch ihre nur halbverdeckte Kooperation mit der Achse schon zu sehr kompromittiert. Doch hätte man, so liesse sich fragen, den Mythos nicht im Sinne von Leonhard Ragaz wiederaufnehmen und ‚von den Alpen herab’ einen Beitrag zur Rekonstruktion Europas leisten können…? Es ist bekannt, dass das nicht geschah. Als sich Europa nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten schrittweise eine übernationale demokratische Ordnung zu geben begann, hielt sich die Schweiz vornehm-neutral zurück. Betont wurde jetzt alleine noch die zur Festung ausgebaute alpine Insel d.h. das militärische Réduit ohne jegliche „Sendung“ ausser der fantasy-Funktion, die Unabhängigkeit „der“ Schweiz zu sichern.

Der „Igel“: Armee-Pavillon an der expo 64; Quelle: 20min.ch
Der Alpen-Mythos zerfiel. Er schrumpfte aufs militärische Réduit und wurde an der Landesausstellung 1964, der Expo, zum in jeder Hinsicht geschichtslosen, trotzdem aber noch lange nicht zum Mythos taugenden „Igel“. Selbst die nationale Rechte spricht heute zwar viel von den „Befreiungskriegen“, von „Morgarten“, der „Neutralität“, dem „Wehrwillen“ und dem „Volk“, aber kaum noch von den Alpen im Sinne eines politischen Mythos. Das ist kein Zufall. Denn dass sich die Schweiz ab 1940 unter der Hand ein Stück weit in das „Neue Europa“ der Nazis einfügte, hat den Alpen-Mythos für die Rechte für immer vergiftet: Weder kann sie die kooperationswilligen Eliten von 1940 explizit loben, noch ist sie bereit, diese zu kritisieren, wie dies linke und liberale Historiker tun. Umso lauter posaunt sie dafür hinaus, wie sehr sie natürlich gegen die Nazis sei – um dann ebenso umstandslos wie infam die EU mit dem Europa der Nazis zu vergleichen. Und statt vom „Neuen Europa“ spricht diese europaweit gut vernetzte (und ideologisch mit Russland verbündete) Rechte lieber vom „Abendland“. Aber das ist eine andere Geschichte.
Allein, was bleibt vom Alpen-Mythos zurück? Vom Mythos nichts, aber die Alpen sind da. Daher bleibt, zum einen, die selbstverständlich ungebrochene Faszination der alpinen Landschaft, und, wieso auch nicht, der Stolz auf kollektive Leistungen wie der neue Gotthardbasistunnel. Zum andern aber vielleicht die Einsicht, dass der Mythos, wie Ragaz und Etter ihn formulierten, einen wahren Kern hatte: Als Land „der Pässe und der Quellen“ hat die Schweiz keine „natürlichen“ Grenzen. Sie ist ein Teil Europas.

Blick von der Schynigen Platte auf Eiger, Mönch und Jungfrau, Postkarte, ca. 1900