Joanna Nowotny und Julian Reidy haben ein grundlegendes Buch über Memes geschrieben: Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens. Das Buch erschien vor wenigen Monaten im transcript-Verlag. Es kann dankenswerterweise auf der Webseite des Verlags als PDF-Datei (hier) oder im EPUB-Format (hier) kostenlos heruntergeladen werden. Wie blicken die Autorin und der Autor auf die Arbeit am Buch zurück? Und wie brisant ist das Thema für den politischen Diskurs?
SZ: Eure Kooperation an dem Buch gestaltete sich vermutlich anders als bei Memes. Bei diesen handelt es sich zwar üblicherweise auch um ein Kollektivprodukt, aber in der Regel doch – wie bei Witzen – mit anonymen Urheber:innen. Memes sind…

Meme „Laughing at corona memes like“; Quelle: forbes.com/sites/rebeccabellan/2020/03/19/laughing-during-a-crisis-the-best-coronavirus-memes/
JN/JR: …eine multimediale und -modale Konfiguration – typischerweise eine Kombination aus Text und Bild, aber es kann sich auch um Videos, Gifs, Audiofiles etc. handeln –, die von verschiedenen User*innen im Internet rezipiert und modifiziert und so in zahlreichen Versionen weiterverbreitet wird. Rezeption und Produktion sind sehr eng verbunden, was für die Digitalkultur überhaupt bezeichnend ist; das Anschauen eines Memes und das Produzieren eines neuen Memes, zum Beispiel auf den eigenen lokalen und kulturellen Kontext gemünzt, gehen Hand in Hand. Das althergebrachte ästhetische Prinzip der Imitation oder Nachahmung (der von Richard Dawkins 1976 geprägte Begriff meme kommt vom griechischen mīmēma, „nachgeahmte Dinge“) wird ersetzt durch das Prinzip einer erfolgreichen Mutation. Für diese neuen Produktionsverfahren und ästhetischen Codes schlagen wir im Buch auch den Begriff ‚Memesis‘ vor.
Memesis
In diesem Neologismus bündeln sich im Grunde die „fundamental logics“ der Meme-Produktion, die der Kulturwissenschaftler Ryan Milner 2016 ausführlich beschrieb: multimodality (d.h. eben Vielfalt der verwendeten Repräsentationsmodi), reappropriation (Verwendung existierenden kulturellen Rohmaterials), resonance (ausreichend starke affektive Wirkung, um weitere Rezipient*innen zur Produktion neuer Memes anzuregen), collectivism (gemeinschaftliche Produktions- und Rezeptionskulturen) – und schließlich spread (der ganze Prozess der mutierenden Reappropriation ist nicht das Privatvergnügen eines geschlossenen esoterischen Kreises, sondern erlangt eine gewisse Reichweite, mag sie auch sehr schwierig zu quantifizieren sein).
SZ: Ich gehe davon aus, dass diese fünf Faktoren – multimodality, reappropriation, resonance, collectivism und spread – auch eine entsprechende Aufmerksamkeit in der Analyse verlangen, eine gewisse Flexibilität, damit man das Phänomen überhaupt in seiner Vielfalt und Beweglichkeit erfassen kann. Wie muss man sich den Prozess Eurer Annäherung und dann der Analyse vorstellen?
JN/JR: Tatsächlich gab es bei der Arbeit am Buch selbst ‚memetisch‘ anmutende Momente: Im Wissen, dass wir uns mit einem eminent ‚gegenwärtigen‘ und im Fluss befindlichen Thema befassen, waren wir bestrebt, allen Ideen und Geistesblitzen ohne rigide Vorannahmen nachzuspüren – also sozusagen der resonance, unserer eigenen Intuition, einen stärkeren Einfluss einzuräumen, als wir das bei einem konventionelleren Forschungsgegenstand getan hätten. So begann beispielsweise gerade der Memesis-Begriff zunächst als Witz, als eine Parodie hochtrabenden kulturwissenschaftlichen Jargons – aber dann entwickelte der Begriff einen Sog, eine resonance, und wir fingen an, ernsthaft über ihn nachzudenken, ihn zu profilieren und zu konturieren.
SZ: Und gibt es für Euch eine zentrale Erkenntnis, die ihr aus diesem Prozess einer derart gegenwartsnahen Auseinandersetzung gewonnen habt?
JN/JR: In der Rückschau auf den Entstehungsprozess, aber auch die bisherige Rezeption des Buchs finden wir vor allem zwei Aspekte faszinierend. Erstens waren wir selber überrascht, als wie fruchtbar sich literatur- und kulturwissenschaftliche Theorien, Termini und Konzepte im Umgang mit diesen ‚gegenwartsnahen‘ Phänomenen erwiesen: Die Sensibilität im Umgang mit Texten und ihren vielfältigen Bedeutungspotenzialen, das poststrukturalistisch geschulte Misstrauen gegenüber vermeintlich fixierten Semantiken, der Blick für Appellstrukturen, Intertextualität, Motive, Tropen und so weiter – kurzum, all das, was wir als Forscher*innen praktiziert und eingeübt hatten, kam uns auch und gerade bei der Meme-Analyse zupass.
SZ: Das analytische Besteck lag also bereit.
JN/JR: Wir gehen in der Tat davon aus, dass unsere Fächer den Anspruch erheben können und sollen, auch bei der Untersuchung solcher vermeintlich banaler Alltagsartefakte als Leitdisziplinen zu dienen. Das ist angesichts einschlägiger Pionierwerke wie etwa Roland Barthes’ Mythen des Alltags wohl keine so originelle Einsicht, klar, aber das Desiderat einer kulturwissenschaftlich geschulten und ideologiekritischen Sicht auf die Zeichensysteme, die unser Leben, unseren Alltag durchdringen, stellt sich unseres Erachtens dringlicher denn je. Insbesondere, weil auch Hass, Desinformation und Verschwörungsmythen eine ungekannte und oft unwidersprochene Diskurspräsenz markieren.
unverhofftes Glück
SZ: Gerade die Literaturwissenschaft könnte in diesem Bereich viel stärker in Erscheinung treten.

Meme „Make Captain America Great Again“, Quelle: pinterest.com/pin/426223552219894209/
JN/JR: Wir mussten oft an Albrecht Koschorkes Bonmot aus seinem Buch Wahrheit und Erfindung denken, wonach die Literaturwissenschaft „ihr unverhofftes Glück, über einen so potenten Begriff“ wie den der „Erzählung“ zu verfügen, lange gar nicht begriffen und wertgeschätzt habe. Dass es eine an Bildern, Narrativen, Texten und Geschichten so reiche ‚Kultur der Digitalität‘ gibt, ist auch ein „unverhofftes Glück“, ein unverhoffter Relevanzgewinn nämlich, für die Literaturwissenschaft – wenn sie denn die Chance beim Schopf packt und diese Gegenstände nicht einfach den Medienwissenschaften oder anderen angrenzenden Disziplinen überlässt.
SZ: „Relevanzgewinn“ in welchem Sinne? Dass das entsprechende Wissen nicht nur dazu bestimmt ist, in der Scientific Community zu zirkulieren?
JN/JR: Ja, denn mit alledem hängt auch das zweite Faszinosum zusammen, von dem wir oben sprachen: Uns fasziniert und berührt das vergleichsweise riesige Interesse, das von vielen Seiten an unserem Buch bekundet wurde. Das zeigt doch, dass es im Journalismus und generell in der breiteren Öffentlichkeit einen Hunger nach kulturwissenschaftlicher Reflexion gibt, der durch die siebentausendste Studie zu Thomas Mann eben nicht gestillt wird.
SZ: Dazu kommt, dass eine Auseinandersetzung mit Memes zwar sehr wohl von einem historischen Wissen profitieren kann, das Phänomen selbst aber ein dezidiert gegenwärtiges und bewegliches ist. Gab es für Euch auch Momente, in denen klar wurde, dass das historische Wissen und die oben erwähnten – im weitesten Sinne dann doch bereits existierenden – Methoden nicht mehr ausreichten?
JN/JR: Tatsächlich mutieren Bedeutungszuschreibungen im Netz teilweise in ungeahnter Geschwindigkeit und in einer Form, die für Außenstehende, also Leute, die nicht zu einer bestimmten digitalkulturellen Gemeinschaft gehören, nahezu unverständlich ist. Memes und die Ökosysteme, in denen sie gedeihen, die digitalen Plattformen, können ihr Gesicht extrem schnell wandeln, und teilweise sind wir da kaum oder gar nicht hinterhergekommen. Das merkt man auch in kritischeren Reaktionen auf die Studie, der dann z.B. vorgeworfen wird, Dinge wie die politische Nutzung der Plattform TikTok im Rahmen des Ukraine-Kriegs – der erst ausbrach, als das Buch schon im Druck war – nicht antizipiert zu haben. Aber ja, hellseherische Fähigkeiten haben wir tatsächlich nicht.
Irritationen
SZ: Aber nun – im Rückblick und im Blick auf die Gegenwart? Kam und kommt es denn Eures Erachtens im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu einem Einsatz von Memes, der aus heutiger Perspektive besonders erwähnenswert ist – und allenfalls auch eine Revision von Thesen aus dem Buch nahelegt?

Meme der US-amerikanischen Botschaft in Kyiv vom 22.2.22 (Twitter)
JN/JR: Frappierend ist sicherlich die Selbstverständlichkeit, mit der sich auch staatliche Akteure und Organisationen während dieses Kriegs ‚memetisch‘ äußern. Natürlich ist schon seit Jahren die Rede von ‚Putins Trollfabrik‘, aber auch der Westen hat selbstverständlich die spezifischen propagandistischen Potenziale der ‚Kultur der Digitalität‘ längst erkannt und die ‚Memetic Warfare‘ ‚embraced‘, wie das der Trump-Sympathisant und Peter-Thiel-Günstling Jeff Giesea in einem Strategiepapier für die NATO forderte.
Solche „memetic warfare“ sehen wir etwa dann in Aktion, wenn die US-amerikanische Botschaft in Kyiv – zwei Tage vor dem russischen Angriff – ein Meme postet, das mit Verweis auf die sogenannte Kyiver Rus die Ukraine als eine Art frühe Hochkultur feiert, im Gegensatz zum damals noch ‚primitiven‘ Moskau. Diese Form der Kommunikation markiert natürlich eine maximale Abweichung von jeglichem diplomatischem Protokoll. Man kann das angesichts der drastischen Situation für angemessen halten.
Das Meme zeigt auch die Ambivalenz und die Problematik memetischer Zuspitzung in derartigen welthistorischen Zusammenhängen auf: Was hier als Solidaritätsbekundung mit der Ukraine und als Verhöhnung russischer Großmachtsbestrebungen intendiert ist, kann nämlich auch gegen den Strich gelesen werden: „Ja, stimmt, die Kyiver Rus war toll und originär ‚russisch‘, und deshalb holen wir, die Russen, uns jetzt zurück, was uns gehört, und zerstören das artifizielle Konstrukt ‚Ukraine‘.“ Und wenn wir einen solchen Post von einer solchen Institution in unserem Feed auf einer sozialen Plattform sehen, oder noch mehr die vielen Memes, die etwa der offizielle Twitter-Account des Landes Ukraine auch jetzt während des Kriegs postet, ist das auch ein Beispiel von dem, was der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ‚Filter Clash‘ nennt. Hier treffen ganz unterschiedliche Themen und Stile quasi ungebremst aufeinander, also z.B. ‚ernsthafte‘ politische Posts und humoristische Provokationen. Dieses Nebeneinander kann mobilisieren, aber auch zutiefst irritieren.
SZ: Könnt ihr weitere Beispiele für derartige Irritationen nennen?

„Pepe“ beim Sturm auf das Kapitol 2021, Quelle: knowyourmeme.com/photos/1984175-january-6th-2021-storming-of-the-united-states-capitol
JN/JR: Es gibt Bildlichkeiten im Netz, die auf derart widersprüchliche Weise besetzt werden, dass nicht nur die Analyse sehr schwierig wird, sondern sich auch ganz grundlegend die Frage stellt, was die Akteur*innen bezwecken. Ein Beispiel wäre Pepe the Frog, der berühmte Meme-Frosch. Dieser hat sich rasend schnell vom harmlosen Slacker zum Symbol der Trump-Anhänger*innen – wobei man hier evtl. wirklich nur die männliche Form verwenden sollte – und zum Emblem der white supremacists gewandelt. Klassische Modelle von kommunikativen Vorgängen und ihren Zwecken – also zum Beispiel Verständigung, Fürsprache, phatische oder referentielle Kommunikationsfunktionen etc. – geraten an ihre Grenzen. Im Buch sprechen wir hier deswegen von toxischen (in diesem Falle politischen) Memes, die durch Grenzverletzungen und Verwirrung Kommunikation und demokratische Deliberation zerstören wollen. Das Verbreiten solcher Memes ist eng verwandt – respektive fällt häufig zusammen – mit der digitalen Praxis des trolling, vereinfacht gesagt: der lustvollen Störung des Diskurses.
Auch in der Konfrontation mit diesen Herausforderungen waren aber gewisse kulturwissenschaftliche Sensibilitäten hilfreich, die wir internalisiert hatten: Man denke etwa an die grundständige poststrukturalistische Distanzierung von intentionalistischen oder überhaupt ‚sinnsuchenden‘ Interpretationsprozessen – oder, spezifischer, an Hans Ulrich Gumbrechts Kritik an der „Zentralstellung der Interpretation“ und sein Insistieren auf einer Konfrontation mit der „Präsenz“, der konkreten Erscheinungsform und Alterität von Artefakten, die sich Deutungsversuchen vielleicht tatsächlich verweigern.
SZ: Um eine Interpretation handelt es sich allerdings auch, wenn die Funktionsweise von Memes analysiert wird – und nicht einfach deren vermeintlicher Inhalt, der in der Tat oft schwer oder gar nicht auf den Punkt zu bringen ist. In Eurem Buch habt ihr das ja, wie ich finde, sehr schön herausgearbeitet. Mich würde zum Schluss interessieren, ob Memes, den Witzen verwandt, nicht schlicht eine Entlastungsfunktion haben? Gerade weil ihre Bedeutung im Einzelnen schwer festzulegen ist, lassen sie genügend Raum für Projektionen, für Anspielungen, auch dafür, manifeste Ideologien unter dem Deckmantel der Ironie – alles nicht so ernst gemeint! – zu verbreiten, sich in letzter Konsequenz schadlos zu halten. Das wäre dann eine ebenso bedenkliche wie vermutlich zeittypische Komponente des Meme-Booms, in dem wir offenbar gerade leben.
JN/JR: Ja, Memes können ganz sicher eine Entlastungsfunktion haben, man denke etwa an die vielen Memes zu Beginn der Covid-Pandemie, die alltägliche Situationen aus dem Lockdown thematisierten und so verbindend gewirkt haben – freilich nur für eine sehr privilegierte Schicht, die Büroarbeiter*innen, die im Gegensatz zu den sogenannten systemrelevanten Arbeiter*innen nicht an ihren Arbeitsplätzen verharren mussten. Und Ironie ist tatsächlich immer ein zweischneidiges Schwert – sie ist nicht nur subversiv in dem Sinne, dass sie bestehende Herrschaftsverhältnisse destabilisieren und Toleranz fördern kann (aus dieser Funktion speist sich die Wertschätzung der Ironie von ‚linker‘ oder progressiver Seite). Tatsächlich kann sie auch von Produzent*innen und -Verbreiter*innen von menschenverachtenden Memes eingesetzt werden, die sich auf die Position zurückziehen können, sie hätten ja ‚nur‘ Witze gemacht, eine Strategie, die in gewissen online-Ratgebern auch explizit angeraten wird.
In dem Maß, in dem etwa rechte Begriffe und Gedanken normalisiert werden, scheint diese Strategie aber an Relevanz einzubüßen, und die Omnipräsenz von rechten Memes scheint zu einer solchen Normalisierung beizutragen. Das haben wir in den letzten Jahren sicher gelernt – nicht nur hat das Internet die ‚Unschuld‘ verloren, die man ihm naiverweise in den ersten Jahren seiner Existenz zugeschrieben hat. Wir merken erst jetzt so richtig, dass sämtliche vermeintlich ‚progressive‘ Kulturtechniken – etwa rhetorische Mittel wie die Ironie, ästhetische Formen wie der Remix, die Rekontextualisierung oder Hybridität – äußerst effizient eingesetzt werden, um menschenverachtende Ideologien zu verbreiten und einen Kulturkampf ‚von rechts‘ zu führen. Heute sind ja sämtliche ‚Manifeste‘ von weißen Terroristen gespickt mit ironisch-absurden Memes. Ein wahrlich böses Erwachen.
SZ: …und immerhin ein Anlass, das Thema weiter aufmerksam zu verfolgen. Vielen Dank für das Gespräch!