Die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln haben eine Debatte über das Thema sexuelle Belästigung angestossen. Doch es braucht eine Debatte über Sexismus. Ein Plädoyer.

Zuzie­hende Personen werden in der Schweiz will­kommen geheissen. Zum Beispiel von den Banken. Die Credit Suisse etwa weiss, „aller Anfang muss nicht schwer sein“, und bietet deshalb allen, die sich entschlossen haben, in der Schweiz zu leben, ihre Unter­stüt­zung an (sofern sie ange­meldet sind). In diesem Sinne ist auch die Infor­ma­ti­ons­bro­schüre „Will­kommen in der Schweiz“ zu verstehen, heraus­ge­geben vom Bundesamt für Migra­tion, die den Start für alle neu Zuzie­henden erleich­tern soll. Das ist richtig und wichtig. Denn jeder und jede sollte wissen, dass Chan­cen­gleich­heit und Respekt (gegen­sei­tiger Respekt) in der Schweiz erwartet werden. Denn niemand darf hier­zu­lande wegen seiner Herkunft, seines Geschlechts, seiner Reli­gion oder sexu­ellen Ausrich­tung diskri­mi­niert werden. Das garan­tieren die Grund­rechte in der Schweiz, wie es in der genannten Infor­ma­ti­ons­schrift heisst.

Da das Bundesamt für Migra­tion diese Broschüre für neu Zuzie­hende entwi­ckelt hat (in zwölf Spra­chen) und nicht für Schweizer Staats­bürger, ist anzu­nehmen, dass Letz­tere diese Grund­rechte kennen und danach leben. Wenn wir als Zuge­zo­gene – ich gehöre seit vier Jahren auch dazu – das nicht in jedem Fall erkennen, ist das womög­lich ein Wahr­neh­mungs­pro­blem, viel­leicht eine Sache des „Kultur­kreises“ (der Begriff fällt derzeit ja öfter). Vorei­lige Schlüsse sollten wir jeden­falls nicht ziehen. Meine Devise als Zuge­zo­gene ist: lieber noch einmal nach­denken, damit es nicht zu unnö­tigen Miss­ver­ständ­nissen kommt. Denn womög­lich ist es uns Zuge­zo­genen ja nur nicht gelungen, die Gesten des Respekts und sogar des Will­kom­mens, die uns in der Schweiz entge­gen­ge­bracht werden, sofort als solche zu entschlüsseln.

Mir ging es vermut­lich so, als eine bekannte deutsch­spra­chige Schweizer Wochen­zeit­schrift im Oktober 2014 ein Foto von mir gross auf ihrer Front­seite druckte! Ich bin seiner­zeit erschro­cken und fand es aggressiv. Doch ist es nicht auch möglich, frage ich Sie, dass es sich bei der Abbil­dung meines Fotos auf der Titel­seite um eine sehr spezi­fi­sche Form der Will­kom­mens­kultur in der Schweiz handelte? Zwar kam die Begrüs­sung etwas spät (immerhin waren bereits zwei­ein­halb Jahre nach meiner Ankunft vergangen). Aber es kommen ja auch viele; da kann schon einmal etwas Zeit vergehen. Aller­dings: Auf eben dieser Front­seite war auch ein Foto von meinem Partner abge­bildet, und das in der glei­chen Grösse wie meines. Das bringt mich dann doch wieder auf eine andere Idee: Könnte es sich um einen Versuch gehan­delt haben, für jeden neu Zuge­zo­genen die Gleich­stel­lung von Mann und Frau ins Bild zu setzen, die seit dem Jahr 1981 in der Bundes­ver­fas­sung der Schweiz veran­kert ist? Oder mag es sogar sein, dass diese Zeit­schrift das Anliegen hatte, durch ihre Möglich­keit der visu­ellen Darstel­lung auf krea­tive und subtile Weise zur Bekämp­fung des Sexismus beizu­tragen? Ich habe gelesen, dass die Schweiz im Jahr 1997 das Über­ein­kommen zur Besei­ti­gung jeder Form von Diskri­mi­nie­rung der Frau (von der UN-Generalversammlung 1979 beschlossen) unter­zeichnet hat und dieses seither in Kraft ist. Auch die Schweiz hat sich damit etwa verpflichtet, „alle geeig­neten Mass­nahmen“ zu ergreifen, „um einen Wandel in den sozialen und kultu­rellen Verhal­tens­mus­tern von Mann und Frau zu bewirken“, um auf diese Weise Vorur­teile oder auch Prak­tiken zu besei­tigen, die „auf der Vorstel­lung von der Unter­le­gen­heit oder Über­le­gen­heit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereo­typen Rollen­ver­tei­lung von Mann und Frau beruhen“.

Doch Schluss mit dem Gedan­ken­spiel. Seit den Über­griffen in der Silves­ter­nacht in Köln und in anderen Städten ist von jenen, die in den hiesigen Medien den Anschein erwe­cken, als würden Schweizer (und viel­leicht auch andere Mittel­eu­ro­päer) weder sexu­ellen Miss­brauch, noch sexu­elle Beläs­ti­gung und auch keine anderen Formen der Geschlech­ter­dis­kri­mi­nie­rung ausüben, genug Augen­wi­scherei betrieben worden. Tatsäch­lich täte es der Schweiz gut, wenn über den Sexismus im eigenen Land stärker öffent­lich nach­ge­dacht würde, womit es im Übrigen nicht nur um die sexu­elle Beläs­ti­gung von Frauen ginge. Es ginge auch um die sexu­elle Beläs­ti­gung von Männern, von Mädchen oder von Jungen, um die Diskri­mi­nie­rung von Menschen, die sich nicht zu den Heteros zählen, etc. Die immer wieder hörbaren Aufschreie von Männern wie von Frauen, die so tun (und selber vermut­lich auch glauben), es ginge beim Thema Sexismus nur um eine über­zo­gene Empfind­lich­keit von Frauen oder ein Kampf­ge­heul, das Männer pauschal als Täter verur­teile und Frauen gene­rell zum Opfer mache, müsste dann endlich verstummen. Eine Diskus­sion über Sexismus kann und muss sich gegen derar­tige Verein­heit­li­chungen sperren. Denn die Kontexte, in denen Sexismus statt­findet, sind verschieden, Macht­kon­stel­la­tionen können durchaus komplex sein, ebenso die prak­ti­zierten Diskriminierungs- und Gewalt­formen. Nehmen wir uns doch einmal Zeit, über all das ernst­haft zu spre­chen, und dabei nicht nur die sexu­elle, physi­sche Gewalt als Problem zu sehen. Auch Sexismus, der nicht direkt körper­lich ausgeübt wird, ist keine Lapalie.

Ich hätte dafür ein Beispiel, und komme noch einmal auf den Oktober 2014 zurück, in dem das erwähnte Foto von mir auf der Front­seite der Welt­woche erschien. Diese gibt bis heute vor, mich mit ihrer Arti­kel­serie gar nicht atta­ckiert, diffa­miert oder herab­ge­setzt zu haben. Hat sie aber, und das gezielt. Denn ihre Story, die behauptet, Philipp Sarasin hätte als Mitglied der Beru­fungs­kom­mis­sion in den Ausstand treten müssen, weil wir früher angeb­lich eine Liebes­be­zie­hung gehabt hätten (was nicht wahr ist), funk­tio­niert medial als Skandal nur dann, wenn ich als Frau möglichst inkom­pe­tent darge­stellt werde. Also macht man sich im Artikel am besten lustig über meine Disser­ta­tion, erwähnt erst gar nicht, dass ich eine Habi­li­ta­tion verfasst habe und das daraus hervor­ge­gan­gene Buch mehr­fach ausge­zeichnet wurde. Diffa­mie­rung und Herab­set­zung mittels Worten und Bildern also. Am Ende soll der Eindruck stehen, dass es diese Frau nun wirk­lich nur als „Geliebte des Profes­sors“ (O-Ton Welt­woche) und aufgrund einer „bezie­hungs­kor­rupten Verstri­ckung“ zur begehrten Professur geschafft hat. Im zweiten Artikel vom 10. Oktober 2014 wurde das entspre­chend ekel­haft illus­triert: Unter einem Foto von mir heisst es: „Körper der Nation: Prof. Svenja Golter­mann“. Um ihrer substanz­losen Geschichte Gehör zu verschaffen, ist sich die Welt­woche nicht zu schade gewesen, eines der billigsten, nieder­träch­tigsten Stereo­type zu spielen, die es gibt: Frauen machen Karriere, indem sie mit einem Mann ins Bett gehen, der auf der Karrie­re­leiter höher steht.

Das ist Sexismus. Und es handelt sich nicht um eine Lapalie. Es wäre falsch anzu­nehmen, man könne diese Artikel der Welt­woche als effekt­loses Gerede abtun. Sie hatten Effekte – und dafür musste die Welt­woche nicht einmal einen einzigen substan­zi­ellen Beleg liefern. Denn es gibt eine Reso­nanz­be­reit­schaft für diese Form von Sexismus: Tele-Züri etwa skan­da­li­sierte nach dem glei­chen Muster wie die Welt­woche weiter und legte nahe, eine Profes­sorin der Univer­sität Zürich habe sich ihre Stelle durch Sex erschli­chen. Ebenso umge­hend kursierte über Twitter „hori­zon­tale Karriere als Geliebte von Prof. Sarasin von der UZH“; und es wurde gehetzt: „Ich würde behaupten, jede zweite Ober­as­sis­tentin an der UZH ist die Geliebte vom Professor“. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass niemand an diesen sexis­ti­schen, herab­wür­di­genden Sprü­chen Gefallen gefunden hätte. Es ist nach­weis­lich anders. Wenn man dann auch noch in die Nähe von Bill Clinton und Monica Lewinsky gerückt wird und andere sich an der Gerüch­te­küche betei­ligen, die sich über Wochen damit aufhält, entweder noch zu speku­lieren, ob die „beiden wohl was mitein­ander hatten“ oder es sogar längst zu wissen glauben, dann kann ich nicht umhin zu sagen: die sexis­ti­sche Stra­tegie hat Wirkung gezeigt. Hier inmitten der Schweiz. Es ist im Übrigen ein Sexismus, der nicht nur mich als Frau diffa­miert, sondern auch meinen Partner als Mann.

Warum ich das erst jetzt alles sage? Ich kann Ihnen versi­chern, es braucht Zeit, bis man nach solch nieder­träch­tigen Diffa­mie­rungen – man kann dazu auch sagen: Schlägen unter die Gürtel­linie – wieder richtig auf den Beinen steht. Denn auch diese Art des Sexismus ist eine Form der Gewalt. Und deshalb ist er keine Lapalie.