Menschen mit geistigen Behinderungen werden nicht nur materiell und sozial diskriminiert, sondern auch, indem sie gesellschaftlich nicht als vollwertige Personen gelten. Ihre Inklusion erfordert zusätzlich zum Aufbrechen von physischen und strukturellen Barrieren die Gleichheit als Wissenssubjekte.

  • Regina Schidel

    Regina Schidel wurde 2022 im Fach Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit zu „Relationalität der Menschenwürde. Zum gerechtigkeitstheoretischen Status von Menschen mit geistiger Behinderung“ promoviert. Zurzeit ist die PostDoc im Projekt „ConTrust – Vertrauen im Konflikt“ am Forschungszentrum Normative Ordnungen Frankfurt und arbeitet dort zu epistemischen Ausschlüssen und marginalisierten Wissensbeständen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 fordert die Gleich­stel­lung von Menschen mit (geis­tiger) Behin­de­rung auf völker­recht­li­cher Ebene. Doch diese Gleich­heit wird in der Praxis beständig unter­mi­niert. Das betrifft auch die spezi­fi­sche Wissens- und Erfah­rungs­per­spek­tive von Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung. Solange sie als epis­te­mi­sche Subjekte nicht ernst genommen werden, bleibt ihre Schlech­ter­stel­lung und Margi­na­li­sie­rung in der Gesell­schaft bestehen. Konkret lässt sich das an Diskri­mi­nie­rungen ablesen – nicht nur im Recht, sondern auch in der Politik, am Arbeits­markt, in Wohn­ein­rich­tungen oder im Bildungswesen. 

Dass die Gleich­heit von Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung ein unein­ge­löstes Verspre­chen ist, und zwar auch auf einer epis­te­mi­schen, das heißt das Wissen betref­fenden Ebene, zeigte kürz­lich ein Fall, über den die taz berich­tete. Sonja M. (Name geän­dert), eine Frau mit kogni­tiver Beein­träch­ti­gung, arbeitet in einer soge­nannten „Behin­der­ten­werk­statt“. Sie erstat­tete gegen ihren Vorge­setzten Anzeige wegen sexua­li­sierter Gewalt, doch die Berliner Staats­an­walt­schaft verfolgte die Anzeige nicht weiter, weil die Aussa­ge­fä­hig­keit von Sonja M. angeb­lich zwei­fel­haft sei. Sie nahm, mit anderen Worten, das Zeugnis von Sonja M. und damit ihre Wissens­per­spek­tive nicht ernst – über­dies gestützt auf ein mit fach­li­chen Mängeln behaf­teten Gutachten. Die Anwältin der Klägerin hat Verfas­sungs­be­schwerde beim Landes­ver­fas­sungs­ge­richtshof Berlin einge­reicht, die dort noch anhängig ist.  

Ableismus und Wissensgerechtigkeit

 In mehr­fa­cher Hinsicht illus­triert dieses Beispiel, wie tief­sit­zend der ‚Ableismus‘ (von able=fähig), also die Diskri­mi­nie­rung von Menschen mit Behin­de­rung, in unserer Gesell­schaft ist. Die recht­liche Gleich­stel­lung von Menschen mit Behin­de­rung – wie sie auch die von Deutsch­land rati­fi­zierte Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion fest­schreibt – harrt in der juris­ti­schen Praxis der Verwirk­li­chung. In ihrer Geltungs­kraft beschränkt bleiben im beschrie­benen Fall das Recht auf Rechts­schutz, das Recht auf glei­ches Gehör und über­haupt die Möglich­keit, von grund­le­genden Rechten Gebrauch zu machen.

Jenseits der recht­li­chen Dimen­sion kris­tal­li­siert sich am Beispiel von Sonja M. aber eine umfas­sen­dere Problem­lage und struk­tu­relle Schlech­ter­stel­lung in Sachen Wissens­ge­rech­tig­keit heraus, der Menschen mit kogni­tiven und psychi­schen Beein­träch­ti­gungen ausge­setzt sind. Menschen mit Behin­de­rung sind beson­ders oft von (sexua­li­sierter) Gewalt betroffen. Wenig über­ra­schend wird ebenso oft die Glaub­wür­dig­keit der Aussagen eines vermut­li­chen Opfers ange­zwei­felt, was gemäß der ableis­ti­schen Logik natür­lich konsis­tent ist. Denn Unge­rech­tig­keiten gegen­über sozial margi­na­li­sierten Gruppen sind in aller Regel nicht eindi­men­sional verfasst, sondern wirken auf mehreren verschränkten Achsen. Sie mani­fes­tieren sich zum Beispiel auf ökono­mi­scher Ebene, indem Ange­stellte von Werk­stätten für Menschen mit Behin­de­rung weit unter dem Mindest­lohn verdienen, sie wirken aber auch in Form von erschwerten poli­ti­schen Parti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­keiten und zudem über Normen und stereo­ty­pi­sie­rende Denk­bilder, die kultu­rell kursieren und implizit abwer­tende Urteile trans­por­tieren – etwa, wenn Menschen mit Behin­de­rung infan­ti­li­siert oder mit Tieren vergli­chen werden. 

Die einfluss­reiche ameri­ka­ni­sche Poli­to­login Iris Marion Young hat 1990 zur Erfas­sung der Multi­di­men­sio­na­lität von Diskri­mi­nie­rungs­dy­na­miken das Analy­se­schema der „fünf Gesichter der Unter­drü­ckung“ entwi­ckelt. Darunter fasst sie (1.) mate­ri­elle Ausbeu­tung, (2.) gesell­schaft­liche Margi­na­li­sie­rung, (3.) poli­ti­sche Macht­lo­sig­keit, (4.) kultu­rellen Impe­ria­lismus und (5.) Unter­wer­fung in Form psychi­scher und physi­scher Gewalt. Diese Aufschlüs­se­lung sollte durch dieje­nige der „epis­te­mi­schen Unge­rech­tig­keiten“ ergänzt werden. Es handelt sich dabei um eine Konzep­tion, die Philo­so­phin Miranda Fricker entschei­dend geprägt hat. Sie unter­scheidet zwei Ausprä­gungen dieser Form von Unrecht: „Testi­mo­niale Unge­rech­tig­keiten“ sind dann am Werk, wenn Ange­hö­rige sozial stig­ma­ti­sierter Gruppen in ihrer Glaub­wür­dig­keit ange­zwei­felt werden und ihr Zeugnis syste­ma­tisch weniger ernst genommen wird als dasje­nige von Ange­hö­rigen sozial domi­nanter Gruppen. „Herme­neu­ti­sche Unge­rech­tig­keiten“ benennen indes die Unmög­lich­keit, spezi­fi­sche Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen ausdrü­cken zu können, weil die begriff­li­chen Ressourcen oder das Voka­bular dafür fehlen – auf Seiten der Betrof­fenen ebenso wie auf Seiten der Gesellschaft.

Menschen mit kogni­tiven Beein­träch­ti­gungen sind von beiden Formen epis­te­mi­scher Unge­rech­tig­keit betroffen. Sonja M.s Beispiel verdeut­licht, wie ihr Zeugnis aufgrund ihrer Behin­de­rung darin verstellt ist, ange­messen gehört und berück­sich­tigt zu werden. Solche testi­mo­nialen Unge­rech­tig­keiten müssen auf Seiten der Akteure – wie hier der Staats­an­walt­schaft – nicht unbe­dingt beab­sich­tigt sein. Sie können auch unbe­wussten Vorur­teilen und biases geschuldet sein, die unter­gründig einen Einfluss haben und auf struk­tu­rell verwur­zelte Deutungs­sche­mata verweisen. Gleich­zeitig betreffen auch herme­neu­ti­sche Unge­rech­tig­keiten Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung, wenn eine ableis­ti­sche Gesell­schafts­ord­nung die Möglich­keit wech­sel­sei­tiger Kommu­ni­ka­tion verhindert.

Die „looping­hafte“ Struktur von epis­te­mi­schen Ungerechtigkeiten

 Es ist wichtig, auf die beson­dere epis­te­mi­sche Vulnerabi­lität von Menschen mit Behin­de­rung genau zu achten, weil dadurch ihre Diskri­mi­nie­rung und Schlech­ter­stel­lung in anderen sozialen Sphären besser verstehbar wird. Sally Haslanger hat für die Wech­sel­wir­kung und gegen­sei­tige Bekräf­ti­gung von – auch stereo­ty­pi­sie­renden – Denk­bil­dern und Normen mit der sozialen Wirk­lich­keit den Begriff der „loopi­ness“ geprägt. Sie schreibt: „Wir reagieren auf die Welt, die so gestaltet wurde, dass sie genau diese Reak­tionen auslöst, ohne dass wir uns dieser Gestal­tung bewusst sind, so dass unsere Reak­tionen durch die Art und Weise, wie die Welt ist, bedingt zu sein scheinen.“ Mit anderen Worten, der Zweifel an den epis­te­mi­schen Fähig­keiten von Menschen mit Behin­de­rungen wurzelt nicht in „natür­li­chen“ Gege­ben­heiten oder inten­dierten Abwer­tungen. Viel­mehr ist er von der Art und Weise geprägt, wie gesell­schaft­liche Barrieren und Struk­turen Menschen mit Behin­de­rung auf eine prekäre Exis­tenz am gesell­schaft­li­chen Rand fest­legen und sie als „behin­dert“ subjek­ti­vieren, statt sie als gleiche Personen im vollen Sinn des Wortes anzuerkennen.

Wenn ihnen dann mit einem pater­na­lis­ti­schen und infan­ti­li­sie­renden Habitus begegnet wird (die verneh­mende Person hat Sonja M. z.B. geduzt), bestä­tigt die Reak­tion auf eine solche Behand­lung scheinbar einfach nur die vorge­prägten Sche­mata. Sonja M. ist nach einer mehr­stün­digen Verneh­mung in Tränen ausge­bro­chen. Eine kultu­rell tradierte und struk­tu­rell verfes­tigte Wahr­neh­mung von Menschen mit Behin­de­rungen als infantil, nicht im vollen Sinn rational oder mani­pu­lierbar und unglaub­würdig schreibt so in einer looping-haften Struktur gesell­schaft­liche Exklu­sionen fort, etwa in Werk­stätten oder Wohn­ein­rich­tungen. Ausgren­zungen und Margi­na­li­sie­rungen im alltäg­li­chen Leben tragen selbst wieder zur Affir­ma­tion der vorur­teils­be­la­denen Denk­bilder bei.

Solche rück­kop­pelnden und konso­li­die­renden loops zwischen struk­tu­rell mani­festen Wahr­neh­mungen davon, wie die Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen sind, und entspre­chenden gesell­schaft­li­chen Prak­tiken sowie dem Agieren von Insti­tu­tionen gelten übri­gens nicht nur für ableis­ti­sche Diskri­mi­nie­rungen, sondern auch für geschlechts-, race– oder auf Klasse bezo­gene. Imagi­näre Konstel­la­tionen, also in einer Gesell­schaft wirk­same Deutungen und Inter­pre­ta­tionen über die Mitglieder von vulner­ablen Gruppen, hegen einen kollek­tiven Vorstel­lungs­ho­ri­zont ein und machen manches denkbar, klam­mern anderes aber aus dem Raum des Mögli­chen aus. Unvor­stellbar wird dadurch etwa, dass Sonja M. sehr wohl dazu in der Lage ist, die ihr wider­fah­rende sexu­elle Gewalt zum Ausdruck zu bringen, würden sie die Gutachter*innen und Staatsanwält*innen entspre­chend ernst nehmen. Und auch wenn bei manchen Menschen mit geis­tigen Behin­de­rungen tatsäch­lich verbale Arti­ku­la­ti­ons­schwie­rig­keiten bestehen, erfor­dert ein nicht-ableistischer Umgang gerade deswegen einen beson­ders sorg­fäl­tigen Umgang mit ihrem Zeugnis und ihren Kommunikationsmöglichkeiten.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Eine be-hindernde Wirklichkeit

Ableismus ist wohl deswegen so beharr­lich in unserer Gesell­schaft am Werk, weil er in den Köpfen der Menschen (wenn auch oft unbe­wusst) genauso wirkt wie in mate­ri­eller und gesellschaftlich-struktureller Hinsicht, durch kommu­ni­ka­tive Barrieren im Alltag und durch insti­tu­tio­nelle Stig­ma­ti­sie­rung. Ein gegen­seitig sich verstär­kender Effekt im Zusam­men­spiel dieser Elemente konso­li­diert eine Wirk­lich­keit, die manche Menschen tatsäch­lich be-hindert, ausgrenzt, abwertet und unhörbar macht.

Eman­zi­pa­to­ri­sche Trans­for­ma­tionen dieser Realität, die ableis­ti­sche Struk­turen durch­kreuzen, sind auf loops verwiesen, die den Teufels­kreis von epis­te­mi­schen Abwer­tungen, stereo­ty­pi­sierten norma­tiven Denk­bil­dern und ihrer Sedi­men­tie­rung in gesell­schaft­li­chen Prak­tiken aufbre­chen und umkehren. Die Schaf­fung einer anderen, inklu­siven Realität lebt davon, Menschen mit Behin­de­rung nicht in pater­na­lis­ti­scher Manier als passive Fürsorgeempfänger*innen zu sehen, sondern sie als Akteure mit einer spezi­fi­schen Perspek­tive anzu­er­kennen. Damit sie ihre Rechte tatsäch­lich in Anspruch nehmen können (was die UN-BRK explizit fordert), sind insti­tu­tio­nelle Arran­ge­ments vonnöten, die sie nicht von Vorn­herein mit dem Schema des Defi­zi­tären belegen, sondern ihnen epis­te­mi­sche Gerech­tig­keit wider­fahren lassen. Im Fall von Sonja M. würde das bedeuten, dass ein Gutachten mit entspre­chender Exper­tise ange­fer­tigt wird und ihr der Raum eröffnet wird, ihre Aussage ange­messen und mit der nötigen Unter­stüt­zung und den dafür erfor­der­li­chen (kommu­ni­ka­tiven) Ressourcen vorzubringen. 

Schritte hin zu epis­te­mi­scher Gerechtigkeit

Die femi­nis­ti­sche Philo­so­phin Louise Antony hat für das Aufbre­chen von struk­tu­rellen epis­te­mi­schen Unge­rech­tig­keiten gegen­über sozial diskri­mi­nierten Gruppen epis­te­mi­sche „affir­ma­tive actions“ gefor­dert. Diese umreißen die Forde­rung, die Aussagen von Ange­hö­rigen stig­ma­ti­sierter Gruppen nicht vorschnell zu beur­teilen, sondern zunächst das eigene Vorver­ständnis und die eigenen biases zu hinter­fragen. Aus Sicht der betei­ligten Personen bei der Berliner Staats­an­walt­schaft könnte das heißen, selbst­kri­tisch darauf zu reflek­tieren, ob nicht ableis­ti­sche Stereo­type die Situa­tion rahmen und Vor-Urteile Einfluss auf Sonja M.s Möglich­keit dafür ausüben, umfas­send und angst­frei Zeugnis ablegen zu können. Die Forde­rung der gesell­schaft­li­chen Gleich­stel­lung für Menschen mit Behin­de­rung ist ohne ein ange­mes­senes epis­te­mi­sches Gehör nicht vorstellbar. Das heißt auch, dass Kommu­ni­ka­tion in leichter Sprache verfügbar sein und andere unter­stüt­zende Kommu­ni­ka­ti­ons­formen ermög­licht werden müssen. 

Damit sind aber nur die ersten kleinen Schritte auf dem Weg zu einem radi­kalen Aufbre­chen von Ableismus ange­spro­chen. Denn Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung als Gleiche anzu­er­kennen, würde letzten Endes bedeuten, dass wir der Attri­bu­ie­rung „mit geis­tiger Behin­de­rung“ oder einer anderen Benen­nung zur Kenn­zeich­nung der sozialen Stig­ma­ti­sie­rung nicht mehr bedürften. Es würde auch heißen, diese Menschen nicht vornehm­lich als vulnerabel und bedürftig zu sehen, sondern ihre Beiträge und Perspek­tiven als Berei­che­rung und epis­te­mi­schen Gewinn zu schätzen. Denn mit den bestän­digen Diskriminierungs- und Ausgren­zungs­er­fah­rungen geht tragi­scher­weise ein epis­te­mi­sches Privileg einher: Niemand weiß so gut Bescheid über die Probleme und Wirrungen in reha­bi­li­ta­tiven Einrich­tungen oder Behin­der­ten­werk­stätten wie dieje­nigen, die dort einen Groß­teil ihres Lebens verbringen. Und niemand hat so einen diffe­ren­zierten Einblick in die gesell­schaft­liche Wirk­macht von Normen der „Norma­lität“ wie dieje­nigen, die sich jenseits ihres engen Geltungs­be­rei­ches befinden.

Damit aller­dings die (epis­te­mi­schen) Perspek­tiven von Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung wirksam werden können, muss das Aufbre­chen von einge­spielten margi­na­li­sie­renden Denk­weisen mit mate­ri­ellen und poli­ti­schen Verän­de­rungen einher­gehen: Mehr und quali­fi­ziertes Personal für Einrich­tungen für Menschen mit Behin­de­rung, eine ange­mes­sene Entloh­nung für Pfle­gende oder die Präven­tion von Gewalt gegen­über Menschen mit Behin­de­rung stehen exem­pla­risch für drin­genden poli­ti­schen Handlungsbedarf.