Bis in die 1980er Jahre wurden in der Schweiz armutsbetroffene oder unangepasste Kinder, Jugendliche und Erwachsene fremdplatziert und administrativ versorgt. Die psychischen, sozialen und finanziellen Folgen währten ein Leben lang – und werden den Nachkommen weitergegeben.

  • Nadine Gautschi

    Nadine Gautschi ist Sozialwissenschaftlerin. Sie forscht und lehrt an der Berner Fachhochschule am Departement Soziale Arbeit. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den Folgen historisch bedingter politischer und sozialer Benachteiligung für marginalisierte Gruppen.

„Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landes­re­gie­rung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschul­di­gung.“ Mit diesen Worten rich­tete sich Bundes­rätin Simo­netta Somma­ruga im April 2013 an die Betrof­fenen fürsor­ge­ri­scher Zwangs­maß­nahmen (FSZM). Die Entschul­di­gung erfolgte nach Jahr­zehnten der weit­ge­henden gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Tabui­sie­rung der Thematik, und mehr als dreißig Jahre nachdem die gesetz­li­chen Bestim­mungen, welche die will­kür­li­chen behörd­li­chen Eingriffe ermög­licht hatten, neuge­staltet wurden.

Seit den 1990er Jahren sind offi­zi­elle Entschul­di­gungen und histo­ri­sche Kommis­sionen zuneh­mend Teil der Erin­ne­rungs­kultur in demo­kra­ti­schen Staaten geworden. Das Gedenken an die Opfer der Shoah hatte einen wegwei­senden Einfluss auf diese Entwick­lung. So kam es in verschie­denen Staaten wie Austra­lien, Kanada, Irland, Deutsch­land und Öster­reich in den letzten Jahr­zehnten zu öffent­li­chen Entschul­di­gungen und Aufar­bei­tungs­be­mü­hungen im Hinblick auf die Geschichte der Heim­erzie­hung und der damit verbun­denen Miss­hand­lung von Kindern.

Als erster Staat führte Austra­lien Mitte der 1990er Jahre Unter­su­chungen zu den syste­ma­ti­schen behörd­li­chen Kinds­weg­nahmen von Abori­gines durch, die sich zwischen 1910 und 1975 ereig­neten. In den meisten anderen Staaten setzte eine offi­zi­elle Aufar­bei­tung erst nach der Jahr­tau­send­wende ein. Die Aufar­bei­tungen zeigten, dass vor allem Kinder und Jugend­liche aus Fami­lien mit tiefem sozio-ökonomischen Status in Heimen und erzie­he­ri­schen Insti­tu­tionen versorgt wurden, und insbe­son­dere sexu­elle Gewalt sehr verbreitet war.

Repres­sive Sozialpolitik

In der Schweiz waren FSZM einge­bettet in die Sozi­al­po­litik des 19. und 20. Jahr­hun­derts. Diese charak­te­ri­sierte sich durch die Verschrän­kung von Hilfe mit sozialer Kontrolle. Inter­na­tio­nale Paral­lelen zeigen sich darin, dass auch in der Schweiz der sozio-ökonomische Status als Legi­ti­ma­tion für die ange­ord­neten Maßnahmen diente. So rich­teten sich FSZM gegen armuts­be­trof­fene Menschen, die den rigiden bürger­li­chen Fami­li­en­vor­stel­lungen nicht entspra­chen, zum Beispiel aufgrund eines als unkon­ven­tio­nell erach­teten Lebens­stils, Bildungs­ferne der Eltern, vorehe­li­cher Schwan­ger­schaft, oder der Verwitwung eines Eltern­teils. Bis in die 1980er Jahre wurden zahl­lose Kinder und Jugend­liche in streng geführte Heime und Pfle­ge­fa­mi­lien fremd­plat­ziert, sowie auf Bauern­höfen als Arbeits­kräfte einge­setzt (sog. Verdingkinder).

Dazu zählen auch Einwei­sungen von Jugend­li­chen und Erwach­senen in soge­nannte Zwangs­ar­beits­an­stalten, Erzie­hungs­heime, Jugend­heime, Psych­ia­trien, Straf­an­stalten oder andere, meist geschlos­sene Insti­tu­tionen. Zudem kam es zu Zwangs­me­di­ka­tionen, Zwangs­ste­ri­li­sa­tionen und Zwangs­ad­op­tionen. Zu den FZSM zählen auch die rassis­tisch moti­vierten Kinds­weg­nahmen in jeni­schen Fami­lien durch das Schweizer Jugend­hilfs­werk Pro Juven­tute. Das gesell­schaft­liche Ausmaß der FSZM war beträcht­lich. Schät­zungen zu Folge waren noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts zehn­tau­sende, wenn nicht sogar weit über hundert­tau­send Kinder und Jugend­liche außer­halb ihrer Fami­lien fremd­plat­ziert. Rechts­staat­lich scho­ckie­rend mutet an, dass gegen die behörd­li­chen Entscheide kein Einspruch bei einem Gericht oder einer Instanz außer­halb der Verwal­tung erhoben werden konnte. Die Neuge­stal­tung des Versor­gungs­rechts erfolgte 1981 auf inter­na­tio­nalen Druck im Zug der Umset­zung der Euro­päi­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion (EMRK), welche die Schweiz 1974 rati­fi­ziert hatte. Dank der EMRK standen nun jeder Person in der Schweiz Verfah­rens­rechte zu, welche die Behörden einhalten mussten.

Wie heute klar ist, haben viele Betrof­fene aufgrund der gewalt­vollen staat­li­chen Eingriffe in ihre Grund­rechte Trau­ma­ti­sches erlebt. Statt die Armut zu bekämpfen, bekämpfte der Staat die Armen. In der Fremd­plat­zie­rung wider­fuhr ihnen Abwer­tung in Form körper­li­cher und psychi­scher Gewalt, Lieb­lo­sig­keit und Demü­ti­gung. Sie wurden ausge­beutet, miss­han­delt, sexuell miss­braucht und litten unter der Tren­nung von ihren Familien.

Während ihre Kind­heiten durch eine behördlich-institutionelle Fremd­be­stim­mung geprägt waren, wurden sie nach der Entlas­sung aus den Maßnahmen allein gelassen. Viel­fach zeich­neten sich die weiteren Lebens­wege der Betrof­fenen durch Perspek­tiv­lo­sig­keit, erneute Stig­ma­ti­sie­rung und soziale Isola­tion aus. Sie gerieten in zuneh­mende Armut, weil ihnen eine gute Ausbil­dung verwehrt blieb, und früh gesund­heit­liche Probleme auftraten. Tragende soziale Netze fehlten, und es bestanden kaum Bezie­hungen zu den Eltern und Geschwis­tern. Geprägt durch diese sozialen Brüche und Platz­lo­sig­keiten und dem Bedürfnis nach einem Zuhause, grün­deten viele Betrof­fene früh eine eigene Familie, jedoch ohne die ökono­mi­schen und sozialen Ressourcen, um dieses eigene Zuhause zu gestalten. Deut­lich ist, dass die FSZM zur Aufrecht­erhal­tung der sozialen Ungleich­heiten führten, aus denen die Betrof­fenen kamen.

Gesell­schaft­liche Tabui­sie­rung und Aufarbeitung

Während Jahr­zehnten fand das Thema in einer brei­teren Öffent­lich­keit kaum Beach­tung, obwohl Betrof­fene sich seit den 1930er Jahren immer wieder kritisch zu den FSZM äußerten. Ihre gesell­schaft­liche Posi­tion und die massive soziale Stig­ma­ti­sie­rung begrenzten Möglich­keiten, sich zu einer Bewe­gung zusammen zu schließen und sich wirksam Gehör zu verschaffen. 1972 deckte eine Arti­kel­serie im Beob­achter die Kinds­weg­nahmen in jeni­schen Fami­lien durch die Pro Juven­tute auf. Diese stieß auf Unglauben und Wider­stand, Diffa­mie­rungs­vor­würfe wurden laut, und der Beob­achter verlor tausende Abonnent*innen. Der öffent­liche Druck führte jedoch schließ­lich dazu, dass die Pro Juven­tute das Projekt 1973 auflöste.

Erst in jüngerer Zeit gelangten FSZM dank der Initia­tive von Inter­es­sen­gruppen und Einzel­per­sonen wieder vermehrt in die Öffent­lich­keit. Diese Entwick­lung geht mit einer zuneh­menden gesell­schaft­li­chen Aner­ken­nung von Opfer­rechten und einer neuen Bewer­tung von Trauma­er­fah­rungen einher. Es entstanden Filme, Repor­tagen und Ausstel­lungen. Auch die Forschung begann sich zuneh­mend mit den Hinter­gründen der FSZM ausein­an­der­zu­setzen. Schließ­lich soli­da­ri­sierten sich einzelne Parlamentarier*innen und setzten sich für eine natio­nale Ausein­an­der­set­zung und Aufar­bei­tung der Thematik ein. Eine Erklä­rung für die im inter­na­tio­nalen Vergleich lang­an­hal­tende gesell­schaft­liche Tabui­sie­rung in der Schweiz wird darin gesehen, dass FSZM eine Geschichte über die Schweiz erzählen, die dem natio­nalen Narrativ des Erfolgs­mo­dells funda­mental wider­spricht. Zur Schweiz des 20. Jahr­hun­derts gehören nicht nur Wohl­stands­zu­wachs und der Ausbau des Wohl­fahrts­staats, sondern je nach sozialer Zuge­hö­rig­keit auch Diskri­mi­nie­rung und Rechtslosigkeit.

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Erst die Entschul­di­gung Somma­rugas 2013 markierte einen Wende­punkt. Nun kam die öffent­liche Aufar­bei­tung ins Rollen. Unter der Leitung des Bundes­amtes für Justiz wurde ein „runder Tisch“ einge­setzt, der in anspruchs­vollen Diskus­sionen mit Vertre­tungen von Betrof­fenen, des Bundes, der Kantone, von Gemeinden und weiteren invol­vierten Insti­tu­tionen wie Heimen, Kirchen und des Bauern­ver­bands die öffent­liche Aufar­bei­tung vorbe­rei­tete. Parallel erfolgte eine erste wissen­schaft­liche Bear­bei­tung durch die unab­hän­gige Exper­ten­kom­mis­sion UEK (2014-2019). 2014 lancierte der Unter­nehmer Guido Fluri, selbst Betrof­fener von FSZM, die „Wieder­gut­ma­chungs­in­itia­tive“. Die Volks­in­itia­tive forderte u. a. die Errich­tung eines Fonds in der Höhe von 500 Millionen Franken für schwer Betrof­fene von FSZM. Sie stieß auf breite Unter­stüt­zung in der Bevöl­ke­rung. Die Wieder­gut­ma­chungs­in­itia­tive wurde schließ­lich zugunsten eines Bundes­ge­setzes zurück­ge­zogen, das 2017 in Kraft trat. Auch das Bundes­ge­setz sieht finan­zi­elle Entschä­di­gungen für Betrof­fene vor, soge­nannte „Soli­da­ri­täts­bei­träge“. Wird ein entspre­chendes Gesuch gutge­heißen, erhalten sie einmalig 25‘000 Franken.

Vielen Betrof­fenen geht dies zu wenig weit. Diese Ansicht teilt die UEK. In ihrem Schluss­be­richt hält sie fest, dass die Soli­da­ri­täts­bei­träge erst als Anfang der Reha­bi­li­ta­tion betrachtet werden müssten. Sie schlägt weitere Finanz­hilfen vor, wie zum Beispiel die Steu­er­be­freiung bei Steu­er­schulden, oder einen Hilfs­fonds für nicht versi­cherte Gesund­heits­kosten. Der Bund bekräf­tigte, die Empfeh­lungen der UEK zu prüfen, konkrete Schritte blieben bisher aller­dings aus. Wie Schläge ins Gesicht der Betrof­fenen mutet es statt­dessen an, dass die Frist zur Einrei­chung eines Gesuchs ursprüng­lich nur bis März 2018 bestand, und den Betrof­fenen kaum Zeit ließ, sich zu melden. Danach wurde bekannt, dass der Soli­da­ri­täts­bei­trag dazu führen kann, dass Betrof­fenen Ergän­zungs­leis­tungen oder die Sozi­al­hilfe gekürzt wurden. Beides wurde nach­träg­lich gesetz­lich berich­tigt. Das Gesetz sichert Betrof­fenen zudem der einfache Zugang zu ihren Akten zu, und kanto­nale Anlauf­stellen werden für Bera­tung und Unter­stüt­zung ange­boten. Weiter enthält das Gesetz Bestim­mungen zur Öffent­lich­keits­ar­beit sowie zur wissen­schaft­li­chen Aufar­bei­tung. Letz­tere findet momentan im Rahmen des vom Bundesrat einge­setzten Natio­nalen Forschungs­pro­gramms 76 „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76) statt.

Lang­zeit­folgen anerkennen

Der Eindruck lässt sich nicht ganz vermeiden, dass man auf poli­ti­scher Ebene froh wäre, das Thema abzu­haken. Man hat sich bemüht, und nun ist auch mal gut. Wie jetzt bekannt wurde, reicht der Schatten der FSZM aber noch weiter. Bisher rich­tete sich die öffent­liche Aufmerk­sam­keit auf die Direkt-Betroffenen der FSZM. Erkennt­nisse aus der inter­na­tio­nalen Forschung zu Trans­ge­ne­ra­tio­na­lität verweisen jedoch auf die Bedeu­tung der Familie im Hinblick auf die Weiter­gabe von sozialen Ungleich­heiten, also von Status und Kapital, Verhal­tens­mus­tern und Belas­tungen der Eltern an die Kinder. Vor dem Hinter­grund der lebens­langen Folgen für die Betrof­fenen stellt sich daher die Frage nach den Auswir­kungen der FSZM auf deren Kinder.

Wie eine Studie nun erst­mals zeigt, bleibt die Wirk­mäch­tig­keit der FSZM bis in die nächste Gene­ra­tion bestehen. In der Zweit­ge­ne­ra­tion wieder­holten sich ökono­mi­sche Preka­rität, Stig­ma­ti­sie­rungen, Trau­ma­ti­sie­rungen und damit verbun­dene soziale Abwer­tungen erneut, wenn auch in unter­schied­li­chem Ausmaß. Wie die Kind­heiten der Eltern waren auch die der Nach­kommen geprägt von Gewalt – sei es häus­liche Gewalt zwischen den Eltern, aber auch körper­liche, sexu­elle und psychi­sche Gewalt und Vernach­läs­si­gung, die gegen sie selbst gerichtet war. Gerade vor 1981 kam es zudem vor, dass die Nach­kommen mit denselben Begrün­dungen wie schon ihre Eltern selbst wieder fremd­plat­ziert wurden. Gewalt und Armut beein­flussten wiederum die schu­li­schen Leis­tungen und Bildungs­lauf­bahnen der Nach­kommen. So zogen sich Kindes­wohl­ge­fähr­dungen fort, die in der Erst­ge­ne­ra­tion mit der Fremd­plat­zie­rung und manchmal auch in den Herkunfts­fa­mi­lien ihren Anfang genommen hatten.

Da in den Fami­lien viel­fach geschwiegen wurde, erfuhren die Nach­kommen wenn über­haupt erst im Erwach­se­nen­alter, was den Eltern wider­fahren ist. Und erst durch die öffent­liche Thema­ti­sie­rung reali­sieren sie, dass das Schicksal ihrer Familie kein indi­vi­du­elles ist, sondern sie Teil eines trau­ma­ti­schen Kollek­ti­v­e­reig­nisses mit verhee­render Trag­weite sind. Selbst­ver­ständ­lich erlebten nicht alle Nach­kommen trau­ma­ti­sche Kind­heiten, so wie nicht alle Betrof­fenen von FSZM Gewalt erlebten. Dennoch zeichnen die wissen­schaft­li­chen Fakten ein frap­pantes Gesamt­bild, das solche Ausflüchte nicht gelten lässt.

FSZM haben nicht nur eine histo­ri­sche Dimen­sion, sondern wirken bis in die Gegen­wart nach. Mit den Nach­kommen haben wir es mit einer zusätz­li­chen Gruppe Betrof­fener zu tun. Trotz der natio­nalen Aufar­bei­tung ist die Thematik also keines­wegs abge­schlossen. Doch in der Schweizer Öffent­lich­keit finden die gene­ra­tio­nen­über­grei­fenden Folgen der FSZM bisher keine Beach­tung. Wegschauen ist aber keine Option mehr, bekannte auch Bundes­rätin Somma­ruga. Die Stimmen der Nach­kommen sollten in die laufende öffent­liche Aufar­bei­tung mitein­be­zogen werden. Nicht zuletzt, um einen Diskurs über die Möglich­keiten der Verhin­de­rung einer betrof­fenen Dritt­ge­ne­ra­tion anzu­stoßen und den unheil­vollen Kreis­lauf endlich zu durchbrechen.