Wiederholt wurde in Deutschland 2023 kollektives Gedenken und Betrauern der Nakba im öffentlichen Raum verboten, so bestätigte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein polizeiliches Verbot der „Demonstration für das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zum 75. Jahrestag der Nakba“ Ende Mai in Berlin. Mit solchen offiziellen Verboten erreicht die jahrzehntelange Tabuisierung palästinensischer Identität und Gewalterfahrung einen Höhepunkt.
Das Tabu der israelischen Staatsgewalt, deren Betroffene Palästinenser:innen sind, ist in Deutschland und der Schweiz gesellschaftlich tief verankert. Es kommt als soziale Norm zum Ausdruck und äussert sich in impliziten und expliziten Sprechverboten, aber auch in Denk- und Fühlverboten, wie z. B. keine Empathie zu fühlen. Das Tabu ist so wirkmächtig, dass nicht nur die Gewalterfahrung, die Palästinenser:innen erleiden, sondern Palästinensisch-Sein per se zu etwas sozial Verworfenem wird. Der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said schrieb 1992, die palästinensische Erfahrung sei so unangenehm, so skandalös nahe der jüdischen, dass man zuweilen nicht einmal das Wort Palästina aussprechen könne. Diese Nähe führt dazu, dass palästinensische Sichtbarkeit peinlich berührt – auch die Betroffenen selbst –, weshalb sie bedrohlich wirkt und abwesend gemacht werden soll.
Meine Gespräche mit Palästinenser:innen in Deutschland und der Schweiz zeigen, welche Auswirkungen diese Tabuisierung israelischer Staatsgewalt in Deutschland und der Schweiz auf sie hat. Ich habe mich mit ihren Spuren in den Leben und Eltern-Kind-Beziehungen von Palästinenser:innen in Deutschland und in der Schweiz auseinandergesetzt. Die Fortsetzung kolonialer Gewalt in Palästina/Israel als antipalästinensischer Rassismus in Europa führt zu Selbstauflösung, Schuld und Scham im Inneren und Selbstverneinung im Äußeren, kurz gesagt, zu einer traumatischen Existenz. Aber während die erste Generation in ihrem Trauma gefangen und passiv bleibt, beginnen ihre Kinder, dieses Trauma in Handlungsmacht umzuwandeln, die sozial verworfene Identität und Geschichte zurückzuerobern und Selbstverneinung durch eine Politik der Sichtbarkeit zu ersetzen.
In Deutschland lebt die größte palästinensische Gemeinschaft Europas. Man kann drei grosse Migrationswellen nach Deutschland unterscheiden: Die Studien- und Arbeitsmigration der 1960er Jahre, die Fluchtmigration aus dem libanesischen Bürgerkrieg sowie die jüngste Fluchtmigration aus den syrischen Flüchtlingslagern. Meine Gesprächspartner der ersten Generation waren vor allem Männer der 1960er-Jahre und ihre Kinder. Viele durften nach der israelischen Besatzung von Gaza und Westjordanland und der Annexion von Ost-Jerusalem 1967 nicht mehr nach Hause zurückkehren und wurden so zu Flüchtlingen sur place. Für viele von ihnen, die bereits 1947/48 als Kinder vertrieben worden waren, war dies die zweite Vertreibungserfahrung. Ich habe aber auch Gespräche mit Palästinenser:innen geführt, die in den 1980er Jahren aus dem Libanon geflohen sind. Diese erfuhren meist Kettenduldungen (häufige Wiederholungen von Duldungen, d. h. vorübergehenden Aussetzungen der Abschiebung), da Deutschland sie nicht als politische Geflüchtete anerkannte und der Libanon sich aufgrund ihrer Staatenlosigkeit nicht verpflichtet sah, sie wieder definitiv einreisen zu lassen. Die Unmöglichkeit der Abschiebung führte zur Erneuerung des Duldungsstatus über Jahre hinweg. Mit diesem Zustand wurden die Menschen eines normalen Lebens beraubt und der Verwahrlosung überlassen: Jederzeit hätte die Ausländerbehörde sie zwingen können, Deutschland zu verlassen; oder, wie es ein Gesprächspartner ausdrückte, sie hätten ,das libanesische Lager gegen das deutsche getauscht.‘
Für Palästinenser:innen im Exil hielt die Gewalt ungeachtet ihrer sozio-ökonomischen Situation selbst nach ihrer Vertreibung an, weil die koloniale Erfahrung im historischen Palästina – die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft und Identität – auf einer symbolischen Ebene fortgesetzt und wiederholt wurde, und zwar durch die Tabuisierung und Rechtfertigung ihrer Gewalterfahrung. Tabu und Trauma sind im palästinensischen Diaspora-Kontext eng miteinander verknüpft. Einerseits ist das palästinensische Trauma ein gesellschaftliches Tabu, andererseits wirkt dieses Tabu re-traumatisierend und wird dadurch zu einem essenziellen Teil des Traumas selbst. Eine junge Frau erzählt, wie sie zu ihrer Studienzeit stets für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie so „frei“ gewesen sei. Sie habe dies nicht richtiggestellt, weil es angenehmer gewesen sei, Jüdin zu sein. Die jüdische Erfahrung sei so ähnlich wie die palästinensische, aber eben nicht tabu. Sie habe sich eine „total künstliche Identität aufgebaut, in die sie ihren ganzen Schmerz habe stecken können“. Die Not des Tabus brachte sie zu etwas, was sie selbst als Ersatzhandlung bezeichnete: Um den Schmerz über die Familiengeschichte der Vertreibung mit ihrer Umgebung teilen zu können, verbarg sie ihren Schmerz im Schmerz des jüdischen Anderen. Um Anerkennung zu erfahren, wiederholte sie eine Form von Gewalt an sich selbst, die sie gesellschaftlich wiederholt erfährt: die Überschreibung ihrer palästinensischen Erfahrung mit der jüdischen Erfahrung in Europa. Das Tabu von Palästinensisch-Sein und ihrer Gewalterfahrung in Europa entspringt nicht nur der Schuld an der Shoa. Es ist auch Ausdruck einer Ideologie weisser Vorherrschaft, die nicht als solche erscheinen will. Es hat eine gesellschaftliche Funktion und ermöglicht in einer Situation tiefster Verstrickung in koloniale, rassifizierende Gewalt eine Selbsterzählung von aufgearbeiteter Schuld und moralischem Gutsein. Damit leistet es einen existentiellen Beitrag zur deutschen (und Schweizer) Identitäts- und Erinnerungspolitik.
Ein entscheidender Teil der Gewalterfahrung von Palästinenser:innen in Zentraleuropa geht nicht nur von der Tabuisierung, sondern auch von symbolischer Gewalt aus. Symbolische Gewalt rechtfertigte den israelischen Siedlerkolonialismus auf verschiedene Weisen. So wurde beispielsweise der Akt der Vertreibung als selbstverschuldet dargestellt, die Verbundenheit von Palästinenser:innen zum Land verneint oder aber Gewalt gegen sie moralisch gerechtfertigt. Letzteres wurde im Wesentlichen über eine Opfer-Täter-Dichotomie erreicht, in der Palästinenser:innen auf die Position des Täters und moralisch Devianten fixiert werden. Sie wurden und werden als bedrohliche ,Wilde‘, Terroristen, Islamisten und Anti-Semiten dem Staat Israel als Teil der sogenannten christlich-jüdischen, abendländischen Kultur und Wertegemeinschaft gegenübergestellt. Dieses Repräsentationsregime ging einher mit Praktiken der Kriminalisierung wie u. a. Überwachung, Zensur, Ausweisungen, Versammlungsverboten, Auflösung von Studentenverbindungen und Arbeitergewerkschaften.
In einem Gespräch mit einem Akteur der ersten Generation zeigt sich nicht nur, wie ähnlich sich seine beiden Vertreibungserfahrungen – diejenige als Kind 1948 sowie die indirekte Form der Vertreibung von 1967 – für ihn anfühlen, sondern auch, wie schuldbesetzt die erlebte Gewalt ist und wie sehr er sich mit den Diskursen identifiziert, die seine Erfahrung legitimieren. Er betont wiederholt, dass er nicht freiwillig bzw. aufgrund einer eigenen Entscheidung zum Flüchtling geworden sei:
Die Gefühle der Fremde sind besondere, weil ich gezwungen wurde, in der Fremde zu leben. 1967 fühlte ich mich so, als ob ich die Heimat zum zweiten Mal verlöre: Im Jahr 1948 bin ich geflohen, hat meine Familie mich von Palästina nach Jordanien mitgenommen. Gleichzeitig saß ich 1967 in Lausanne fest und war gezwungen, dort zu bleiben. Ich habe es also nicht gewählt zu fliehen und diese Gefühle sind immer da. Wir hatten Angst und deswegen war meine Familie gezwungen zu fliehen. Es herrschte Panik in ganz Palästina. In Dayr al-Yasīn geschahen [1948] einige Dinge [der Erzähler bezieht sich auf das Massaker an den Einwohnern des Dorfs Dayr al-Yasīn durch paramilitärische Verbände am 9. April 1948]. Wegen uns, wegen der Kinder haben sie gesagt: lasst uns fliehen!
Palästinenser:innen werden zu Menschen, die verdientermaßen Gewalt erleiden. Dies verinnerlichten Palästinenser vor allem der ersten Generation. Viele empfanden die erlebte Gewalt als etwas Beschämendes und Selbstverschuldetes. Symbolische Gewalt wiederholte und verstärkte die Gewalt der Vertreibungen und de-subjektivierte sie schließlich. Die Bedeutungslosigkeit, die ihnen beigemessen wurde, resultierte in die Angst vor Sichtbarkeit und politischem Aktivismus, aber auch in die Angst vor dem Fühlen geschweige denn Ausdruck von Wut und Trauer. Die Akteure sind nicht fähig, ihre Gewalterfahrung zu betrauern, weil sie gesellschaftlich nicht existiert. Dies mündete in Melancholie sowie in den Rückzug von Gesellschaft, Familie und anderen Palästinenser:nnen. Es mündete in die Isolation und den sozialen Tod. Schuld und Scham lösten sie als Subjekte auf. Viele Akteure – sowohl der ersten wie auch der zweiten Generation – begannen, ihre Identität im öffentlichen Raum zu verneinen, um den Schmerz zu vermeiden, negativ stigmatisiert zu werden anstatt als Mensch gesehen zu werden und als solcher Anerkennung zu erfahren. Ein Gespräch mit einer Akteurin der zweiten Generation zeigt, in welche Doppelleben dies mündete:
Niemand redet darüber. Unsere Geschichte darf es gar nicht geben in der Weltgeschichte. Als Palästinenser muss man sich immer wie verneinen. Damit unser Leben hier draußen normal weitergeht, macht man da vielleicht äußerlich mit, aber innerlich, gerade im Kreis der Familie muss man darüber reden. Und falls ich jemals Kinder haben werde, wird das auch weitergegeben. Sogar meine Mitschüler haben nicht gewusst, dass man Palästinenser ist
Die Unsichtbarkeit von Palästinenser:innen ist somit nicht nur eine gesellschaftlich produzierte, sondern immer auch eine (für sich selbst) gefühlte Unsichtbarkeit. Symbolische Gewalt machte nicht nur die erste Generation unsichtbar, sondern wurde auch zu einem wichtigen Aspekt in der Beziehung zu ihren Kindern. Die Beziehung zwischen der ersten und der zweiten Generation von Palästinenser:innen war geprägt von der Melancholie der ersten Generation. Ihre Unsichtbarkeit schrieb sich als emotionale Abwesenheit in die Beziehung zu ihren Kindern ein. Dies trug maßgeblich dazu bei, wie traumatische Erfahrung an sie weitergegeben wurde. Um eine Beziehung aufzubauen, mussten sie die Desubjektivierung ihrer Eltern aufheben und sie als Subjekte etablieren. Dies führte zu einer Umkehrung der sozialen Rollen zwischen Eltern und Kindern. Die Auswirkungen dieser Rollenumkehr manifestieren sich in dem Wunsch der Kinder, mit ihren Eltern zu verschmelzen. Eine Gesprächspartnerin haderte damit, dass es ihr nicht gelang, die Vertreibungsgeschichte ihres Vaters zu seinen Lebzeiten aufzuzeichnen. In ihrem Bericht verschwimmen eigenes Empfinden mit dem ihres Vaters:
Ich hab irgendwie schon immer befürchtet, irgendwann ist es einmal zu spät. Jetzt haben wir einfach Erzählungen, und klar habe ich auch Erinnerungen daran, aber ich hab einfach Angst, dass es dann mit der Zeit Erinnerungen an Erinnerungen werden, und man nicht mehr weiß, was denn wirklich gesagt wurde, und ich weiß nicht, ob ich mir das verzeihe. Ich will jetzt nicht anmaßen zu sagen, ich habe genauso gelitten wie er, aber es ist irgendwie nicht so trennbar gewesen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als ob ich den Schmerz eins zu eins fühle.
Zusätzlich zum Nachhall der Geschichte ihrer Eltern in ihrem Leben kommt ihre eigene Erfahrung mit symbolischer Gewalt.
Das Jahr 2014 bildete für Angehörige der zweiten Generation eine Zäsur. Gleichzeitig mit der israelischen Militäroffensive in Gaza intensivierte sich auch die Tabuisierung des Palästinensisch-Seins Deutschland und der Schweiz. Viele Palästinenser:innen kamen deshalb zum Schluss, dass Sichtbarkeit ein notwendiger Akt des Widerstands sei. Die Unterdrückung der palästinensischen Identität nach außen hin ersetzten sie nun durch ein sichtbares Palästinensisch-Sein. Sie brachen mit der Selbstverneinung, die ihnen oft auch von den Eltern aufgetragen worden war. Sie ersetzten deren Schuld und Scham durch Handlungsmacht und überwanden die Angst vor Sichtbarkeit und politischem Aktivismus. Sie vernetzten sich und entdeckten die Wut, die ihren Eltern verwehrt blieb.