„Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung.“ Mit diesen Worten richtete sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga im April 2013 an die Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen (FSZM). Die Entschuldigung erfolgte nach Jahrzehnten der weitgehenden gesellschaftlichen und politischen Tabuisierung der Thematik, und mehr als dreißig Jahre nachdem die gesetzlichen Bestimmungen, welche die willkürlichen behördlichen Eingriffe ermöglicht hatten, neugestaltet wurden.
Seit den 1990er Jahren sind offizielle Entschuldigungen und historische Kommissionen zunehmend Teil der Erinnerungskultur in demokratischen Staaten geworden. Das Gedenken an die Opfer der Shoah hatte einen wegweisenden Einfluss auf diese Entwicklung. So kam es in verschiedenen Staaten wie Australien, Kanada, Irland, Deutschland und Österreich in den letzten Jahrzehnten zu öffentlichen Entschuldigungen und Aufarbeitungsbemühungen im Hinblick auf die Geschichte der Heimerziehung und der damit verbundenen Misshandlung von Kindern.
Als erster Staat führte Australien Mitte der 1990er Jahre Untersuchungen zu den systematischen behördlichen Kindswegnahmen von Aborigines durch, die sich zwischen 1910 und 1975 ereigneten. In den meisten anderen Staaten setzte eine offizielle Aufarbeitung erst nach der Jahrtausendwende ein. Die Aufarbeitungen zeigten, dass vor allem Kinder und Jugendliche aus Familien mit tiefem sozio-ökonomischen Status in Heimen und erzieherischen Institutionen versorgt wurden, und insbesondere sexuelle Gewalt sehr verbreitet war.
Repressive Sozialpolitik
In der Schweiz waren FSZM eingebettet in die Sozialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese charakterisierte sich durch die Verschränkung von Hilfe mit sozialer Kontrolle. Internationale Parallelen zeigen sich darin, dass auch in der Schweiz der sozio-ökonomische Status als Legitimation für die angeordneten Maßnahmen diente. So richteten sich FSZM gegen armutsbetroffene Menschen, die den rigiden bürgerlichen Familienvorstellungen nicht entsprachen, zum Beispiel aufgrund eines als unkonventionell erachteten Lebensstils, Bildungsferne der Eltern, vorehelicher Schwangerschaft, oder der Verwitwung eines Elternteils. Bis in die 1980er Jahre wurden zahllose Kinder und Jugendliche in streng geführte Heime und Pflegefamilien fremdplatziert, sowie auf Bauernhöfen als Arbeitskräfte eingesetzt (sog. Verdingkinder).
Dazu zählen auch Einweisungen von Jugendlichen und Erwachsenen in sogenannte Zwangsarbeitsanstalten, Erziehungsheime, Jugendheime, Psychiatrien, Strafanstalten oder andere, meist geschlossene Institutionen. Zudem kam es zu Zwangsmedikationen, Zwangssterilisationen und Zwangsadoptionen. Zu den FZSM zählen auch die rassistisch motivierten Kindswegnahmen in jenischen Familien durch das Schweizer Jugendhilfswerk Pro Juventute. Das gesellschaftliche Ausmaß der FSZM war beträchtlich. Schätzungen zu Folge waren noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zehntausende, wenn nicht sogar weit über hunderttausend Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Familien fremdplatziert. Rechtsstaatlich schockierend mutet an, dass gegen die behördlichen Entscheide kein Einspruch bei einem Gericht oder einer Instanz außerhalb der Verwaltung erhoben werden konnte. Die Neugestaltung des Versorgungsrechts erfolgte 1981 auf internationalen Druck im Zug der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welche die Schweiz 1974 ratifiziert hatte. Dank der EMRK standen nun jeder Person in der Schweiz Verfahrensrechte zu, welche die Behörden einhalten mussten.
Wie heute klar ist, haben viele Betroffene aufgrund der gewaltvollen staatlichen Eingriffe in ihre Grundrechte Traumatisches erlebt. Statt die Armut zu bekämpfen, bekämpfte der Staat die Armen. In der Fremdplatzierung widerfuhr ihnen Abwertung in Form körperlicher und psychischer Gewalt, Lieblosigkeit und Demütigung. Sie wurden ausgebeutet, misshandelt, sexuell missbraucht und litten unter der Trennung von ihren Familien.
Während ihre Kindheiten durch eine behördlich-institutionelle Fremdbestimmung geprägt waren, wurden sie nach der Entlassung aus den Maßnahmen allein gelassen. Vielfach zeichneten sich die weiteren Lebenswege der Betroffenen durch Perspektivlosigkeit, erneute Stigmatisierung und soziale Isolation aus. Sie gerieten in zunehmende Armut, weil ihnen eine gute Ausbildung verwehrt blieb, und früh gesundheitliche Probleme auftraten. Tragende soziale Netze fehlten, und es bestanden kaum Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern. Geprägt durch diese sozialen Brüche und Platzlosigkeiten und dem Bedürfnis nach einem Zuhause, gründeten viele Betroffene früh eine eigene Familie, jedoch ohne die ökonomischen und sozialen Ressourcen, um dieses eigene Zuhause zu gestalten. Deutlich ist, dass die FSZM zur Aufrechterhaltung der sozialen Ungleichheiten führten, aus denen die Betroffenen kamen.
Gesellschaftliche Tabuisierung und Aufarbeitung
Während Jahrzehnten fand das Thema in einer breiteren Öffentlichkeit kaum Beachtung, obwohl Betroffene sich seit den 1930er Jahren immer wieder kritisch zu den FSZM äußerten. Ihre gesellschaftliche Position und die massive soziale Stigmatisierung begrenzten Möglichkeiten, sich zu einer Bewegung zusammen zu schließen und sich wirksam Gehör zu verschaffen. 1972 deckte eine Artikelserie im Beobachter die Kindswegnahmen in jenischen Familien durch die Pro Juventute auf. Diese stieß auf Unglauben und Widerstand, Diffamierungsvorwürfe wurden laut, und der Beobachter verlor tausende Abonnent*innen. Der öffentliche Druck führte jedoch schließlich dazu, dass die Pro Juventute das Projekt 1973 auflöste.
Erst in jüngerer Zeit gelangten FSZM dank der Initiative von Interessengruppen und Einzelpersonen wieder vermehrt in die Öffentlichkeit. Diese Entwicklung geht mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung von Opferrechten und einer neuen Bewertung von Traumaerfahrungen einher. Es entstanden Filme, Reportagen und Ausstellungen. Auch die Forschung begann sich zunehmend mit den Hintergründen der FSZM auseinanderzusetzen. Schließlich solidarisierten sich einzelne Parlamentarier*innen und setzten sich für eine nationale Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Thematik ein. Eine Erklärung für die im internationalen Vergleich langanhaltende gesellschaftliche Tabuisierung in der Schweiz wird darin gesehen, dass FSZM eine Geschichte über die Schweiz erzählen, die dem nationalen Narrativ des Erfolgsmodells fundamental widerspricht. Zur Schweiz des 20. Jahrhunderts gehören nicht nur Wohlstandszuwachs und der Ausbau des Wohlfahrtsstaats, sondern je nach sozialer Zugehörigkeit auch Diskriminierung und Rechtslosigkeit.
Erst die Entschuldigung Sommarugas 2013 markierte einen Wendepunkt. Nun kam die öffentliche Aufarbeitung ins Rollen. Unter der Leitung des Bundesamtes für Justiz wurde ein „runder Tisch“ eingesetzt, der in anspruchsvollen Diskussionen mit Vertretungen von Betroffenen, des Bundes, der Kantone, von Gemeinden und weiteren involvierten Institutionen wie Heimen, Kirchen und des Bauernverbands die öffentliche Aufarbeitung vorbereitete. Parallel erfolgte eine erste wissenschaftliche Bearbeitung durch die unabhängige Expertenkommission UEK (2014-2019). 2014 lancierte der Unternehmer Guido Fluri, selbst Betroffener von FSZM, die „Wiedergutmachungsinitiative“. Die Volksinitiative forderte u. a. die Errichtung eines Fonds in der Höhe von 500 Millionen Franken für schwer Betroffene von FSZM. Sie stieß auf breite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Wiedergutmachungsinitiative wurde schließlich zugunsten eines Bundesgesetzes zurückgezogen, das 2017 in Kraft trat. Auch das Bundesgesetz sieht finanzielle Entschädigungen für Betroffene vor, sogenannte „Solidaritätsbeiträge“. Wird ein entsprechendes Gesuch gutgeheißen, erhalten sie einmalig 25‘000 Franken.
Vielen Betroffenen geht dies zu wenig weit. Diese Ansicht teilt die UEK. In ihrem Schlussbericht hält sie fest, dass die Solidaritätsbeiträge erst als Anfang der Rehabilitation betrachtet werden müssten. Sie schlägt weitere Finanzhilfen vor, wie zum Beispiel die Steuerbefreiung bei Steuerschulden, oder einen Hilfsfonds für nicht versicherte Gesundheitskosten. Der Bund bekräftigte, die Empfehlungen der UEK zu prüfen, konkrete Schritte blieben bisher allerdings aus. Wie Schläge ins Gesicht der Betroffenen mutet es stattdessen an, dass die Frist zur Einreichung eines Gesuchs ursprünglich nur bis März 2018 bestand, und den Betroffenen kaum Zeit ließ, sich zu melden. Danach wurde bekannt, dass der Solidaritätsbeitrag dazu führen kann, dass Betroffenen Ergänzungsleistungen oder die Sozialhilfe gekürzt wurden. Beides wurde nachträglich gesetzlich berichtigt. Das Gesetz sichert Betroffenen zudem der einfache Zugang zu ihren Akten zu, und kantonale Anlaufstellen werden für Beratung und Unterstützung angeboten. Weiter enthält das Gesetz Bestimmungen zur Öffentlichkeitsarbeit sowie zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Letztere findet momentan im Rahmen des vom Bundesrat eingesetzten Nationalen Forschungsprogramms 76 „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76) statt.
Langzeitfolgen anerkennen
Der Eindruck lässt sich nicht ganz vermeiden, dass man auf politischer Ebene froh wäre, das Thema abzuhaken. Man hat sich bemüht, und nun ist auch mal gut. Wie jetzt bekannt wurde, reicht der Schatten der FSZM aber noch weiter. Bisher richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Direkt-Betroffenen der FSZM. Erkenntnisse aus der internationalen Forschung zu Transgenerationalität verweisen jedoch auf die Bedeutung der Familie im Hinblick auf die Weitergabe von sozialen Ungleichheiten, also von Status und Kapital, Verhaltensmustern und Belastungen der Eltern an die Kinder. Vor dem Hintergrund der lebenslangen Folgen für die Betroffenen stellt sich daher die Frage nach den Auswirkungen der FSZM auf deren Kinder.
Wie eine Studie nun erstmals zeigt, bleibt die Wirkmächtigkeit der FSZM bis in die nächste Generation bestehen. In der Zweitgeneration wiederholten sich ökonomische Prekarität, Stigmatisierungen, Traumatisierungen und damit verbundene soziale Abwertungen erneut, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Wie die Kindheiten der Eltern waren auch die der Nachkommen geprägt von Gewalt – sei es häusliche Gewalt zwischen den Eltern, aber auch körperliche, sexuelle und psychische Gewalt und Vernachlässigung, die gegen sie selbst gerichtet war. Gerade vor 1981 kam es zudem vor, dass die Nachkommen mit denselben Begründungen wie schon ihre Eltern selbst wieder fremdplatziert wurden. Gewalt und Armut beeinflussten wiederum die schulischen Leistungen und Bildungslaufbahnen der Nachkommen. So zogen sich Kindeswohlgefährdungen fort, die in der Erstgeneration mit der Fremdplatzierung und manchmal auch in den Herkunftsfamilien ihren Anfang genommen hatten.
Da in den Familien vielfach geschwiegen wurde, erfuhren die Nachkommen wenn überhaupt erst im Erwachsenenalter, was den Eltern widerfahren ist. Und erst durch die öffentliche Thematisierung realisieren sie, dass das Schicksal ihrer Familie kein individuelles ist, sondern sie Teil eines traumatischen Kollektivereignisses mit verheerender Tragweite sind. Selbstverständlich erlebten nicht alle Nachkommen traumatische Kindheiten, so wie nicht alle Betroffenen von FSZM Gewalt erlebten. Dennoch zeichnen die wissenschaftlichen Fakten ein frappantes Gesamtbild, das solche Ausflüchte nicht gelten lässt.
FSZM haben nicht nur eine historische Dimension, sondern wirken bis in die Gegenwart nach. Mit den Nachkommen haben wir es mit einer zusätzlichen Gruppe Betroffener zu tun. Trotz der nationalen Aufarbeitung ist die Thematik also keineswegs abgeschlossen. Doch in der Schweizer Öffentlichkeit finden die generationenübergreifenden Folgen der FSZM bisher keine Beachtung. Wegschauen ist aber keine Option mehr, bekannte auch Bundesrätin Sommaruga. Die Stimmen der Nachkommen sollten in die laufende öffentliche Aufarbeitung miteinbezogen werden. Nicht zuletzt, um einen Diskurs über die Möglichkeiten der Verhinderung einer betroffenen Drittgeneration anzustoßen und den unheilvollen Kreislauf endlich zu durchbrechen.
Gerne weise ich auf die Ausstellung „Vom Glück vergessen“ und deren Dokumentation hin – als weiterer Beitrag zur öffentlichen Aufarbeitung und Bewusstwerdung der Auswirkungen von FSZM bis heute > https://raetischesmuseum.gr.ch/de/ausstellungen/rueckschau-sonderausstellungen/Seiten/sonderausstellung_2020.aspx.
Danke für den Artikel.