Der neue Rechtspopulismus hat kaum etwas mit Nation und Vaterland zu tun. Die Gemeinschaft, die er beschwört, ist einerseits die Familie und das Lokale, und andrerseits etwas Transnationales und zugleich Vorpolitisches. Die alte Rechte nannte es die ‚Rasse‘.

Der neue Recht­po­pu­lismus gibt sich gerne patrio­tisch. Sein Adressat und zugleich sein heiliger Gral scheint die jeweils eigene Nation zu sein. Sie muss geschützt werden, rein bleiben, frei bleiben, darf sich nicht abschaffen, muss wieder echtes Volk und echte Heimat werden. In eben dieser Rhetorik aber werden sich die neurechten Parteien und Bewe­gungen in den euro­päi­schen Natio­nal­staaten immer ähnli­cher. Bei einem Treffen mit der Chefin der fran­zö­si­schen Front National, Marine Le Pen, brachte Öster­reichs FPÖ-Chef Hans-Christian Strache dies im vergan­genen Juni auf die so haar­sträu­bende wie tref­fende Formel: Patrioten aller Länder, verei­nigt Euch.

Darüber kann man lachen. Doch so albern die Formel erscheint, sie trifft, trotz aller fakti­schen Schwie­rig­keiten einer Koope­ra­tion der Natio­na­listen etwa auf EU-Ebene, eine wesent­liche Eigen­schaft der neurechten Bewe­gung. Denn diese hat in der Tat kaum mehr etwas mit Nation und Vater­land zu tun. Stra­ches Vari­ante der Marx­schen Formel muss man ebenso ernst nehmen wie die Bezeich­nung Patrio­ti­sche Euro­päer oder andere Selbst­be­schrei­bungen der neurechten Parteien und Vereine, die alle eines gemeinsam haben: dass sie einen klas­si­schen Natio­na­lismus bewusst vermeiden; einen Natio­na­lismus, der sich in Konkur­renz zu anderen Nationen sah, meist eine von ihnen zum spezi­ellen Feind erklärte, den Schutz der eigenen Lands­leute in alle Welt forderte und von der Über­zeu­gung lebte, am eigenen Wesen werde die Welt genesen. Von alldem finden sich in der heutigen Neuen Rechten besten­falls noch Spuren. In ihrem Zentrum steht etwas anderes: Das entschei­dende, zu schüt­zende, zu bewah­rende und zu stär­kende Objekt der Neuen Rechten sind weder Nation noch Vater­land, sondern eine Idee von Gemein­schaft, die sowohl subna­tional, also weit dies­seits der Vater­lands­grenzen, als auch weit jenseits dieser Grenzen und trans­na­tional zum Ausdruck kommt.

Eine trans­na­tio­nale Gemeinschaft

Zum einen geht es um die gesunde und normale Familie, um die Vertei­di­gung der konservativ-bürgerlichen Lebens­weise gegen Femi­nismus, Multi­kul­tu­ra­lismus und Poli­ti­sche Korrekt­heit, es geht um den Schutz klein­bür­ger­li­cher Norma­lität gegen jede Form der Abwei­chung oder Reform. Das eigent­lich zu schüt­zende Kollektiv ist hier das ‚Volk‘ selber, das durch ihm ‚wesens­fremde‘ Denk­weisen verun­rei­nigt und durch die zu hohe Zahl von ‚Fremden‘ in seiner Exis­tenz gefährdet erscheint. Zum anderen geht es um die Werte und Errun­gen­schaften des ‚Abend­landes Europas‘, des Chris­tentum und der Aufklä­rung, die zu schützen und zu vertei­digen sind gegen Isla­mi­sie­rung, Terror und Über­frem­dung, gegen Asylanten und Flücht­linge oder auch gegen die intel­lek­tu­ellen Eliten, gegen die angeb­liche Lügen­presse oder gegen den Staat. Auf beiden Ebenen können sich die scheinbar natio­na­lis­ti­schen Bewe­gungen bestens trans­na­tional verstän­digen. Selbst noch in ihrem Hass auf die EU sind sie sich trans­eu­ro­pä­isch sehr viel einiger als das konser­va­tive, sozi­al­de­mo­kra­ti­sche, linke oder gar libe­rale Lager.

Das Beson­dere dieses neurechten Gemein­schafts­be­griffs besteht darin, dass er politisch-partikulare Natio­nal­in­ter­essen fast völlig unter­läuft und zwischen dem Privaten und Lokalen einer­seits und dem über­grei­fenden ‚Abend­land‘ ande­rer­seits ein als ‚Normal-Bevölkerung‘ bzw. ‚Volk‘ gedachtes Kollektiv annimmt, das zu schützen und zu stärken als poli­ti­sche Aufgabe gilt. Sucht man in der modernen Ideen- und Ideo­lo­gie­ge­schichte nach einem histo­ri­schen Vorbild für dieses beson­dere Gemein­schafts­ver­ständnis, wird man nur auf einen Begriff stoßen: die ‚Rasse‘. Allein der Rassen­be­griff bezeich­nete im späten 19. und frühen 20. Jahr­hun­dert ein ähnlich ambi­va­lentes oder besser: dehn­bares Kollektiv, das im Raum privater Sexua­lität ebenso zur Dispo­si­tion stand wie im Ringen um globale Herr­schafts­räume. Und nur der Rassen­be­griff stellte in ganz ähnli­cher Weise Nation und Vater­land als bloße Appel­la­ti­ons­in­stanz in den Dienst eines zugleich sub- und trans­na­tio­nales Gemeinschaftsverständnisses.

Nun ist unüber­sehbar, dass fast sämt­liche Spiel­arten des neuen Rechts­po­pu­lismus, zumin­dest in Europa, den Begriff der Rasse pein­lich genau vermeiden. Statt­dessen wird von Kultur, Abend­land, Volk, Heimat und vielem mehr gespro­chen. Das mag zum einen der allge­meinen Diskre­di­tie­rung des Begriffs geschuldet sein, dessen bloße Verwen­dung – seit dem Zusam­men­bruch des letzten offi­zi­ellen Segre­ga­ti­ons­re­gimes in Südafrika und seit der EU-weiten Fest­le­gung poli­ti­scher Grund­werte – von vielen bereits als eine Form von Rassismus wahr­ge­nommen wird, den zu über­winden wiederum zum politisch-moralischen Grün­dungs­auf­trag Europas gehört. Es mag aber ebenso einer Art poli­ti­scher Binnen-Korrektheit der Neuen Rechten selber geschuldet sein, deren erstaun­li­cher Erfolg in den letzten Jahren nicht zuletzt darauf beruht, an die Stelle eines dumpfen Stammtisch-Nationalismus ein sehr modern-fortschrittliches Selbst-Image zu setzen, das gesell­schaft­liche Erwar­tungs­hal­tungen durch­bricht, ehemals linke Formen der Sozi­al­kritik entstel­lend kopiert und sogar ironie­fähig ist: ‚Patrioten alle Länder…‘ Eben dazu gehört auch die strikte Vermei­dung von Begriffen, die, wie der Rassen­be­griff, in den Augen der Öffent­lich­keit unmit­telbar wieder das Bild der ‚Ewig­gest­rigen‘ evozieren würde.

Der alte Mythos der Vox Populi

Zum kriti­schen Verständnis der Neuen Rechten erscheint es daher umso wich­tiger, neben den offen­sicht­li­chen Feind­bil­dern, die sie propa­giert, genauer auf den Status dessen zu achten, was sie als das vor fremden Einflüssen zu schüt­zende Gut und die zu vertei­di­gende Gemein­schaft betrachtet. Denn hier, viel­leicht sogar mehr als in den Feind­bil­dern, zeigt sich die Vorstel­lung eines ‚Volkes‘, das schon längst nichts mehr mit dem Staats­volk als demo­kra­ti­schem Souverän zu tun hat, sondern die Semantik dessen aufnimmt, was früher einmal ‚Rasse‘ hiess. Genauer gesagt erscheinen hier zwei ‚Völker‘: Zum einen das Volk, das seine Stimme erhebt, das so genannte einfache Volk der real oder dekla­riert Unzu­frie­denen, die, auch wenn sie nur zu ein- oder zwei­hun­dert auf die Straße gehen, von den Wort­füh­rern umstandslos zum einzig wahren Volk erklärt werden. Das ist der alte Mythos der Vox Populi: je einfa­cher diese Stimme, je weniger beleckt von den Insti­tu­tionen der politisch-gesellschaftlichen Ordnung, umso mehr spricht sie die Wahr­heit. Zum anderen aber gibt es da noch das Volk als Bevöl­ke­rung; als flexible, dehn­bare, an keine Parti­ku­la­rität gebun­dene Gemein­schaft, die mal als ‚Abend­land‘ oder ‚Europa‘ und mal als ‚Familie‘ oder ‚Dorf‘ in Erschei­nung tritt. Es ist jenes Volk, das bereits in Thilo Sarra­zins populär-populationstheoretischem Buch zur drohenden Selb­st­ab­schaf­fung Deutsch­lands gemeint war, das sein im Kern biolo­gi­sches Verschwinden ausmalte, völlig losge­löst von jedem poli­ti­schen und natio­nalen Staats­bür­ger­ver­ständnis, und allein schon durch seinen publi­zis­ti­schen Erfolg als ein echtes Mani­fest des neuen Rechts­po­pu­lismus gelten kann.

Noch deut­li­cher wird diese Mobi­li­sie­rung eines vorpo­li­ti­schen ‚Volks‘ dort, wo die Äuße­rungen der Wort­führer in erstaun­li­cher Kongruenz von den Anhän­gern der Bewe­gung wieder­holt werden, etwa in den online-Kommentare zu Nach­richten über die Aktionen der Neuen Rechten oder über die Flücht­lings­krise. Wer sich hier auf die Suche nach klas­si­schen Vorur­teilen macht, nach stereo­typen Annahmen über Schwarze, den Islam, Araber, oder auch nur Ausländer, wird meist enttäuscht. Zumin­dest sind diese den Äuße­rungen eher imma­nent und müssen schluss­fol­gernd heraus­ge­lesen werden. Im Vorder­grund steht über­wie­gend nicht die Gefahr, die von den verschie­denen Gruppen von Fremden  angeb­lich ausgeht, sondern im Vorder­grund steht die Rein­hal­tung des Eigenen: ‚Wir schaffen das nicht‘ – zumin­dest nicht ohne unsere schiere Exis­tenz als Volk zu riskieren. In dieser im Kern darwi­nis­ti­schen und seit Jahren von stän­diger Terror­angst massiv unter­stützten Logik der Exis­tenz­si­che­rung – ‚Wir oder Die‘ – ist die konkrete Parti­ku­la­rität des Fremden wie des Eigenen irrele­vant. Feind und Freund bleiben diffus, wichtig ist nur die Vertei­di­gung des Eigenen gegen das Fremde. Hier wie dort geht es nicht um Natio­na­li­täten, sondern um Völker und Bevölkerungen.

Wie die Faust aufs Auge passt dazu eine zweite Denk­figur, die sich in online-Kommentaren massen­haft finden lässt. Die Annahme nämlich, dass wir in einer Zeit leben, in der man sich aufgrund nicht abrei­ßender Krisen auf die herge­brachten poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tionen, auf Recht, Politik und Presse, nicht mehr verlassen kann. Es ist die Denk­figur des Ausnah­me­zu­stands, der außer­in­sti­tu­tio­nelle Formen des selbst­er­mäch­ti­genden Handelns ‚von unten‘ notwendig macht. Erst vor zwei Tagen haben sich vier Fünftel der Deut­schen, Schweizer und Öster­rei­cher im Rahmen der Mitbe­stim­mung über den Ausgang eines halb-fiktionalen Fern­seh­spiels über den vorbeu­genden Abschuss eines entführten Passa­gier­flug­zeugs trans­na­tional dafür ausge­spro­chen, einen Tatbe­stand anzu­er­kennen, den keine der Verfas­sungen der drei Ländern vorsieht: den über­ge­setz­li­chen Notstand. – Die Frage, woher diese gegen­wär­tige Sehn­sucht nach einer vorpo­li­ti­schen Welt der Siche­rung des bloßen Lebens außer­halb recht­li­cher Prin­zi­pien und poli­ti­scher Insti­tu­tionen stammt und wohin sie führt, wird uns wohl noch eine Weile beschäf­tigen. In ihrem Zentrum steht die alte demo­kra­tie­theo­re­ti­sche Frage: Wer und was ist heute eigent­lich das ‚Volk‘?

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