Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 fordert die Gleichstellung von Menschen mit (geistiger) Behinderung auf völkerrechtlicher Ebene. Doch diese Gleichheit wird in der Praxis beständig unterminiert. Das betrifft auch die spezifische Wissens- und Erfahrungsperspektive von Menschen mit geistiger Behinderung. Solange sie als epistemische Subjekte nicht ernst genommen werden, bleibt ihre Schlechterstellung und Marginalisierung in der Gesellschaft bestehen. Konkret lässt sich das an Diskriminierungen ablesen – nicht nur im Recht, sondern auch in der Politik, am Arbeitsmarkt, in Wohneinrichtungen oder im Bildungswesen.
Dass die Gleichheit von Menschen mit geistiger Behinderung ein uneingelöstes Versprechen ist, und zwar auch auf einer epistemischen, das heißt das Wissen betreffenden Ebene, zeigte kürzlich ein Fall, über den die taz berichtete. Sonja M. (Name geändert), eine Frau mit kognitiver Beeinträchtigung, arbeitet in einer sogenannten „Behindertenwerkstatt“. Sie erstattete gegen ihren Vorgesetzten Anzeige wegen sexualisierter Gewalt, doch die Berliner Staatsanwaltschaft verfolgte die Anzeige nicht weiter, weil die Aussagefähigkeit von Sonja M. angeblich zweifelhaft sei. Sie nahm, mit anderen Worten, das Zeugnis von Sonja M. und damit ihre Wissensperspektive nicht ernst – überdies gestützt auf ein mit fachlichen Mängeln behafteten Gutachten. Die Anwältin der Klägerin hat Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin eingereicht, die dort noch anhängig ist.
Ableismus und Wissensgerechtigkeit
In mehrfacher Hinsicht illustriert dieses Beispiel, wie tiefsitzend der ‚Ableismus‘ (von able=fähig), also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, in unserer Gesellschaft ist. Die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung – wie sie auch die von Deutschland ratifizierte Behindertenrechtskonvention festschreibt – harrt in der juristischen Praxis der Verwirklichung. In ihrer Geltungskraft beschränkt bleiben im beschriebenen Fall das Recht auf Rechtsschutz, das Recht auf gleiches Gehör und überhaupt die Möglichkeit, von grundlegenden Rechten Gebrauch zu machen.
Jenseits der rechtlichen Dimension kristallisiert sich am Beispiel von Sonja M. aber eine umfassendere Problemlage und strukturelle Schlechterstellung in Sachen Wissensgerechtigkeit heraus, der Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Menschen mit Behinderung sind besonders oft von (sexualisierter) Gewalt betroffen. Wenig überraschend wird ebenso oft die Glaubwürdigkeit der Aussagen eines vermutlichen Opfers angezweifelt, was gemäß der ableistischen Logik natürlich konsistent ist. Denn Ungerechtigkeiten gegenüber sozial marginalisierten Gruppen sind in aller Regel nicht eindimensional verfasst, sondern wirken auf mehreren verschränkten Achsen. Sie manifestieren sich zum Beispiel auf ökonomischer Ebene, indem Angestellte von Werkstätten für Menschen mit Behinderung weit unter dem Mindestlohn verdienen, sie wirken aber auch in Form von erschwerten politischen Partizipationsmöglichkeiten und zudem über Normen und stereotypisierende Denkbilder, die kulturell kursieren und implizit abwertende Urteile transportieren – etwa, wenn Menschen mit Behinderung infantilisiert oder mit Tieren verglichen werden.
Die einflussreiche amerikanische Politologin Iris Marion Young hat 1990 zur Erfassung der Multidimensionalität von Diskriminierungsdynamiken das Analyseschema der „fünf Gesichter der Unterdrückung“ entwickelt. Darunter fasst sie (1.) materielle Ausbeutung, (2.) gesellschaftliche Marginalisierung, (3.) politische Machtlosigkeit, (4.) kulturellen Imperialismus und (5.) Unterwerfung in Form psychischer und physischer Gewalt. Diese Aufschlüsselung sollte durch diejenige der „epistemischen Ungerechtigkeiten“ ergänzt werden. Es handelt sich dabei um eine Konzeption, die Philosophin Miranda Fricker entscheidend geprägt hat. Sie unterscheidet zwei Ausprägungen dieser Form von Unrecht: „Testimoniale Ungerechtigkeiten“ sind dann am Werk, wenn Angehörige sozial stigmatisierter Gruppen in ihrer Glaubwürdigkeit angezweifelt werden und ihr Zeugnis systematisch weniger ernst genommen wird als dasjenige von Angehörigen sozial dominanter Gruppen. „Hermeneutische Ungerechtigkeiten“ benennen indes die Unmöglichkeit, spezifische Diskriminierungserfahrungen ausdrücken zu können, weil die begrifflichen Ressourcen oder das Vokabular dafür fehlen – auf Seiten der Betroffenen ebenso wie auf Seiten der Gesellschaft.
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind von beiden Formen epistemischer Ungerechtigkeit betroffen. Sonja M.s Beispiel verdeutlicht, wie ihr Zeugnis aufgrund ihrer Behinderung darin verstellt ist, angemessen gehört und berücksichtigt zu werden. Solche testimonialen Ungerechtigkeiten müssen auf Seiten der Akteure – wie hier der Staatsanwaltschaft – nicht unbedingt beabsichtigt sein. Sie können auch unbewussten Vorurteilen und biases geschuldet sein, die untergründig einen Einfluss haben und auf strukturell verwurzelte Deutungsschemata verweisen. Gleichzeitig betreffen auch hermeneutische Ungerechtigkeiten Menschen mit geistiger Behinderung, wenn eine ableistische Gesellschaftsordnung die Möglichkeit wechselseitiger Kommunikation verhindert.
Die „loopinghafte“ Struktur von epistemischen Ungerechtigkeiten
Es ist wichtig, auf die besondere epistemische Vulnerabilität von Menschen mit Behinderung genau zu achten, weil dadurch ihre Diskriminierung und Schlechterstellung in anderen sozialen Sphären besser verstehbar wird. Sally Haslanger hat für die Wechselwirkung und gegenseitige Bekräftigung von – auch stereotypisierenden – Denkbildern und Normen mit der sozialen Wirklichkeit den Begriff der „loopiness“ geprägt. Sie schreibt: „Wir reagieren auf die Welt, die so gestaltet wurde, dass sie genau diese Reaktionen auslöst, ohne dass wir uns dieser Gestaltung bewusst sind, so dass unsere Reaktionen durch die Art und Weise, wie die Welt ist, bedingt zu sein scheinen.“ Mit anderen Worten, der Zweifel an den epistemischen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen wurzelt nicht in „natürlichen“ Gegebenheiten oder intendierten Abwertungen. Vielmehr ist er von der Art und Weise geprägt, wie gesellschaftliche Barrieren und Strukturen Menschen mit Behinderung auf eine prekäre Existenz am gesellschaftlichen Rand festlegen und sie als „behindert“ subjektivieren, statt sie als gleiche Personen im vollen Sinn des Wortes anzuerkennen.
Wenn ihnen dann mit einem paternalistischen und infantilisierenden Habitus begegnet wird (die vernehmende Person hat Sonja M. z.B. geduzt), bestätigt die Reaktion auf eine solche Behandlung scheinbar einfach nur die vorgeprägten Schemata. Sonja M. ist nach einer mehrstündigen Vernehmung in Tränen ausgebrochen. Eine kulturell tradierte und strukturell verfestigte Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen als infantil, nicht im vollen Sinn rational oder manipulierbar und unglaubwürdig schreibt so in einer looping-haften Struktur gesellschaftliche Exklusionen fort, etwa in Werkstätten oder Wohneinrichtungen. Ausgrenzungen und Marginalisierungen im alltäglichen Leben tragen selbst wieder zur Affirmation der vorurteilsbeladenen Denkbilder bei.
Solche rückkoppelnden und konsolidierenden loops zwischen strukturell manifesten Wahrnehmungen davon, wie die Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen sind, und entsprechenden gesellschaftlichen Praktiken sowie dem Agieren von Institutionen gelten übrigens nicht nur für ableistische Diskriminierungen, sondern auch für geschlechts-, race– oder auf Klasse bezogene. Imaginäre Konstellationen, also in einer Gesellschaft wirksame Deutungen und Interpretationen über die Mitglieder von vulnerablen Gruppen, hegen einen kollektiven Vorstellungshorizont ein und machen manches denkbar, klammern anderes aber aus dem Raum des Möglichen aus. Unvorstellbar wird dadurch etwa, dass Sonja M. sehr wohl dazu in der Lage ist, die ihr widerfahrende sexuelle Gewalt zum Ausdruck zu bringen, würden sie die Gutachter*innen und Staatsanwält*innen entsprechend ernst nehmen. Und auch wenn bei manchen Menschen mit geistigen Behinderungen tatsächlich verbale Artikulationsschwierigkeiten bestehen, erfordert ein nicht-ableistischer Umgang gerade deswegen einen besonders sorgfältigen Umgang mit ihrem Zeugnis und ihren Kommunikationsmöglichkeiten.
Eine be-hindernde Wirklichkeit
Ableismus ist wohl deswegen so beharrlich in unserer Gesellschaft am Werk, weil er in den Köpfen der Menschen (wenn auch oft unbewusst) genauso wirkt wie in materieller und gesellschaftlich-struktureller Hinsicht, durch kommunikative Barrieren im Alltag und durch institutionelle Stigmatisierung. Ein gegenseitig sich verstärkender Effekt im Zusammenspiel dieser Elemente konsolidiert eine Wirklichkeit, die manche Menschen tatsächlich be-hindert, ausgrenzt, abwertet und unhörbar macht.
Emanzipatorische Transformationen dieser Realität, die ableistische Strukturen durchkreuzen, sind auf loops verwiesen, die den Teufelskreis von epistemischen Abwertungen, stereotypisierten normativen Denkbildern und ihrer Sedimentierung in gesellschaftlichen Praktiken aufbrechen und umkehren. Die Schaffung einer anderen, inklusiven Realität lebt davon, Menschen mit Behinderung nicht in paternalistischer Manier als passive Fürsorgeempfänger*innen zu sehen, sondern sie als Akteure mit einer spezifischen Perspektive anzuerkennen. Damit sie ihre Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen können (was die UN-BRK explizit fordert), sind institutionelle Arrangements vonnöten, die sie nicht von Vornherein mit dem Schema des Defizitären belegen, sondern ihnen epistemische Gerechtigkeit widerfahren lassen. Im Fall von Sonja M. würde das bedeuten, dass ein Gutachten mit entsprechender Expertise angefertigt wird und ihr der Raum eröffnet wird, ihre Aussage angemessen und mit der nötigen Unterstützung und den dafür erforderlichen (kommunikativen) Ressourcen vorzubringen.
Schritte hin zu epistemischer Gerechtigkeit
Die feministische Philosophin Louise Antony hat für das Aufbrechen von strukturellen epistemischen Ungerechtigkeiten gegenüber sozial diskriminierten Gruppen epistemische „affirmative actions“ gefordert. Diese umreißen die Forderung, die Aussagen von Angehörigen stigmatisierter Gruppen nicht vorschnell zu beurteilen, sondern zunächst das eigene Vorverständnis und die eigenen biases zu hinterfragen. Aus Sicht der beteiligten Personen bei der Berliner Staatsanwaltschaft könnte das heißen, selbstkritisch darauf zu reflektieren, ob nicht ableistische Stereotype die Situation rahmen und Vor-Urteile Einfluss auf Sonja M.s Möglichkeit dafür ausüben, umfassend und angstfrei Zeugnis ablegen zu können. Die Forderung der gesellschaftlichen Gleichstellung für Menschen mit Behinderung ist ohne ein angemessenes epistemisches Gehör nicht vorstellbar. Das heißt auch, dass Kommunikation in leichter Sprache verfügbar sein und andere unterstützende Kommunikationsformen ermöglicht werden müssen.
Damit sind aber nur die ersten kleinen Schritte auf dem Weg zu einem radikalen Aufbrechen von Ableismus angesprochen. Denn Menschen mit geistiger Behinderung als Gleiche anzuerkennen, würde letzten Endes bedeuten, dass wir der Attribuierung „mit geistiger Behinderung“ oder einer anderen Benennung zur Kennzeichnung der sozialen Stigmatisierung nicht mehr bedürften. Es würde auch heißen, diese Menschen nicht vornehmlich als vulnerabel und bedürftig zu sehen, sondern ihre Beiträge und Perspektiven als Bereicherung und epistemischen Gewinn zu schätzen. Denn mit den beständigen Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen geht tragischerweise ein epistemisches Privileg einher: Niemand weiß so gut Bescheid über die Probleme und Wirrungen in rehabilitativen Einrichtungen oder Behindertenwerkstätten wie diejenigen, die dort einen Großteil ihres Lebens verbringen. Und niemand hat so einen differenzierten Einblick in die gesellschaftliche Wirkmacht von Normen der „Normalität“ wie diejenigen, die sich jenseits ihres engen Geltungsbereiches befinden.
Damit allerdings die (epistemischen) Perspektiven von Menschen mit geistiger Behinderung wirksam werden können, muss das Aufbrechen von eingespielten marginalisierenden Denkweisen mit materiellen und politischen Veränderungen einhergehen: Mehr und qualifiziertes Personal für Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, eine angemessene Entlohnung für Pflegende oder die Prävention von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung stehen exemplarisch für dringenden politischen Handlungsbedarf.
Bei einer Informationsveranstaltung zur Möglichkeit sexueller Übergriffe an Frauen mit geistiger Behinderung wurde uns (Eltern / gesetzlichen Betreuerinnen) explizit davon abgeraten, Anzeige zu erstatten mit der Begründung, das brächte zusätzliche Traumata mit sich und sei sowieso erfolglos. Ungefragt geduzt werden, ins Gesicht gefasst und ungefragt umarmt werden, all das habe ich mit meiner Tochter, die eine geistige Behinderung (und ja, ich verwende das Wort bewusst, weil es auch die Tatsache des gesellschaftlichen und strukturellen Behindertwerdens umfasst) erlebt. Epidemische Ungerechtigkeit sowieso, besonders jetzt, da sie erwachsen und im Arbeitsleben (Werkstatt für Menschen mit Behinderung) ist und in einer Wohngemeinschaft lebt. Die… Mehr anzeigen »