Die palästinensische Geschichte ist von Gewalt- und Fluchterfahrungen geprägt. Doch diese vielfache Traumatisierung kann in Europa oft nicht geäußert werden. Dies ändert sich mit der jüngsten Generation.

  • Sarah El Bulbeisi

    Sarah El Bulbeisi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut (OIB) mit den Schwerpunkten Postcolonial Studies, Gender Studies und Psychoanalyse. Sie promovierte an der LMU München. Ihre Dissertation erschien 2020 beim Transcript-Verlag als Buch: „Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960–2015“.

Wieder­holt wurde in Deutsch­land 2023 kollek­tives Gedenken und Betrauern der Nakba im öffent­li­chen Raum verboten, so bestä­tigte das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt Berlin-Brandenburg ein poli­zei­li­ches Verbot der „Demons­tra­tion für das Grund­recht auf Versammlungs- und Meinungs­frei­heit zum 75. Jahrestag der Nakba“ Ende Mai in Berlin. Mit solchen offi­zi­ellen Verboten erreicht die jahr­zehn­te­lange Tabui­sie­rung paläs­ti­nen­si­scher Iden­tität und Gewalt­er­fah­rung einen Höhepunkt.

Das Tabu der israe­li­schen Staats­ge­walt, deren Betrof­fene Palästinenser:innen sind, ist in Deutsch­land und der Schweiz gesell­schaft­lich tief veran­kert. Es kommt als soziale Norm zum Ausdruck und äussert sich in impli­ziten und expli­ziten Sprech­ver­boten, aber auch in Denk- und Fühl­ver­boten, wie z. B. keine Empa­thie zu fühlen. Das Tabu ist so wirk­mächtig, dass nicht nur die Gewalt­er­fah­rung, die Palästinenser:innen erleiden, sondern Palästinensisch-Sein per se zu etwas sozial Verwor­fenem wird. Der palästinensisch-amerikanische Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Edward Said schrieb 1992, die paläs­ti­nen­si­sche Erfah­rung sei so unan­ge­nehm, so skan­dalös nahe der jüdi­schen, dass man zuweilen nicht einmal das Wort Paläs­tina ausspre­chen könne. Diese Nähe führt dazu, dass paläs­ti­nen­si­sche Sicht­bar­keit pein­lich berührt – auch die Betrof­fenen selbst –, weshalb sie bedroh­lich wirkt und abwe­send gemacht werden soll.

Meine Gespräche mit Palästinenser:innen in Deutsch­land und der Schweiz zeigen, welche Auswir­kungen diese Tabui­sie­rung israe­li­scher Staats­ge­walt  in Deutsch­land und der Schweiz auf sie hat. Ich habe mich mit ihren Spuren in den Leben und Eltern-Kind-Beziehungen von Palästinenser:innen in Deutsch­land und in der Schweiz ausein­an­der­ge­setzt. Die Fort­set­zung kolo­nialer Gewalt in Palästina/Israel als anti­pa­läs­ti­nen­si­scher Rassismus in Europa führt zu Selbst­auf­lö­sung, Schuld und Scham im Inneren und Selbst­ver­nei­nung im Äußeren, kurz gesagt, zu einer trau­ma­ti­schen Exis­tenz. Aber während die erste Gene­ra­tion in ihrem Trauma gefangen und passiv bleibt, beginnen ihre Kinder, dieses Trauma in Hand­lungs­macht umzu­wan­deln, die sozial verwor­fene Iden­tität und Geschichte zurück­zu­er­obern und Selbst­ver­nei­nung durch eine Politik der Sicht­bar­keit zu ersetzen.

In Deutsch­land lebt die größte paläs­ti­nen­si­sche Gemein­schaft Europas. Man kann drei grosse Migra­ti­ons­wellen nach Deutsch­land unter­scheiden: Die Studien- und Arbeits­mi­gra­tion der 1960er Jahre, die Flucht­mi­gra­tion aus dem liba­ne­si­schen Bürger­krieg sowie die jüngste Flucht­mi­gra­tion aus den syri­schen Flücht­lings­la­gern. Meine Gesprächs­partner der ersten Gene­ra­tion waren vor allem Männer der 1960er-Jahre und ihre Kinder. Viele durften nach der israe­li­schen Besat­zung von Gaza und West­jor­dan­land und der Anne­xion von Ost-Jerusalem 1967 nicht mehr nach Hause zurück­kehren und wurden so zu Flücht­lingen sur place. Für viele von ihnen, die bereits 1947/48 als Kinder vertrieben worden waren, war dies die zweite Vertrei­bungs­er­fah­rung. Ich habe aber auch Gespräche mit Palästinenser:innen geführt, die in den 1980er Jahren aus dem Libanon geflohen sind. Diese erfuhren meist Ketten­dul­dungen (häufige Wieder­ho­lungen von Duldungen, d. h. vorüber­ge­henden Ausset­zungen der Abschie­bung), da Deutsch­land sie nicht als poli­ti­sche Geflüch­tete aner­kannte und der Libanon sich aufgrund ihrer Staa­ten­lo­sig­keit nicht verpflichtet sah, sie wieder defi­nitiv einreisen zu lassen. Die Unmög­lich­keit der Abschie­bung führte zur Erneue­rung des Duldungs­status über Jahre hinweg. Mit diesem Zustand wurden die Menschen eines normalen Lebens beraubt und der Verwahr­lo­sung über­lassen: Jeder­zeit hätte die Auslän­der­be­hörde sie zwingen können, Deutsch­land zu verlassen; oder, wie es ein Gesprächs­partner ausdrückte, sie hätten ,das liba­ne­si­sche Lager gegen das deut­sche getauscht.‘

Für Palästinenser:innen im Exil hielt die Gewalt unge­achtet ihrer sozio-ökonomischen Situa­tion selbst nach ihrer Vertrei­bung an, weil die kolo­niale Erfah­rung im histo­ri­schen Paläs­tina – die Zerstö­rung der paläs­ti­nen­si­schen Gesell­schaft und Iden­tität – auf einer symbo­li­schen Ebene fort­ge­setzt und wieder­holt wurde, und zwar durch die Tabui­sie­rung und Recht­fer­ti­gung ihrer Gewalt­er­fah­rung. Tabu und Trauma sind im paläs­ti­nen­si­schen Diaspora-Kontext eng mitein­ander verknüpft. Einer­seits ist das paläs­ti­nen­si­sche Trauma ein gesell­schaft­li­ches Tabu, ande­rer­seits wirkt dieses Tabu re-traumatisierend und wird dadurch zu einem essen­zi­ellen Teil des Traumas selbst. Eine junge Frau erzählt, wie sie zu ihrer Studi­en­zeit stets für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie so „frei“ gewesen sei. Sie habe dies nicht rich­tig­ge­stellt, weil es ange­nehmer gewesen sei, Jüdin zu sein. Die jüdi­sche Erfah­rung sei so ähnlich wie die paläs­ti­nen­si­sche, aber eben nicht tabu. Sie habe sich eine „total künst­liche Iden­tität aufge­baut, in die sie ihren ganzen Schmerz habe stecken können“. Die Not des Tabus brachte sie zu etwas, was sie selbst als Ersatz­hand­lung bezeich­nete: Um den Schmerz über die Fami­li­en­ge­schichte der Vertrei­bung mit ihrer Umge­bung teilen zu können, verbarg sie ihren Schmerz im Schmerz des jüdi­schen Anderen. Um Aner­ken­nung zu erfahren, wieder­holte sie eine Form von Gewalt an sich selbst, die sie gesell­schaft­lich wieder­holt erfährt: die Über­schrei­bung ihrer paläs­ti­nen­si­schen Erfah­rung mit der jüdi­schen Erfah­rung in Europa. Das Tabu von Palästinensisch-Sein und ihrer Gewalt­er­fah­rung in Europa entspringt nicht nur der Schuld an der Shoa. Es ist auch Ausdruck einer Ideo­logie weisser Vorherr­schaft, die nicht als solche erscheinen will. Es hat eine gesell­schaft­liche Funk­tion und ermög­licht in einer Situa­tion tiefster Verstri­ckung in kolo­niale, rassi­fi­zie­rende Gewalt eine Selbst­er­zäh­lung von aufge­ar­bei­teter Schuld und mora­li­schem Gutsein. Damit leistet es einen exis­ten­ti­ellen Beitrag zur deut­schen (und Schweizer) Identitäts- und Erinnerungspolitik.

Ein entschei­dender Teil der Gewalt­er­fah­rung von Palästinenser:innen in Zentral­eu­ropa geht nicht nur von der Tabui­sie­rung, sondern auch von symbo­li­scher Gewalt aus. Symbo­li­sche Gewalt recht­fer­tigte den israe­li­schen Sied­ler­ko­lo­nia­lismus auf verschie­dene Weisen. So wurde beispiels­weise der Akt der Vertrei­bung als selbst­ver­schuldet darge­stellt, die Verbun­den­heit von Palästinenser:innen zum Land verneint oder aber Gewalt gegen sie mora­lisch gerecht­fer­tigt. Letz­teres wurde im Wesent­li­chen über eine Opfer-Täter-Dichotomie erreicht, in der Palästinenser:innen auf die Posi­tion des Täters und mora­lisch Devi­anten fixiert werden. Sie wurden und werden als bedroh­liche ,Wilde‘, Terro­risten, Isla­misten und Anti-Semiten dem Staat Israel als Teil der soge­nannten christlich-jüdischen, abend­län­di­schen Kultur und Werte­ge­mein­schaft gegen­über­ge­stellt. Dieses Reprä­sen­ta­ti­ons­re­gime ging einher mit Prak­tiken der Krimi­na­li­sie­rung wie u. a. Über­wa­chung, Zensur, Auswei­sungen, Versamm­lungs­ver­boten, Auflö­sung von Studen­ten­ver­bin­dungen und Arbeitergewerkschaften.

In einem Gespräch mit einem Akteur der ersten Gene­ra­tion zeigt sich nicht nur, wie ähnlich sich seine beiden Vertrei­bungs­er­fah­rungen – dieje­nige als Kind 1948 sowie die indi­rekte Form der Vertrei­bung von 1967 – für ihn anfühlen, sondern auch, wie schuld­be­setzt die erlebte Gewalt ist und wie sehr er sich mit den Diskursen iden­ti­fi­ziert, die seine Erfah­rung legi­ti­mieren. Er betont wieder­holt, dass er nicht frei­willig bzw. aufgrund einer eigenen Entschei­dung zum Flücht­ling geworden sei: 

Die Gefühle der Fremde sind beson­dere, weil ich gezwungen wurde, in der Fremde zu leben. 1967 fühlte ich mich so, als ob ich die Heimat zum zweiten Mal verlöre: Im Jahr 1948 bin ich geflohen, hat meine Familie mich von Paläs­tina nach Jorda­nien mitge­nommen. Gleich­zeitig saß ich 1967 in Lausanne fest und war gezwungen, dort zu bleiben. Ich habe es also nicht gewählt zu fliehen und diese Gefühle sind immer da. Wir hatten Angst und deswegen war meine Familie gezwungen zu fliehen. Es herrschte Panik in ganz Paläs­tina. In Dayr al-Yasīn geschahen [1948] einige Dinge [der Erzähler bezieht sich auf das Massaker an den Einwoh­nern des Dorfs Dayr al-Yasīn durch para­mi­li­tä­ri­sche Verbände am 9. April 1948]. Wegen uns, wegen der Kinder haben sie gesagt: lasst uns fliehen! 

Palästinenser:innen werden zu Menschen, die verdien­ter­maßen Gewalt erleiden. Dies verin­ner­lichten Paläs­ti­nenser vor allem der ersten Gene­ra­tion. Viele empfanden die erlebte Gewalt als etwas Beschä­mendes und Selbst­ver­schul­detes. Symbo­li­sche Gewalt wieder­holte und verstärkte die Gewalt der Vertrei­bungen und de-subjektivierte sie schließ­lich. Die Bedeu­tungs­lo­sig­keit, die ihnen beigemessen wurde, resul­tierte in die Angst vor Sicht­bar­keit und poli­ti­schem Akti­vismus, aber auch in die Angst vor dem Fühlen geschweige denn Ausdruck von Wut und Trauer. Die Akteure sind nicht fähig, ihre Gewalt­er­fah­rung zu betrauern, weil sie gesell­schaft­lich nicht exis­tiert. Dies mündete in Melan­cholie sowie in den Rückzug von Gesell­schaft, Familie und anderen Palästinenser:nnen. Es mündete in die Isola­tion und den sozialen Tod. Schuld und Scham lösten sie als Subjekte auf. Viele Akteure – sowohl der ersten wie auch der zweiten Gene­ra­tion – begannen, ihre Iden­tität im öffent­li­chen Raum zu verneinen, um den Schmerz zu vermeiden, negativ stig­ma­ti­siert zu werden anstatt als Mensch gesehen zu werden und als solcher Aner­ken­nung zu erfahren. Ein Gespräch mit einer Akteurin der zweiten Gene­ra­tion zeigt, in welche Doppel­leben dies mündete:

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Niemand redet darüber. Unsere Geschichte darf es gar nicht geben in der Welt­ge­schichte. Als Paläs­ti­nenser muss man sich immer wie verneinen. Damit unser Leben hier draußen normal weiter­geht, macht man da viel­leicht äußer­lich mit, aber inner­lich, gerade im Kreis der Familie muss man darüber reden. Und falls ich jemals Kinder haben werde, wird das auch weiter­ge­geben. Sogar meine Mitschüler haben nicht gewusst, dass man Paläs­ti­nenser ist

Die Unsicht­bar­keit von Palästinenser:innen ist somit nicht nur eine gesell­schaft­lich produ­zierte, sondern immer auch eine (für sich selbst) gefühlte Unsicht­bar­keit. Symbo­li­sche Gewalt machte nicht nur die erste Gene­ra­tion unsichtbar, sondern wurde auch zu einem wich­tigen Aspekt in der Bezie­hung zu ihren Kindern. Die Bezie­hung zwischen der ersten und der zweiten Gene­ra­tion von Palästinenser:innen war geprägt von der Melan­cholie der ersten Gene­ra­tion. Ihre Unsicht­bar­keit schrieb sich als emotio­nale Abwe­sen­heit in die Bezie­hung zu ihren Kindern ein. Dies trug maßgeb­lich dazu bei, wie trau­ma­ti­sche Erfah­rung an sie weiter­ge­geben wurde. Um eine Bezie­hung aufzu­bauen, mussten sie die Desub­jek­ti­vie­rung ihrer Eltern aufheben und sie als Subjekte etablieren. Dies führte zu einer Umkeh­rung der sozialen Rollen zwischen Eltern und Kindern. Die Auswir­kungen dieser Rollen­um­kehr mani­fes­tieren sich in dem Wunsch der Kinder, mit ihren Eltern zu verschmelzen. Eine Gesprächs­part­nerin haderte damit, dass es ihr nicht gelang, die Vertrei­bungs­ge­schichte ihres Vaters zu seinen Lebzeiten aufzu­zeichnen. In ihrem Bericht verschwimmen eigenes Empfinden mit dem ihres Vaters:

Ich hab irgendwie schon immer befürchtet, irgend­wann ist es einmal zu spät. Jetzt haben wir einfach Erzäh­lungen, und klar habe ich auch Erin­ne­rungen daran, aber ich hab einfach Angst, dass es dann mit der Zeit Erin­ne­rungen an Erin­ne­rungen werden, und man nicht mehr weiß, was denn wirk­lich gesagt wurde, und ich weiß nicht, ob ich mir das verzeihe. Ich will jetzt nicht anmaßen zu sagen, ich habe genauso gelitten wie er, aber es ist irgendwie nicht so trennbar gewesen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als ob ich den Schmerz eins zu eins fühle.

 Zusätz­lich zum Nach­hall der Geschichte ihrer Eltern in ihrem Leben kommt ihre eigene Erfah­rung mit symbo­li­scher Gewalt. 

Das Jahr 2014 bildete für Ange­hö­rige der zweiten Gene­ra­tion eine Zäsur. Gleich­zeitig mit der israe­li­schen Mili­tär­of­fen­sive in Gaza inten­si­vierte sich auch die Tabui­sie­rung des Palästinensisch-Seins Deutsch­land und der Schweiz. Viele Palästinenser:innen kamen deshalb zum Schluss, dass Sicht­bar­keit ein notwen­diger Akt des Wider­stands sei. Die Unter­drü­ckung der paläs­ti­nen­si­schen Iden­tität nach außen hin ersetzten sie nun durch ein sicht­bares Palästinensisch-Sein. Sie brachen mit der Selbst­ver­nei­nung, die ihnen oft auch von den Eltern aufge­tragen worden war. Sie ersetzten deren Schuld und Scham durch Hand­lungs­macht und über­wanden die Angst vor Sicht­bar­keit und poli­ti­schem Akti­vismus. Sie vernetzten sich und entdeckten die Wut, die ihren Eltern verwehrt blieb.