Axel Hacke ist auf Tour. Viele Lesungen hat der deutsche Schriftsteller und Journalist in den letzten Monaten bereits abgehalten, 36 Auftritte werden bis Mitte Mai 2018 noch dazu kommen. Der Grund dafür ist ein kleinformatiges Buch von hundertzweiundachtzig Seiten Länge: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen lautet der Titel. Es ist ein gewichtiges, ein aktuelles Thema, und es ist ein Buch, das seit seiner Veröffentlichung im August 2017 bemerkenswerten Absatz findet: Den Sprung in die Spiegel-Beststellerliste hat es längst geschafft.
Dieser Erfolg kommt nicht von ungefähr: Die Popularität des Autors spielte sicher eine Rolle, immerhin ist Axel Hacke kein Unbekannter. Zahlreiche Leserinnen und Leser lieben seit Jahren seine Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung; etliche verschlangen eines seiner vielen Bücher; allein Der weiße Neger Wumbaba, im Jahr 2004 erschienen, ist heute in der 30. Auflage erhältlich. Doch hinzu kommt offenbar, dass sein neues Buch einen Nerv trifft, oder vielleicht besser gesagt, ein tiefes Unbehagen. Anlässe dafür gibt es viele: Die Schamlosigkeit des amerikanischen Präsidenten; die Hetze gegen Flüchtlinge; der ungebremste Hass auf die Regierung Merkel, der sich bei Pegida-Demonstrationen entlädt; die Leichtigkeit, mit der andere als Rassisten bezeichnet werden, und so weiter. Gerade in den sozialen Medien muss man nicht lange nach Einträgen suchen, die bewusst beleidigend, ja diffamierend sind. In der politischen Auseinandersetzung herrscht zunehmend ein Ton der Verachtung und der Aggressivität. Das gilt nicht nur für den Schlagabtausch zwischen „Linken“ und „Rechten“ (obwohl es diese als einheitliche Positionen nicht gibt). Die Stimmung ist insgesamt gereizt. Geschlecht, Religion oder Demokratie sind hochsensible Themen geworden; Lagerdenken und Zuordnungszwang sind kaum zu übersehen. Der Ausdruck shitstorm ist mittlerweile geläufig und bezeichnet eine neue Normalität des Umgangs.
Wäre „Anstand“ eine Möglichkeit?
Natürlich ist das nicht die ganze Realität. Aber es ist doch eine Tendenz, die über die schon immer beklagte Rücksichtslosigkeit hinausgeht, die meist die Älteren den Jüngeren zuschreiben. Es handelt sich um einen gewichtigen Trend, zu dem gegenwärtig fast jeder von uns eine Geschichte kennt. Es sind unterschiedliche Geschichten, und man tut gut daran, nicht alle davon über einen Kamm zu scheren. Dennoch, es sind etliche Vorkommnisse, sie ereignen sich täglich. Axel Hacke treibt das um. „Auf dem Spiel steht das Funktionieren unserer Gesellschaft“, formulierte er letzten Sommer einmal. „Warum brechen sich solche Dinge Bahn in einer solch reichen Gesellschaft wie unserer?“ fragt er nun, und sein Buch ist ein Versuch, über dieses Problem nachzudenken. Globalisierung und Digitalisierung tauchen als Stichworte auf. Vor allem aber denkt er darüber nach, was man dieser Entwicklung eigentlich selber entgegensetzen könnte. Wäre „Anstand“ eine Möglichkeit?
Axel Hacke geht es nicht um einfache Benimmregeln und Manieren, sondern um den Umgang der Menschen miteinander. Doch keine Sorge, er kommt nicht mit dem moralischen Zeigefinger daher. Sein Stil ist das nicht. Entsprechend ist das Buch eher eine Annäherung an die Frage, was „Anstand“ denn eigentlich sein könnte. Schnell beantwortet ist die Frage nicht, zu unterschiedlich sind die Vorstellungen davon, was Anstand sei, wie Hacke weiß und in Erinnerung ruft. Selbst Massenmörder, wie Heinrich Himmler, führten das Wort im Munde und riefen ihre Gefolgsleute dazu auf, „anständig“ zu sein – sofern es das eigene „Volk“ betraf. Selbst Mord widersprach dem so verstandenen „Anstand“ nicht.
Wäre es vor diesem Hintergrund nicht besser, ein so dehnbares Wort wie Anstand gar nicht mehr aufzurufen? Axel Hacke widerspricht, und er hat dafür ein gutes Argument: „Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es immer zu den wesentlichen strategischen Grundsätzen der Feinde von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit gehörte, sich Begriffe, die nicht ihre waren, zu eigen zu machen, sie einfach umzudrehen, ihnen so ihren Sinn zu nehmen – und ihren Kampf mithilfe dieses Wortraubs erfolgreich zu führen“, erläutert er. Und seine Schlussfolgerung ist gleichsam schon ein Plädoyer: „Ich würde also einen Begriff, der mir etwas bedeutet, nicht einfach aufgeben, das wäre vielleicht schon der Beginn der Kapitulation vor jenen, deren Verhalten ich als unanständig empfinde.“
Der Appell, sich die Begriffe, die einem wichtig sind, nicht nehmen zu lassen, ist eine starke Position. Doch das Buch selbst gewinnt seine Stärke gerade daraus, dass es nicht thesenstark ist oder in einem Gestus geschrieben, als hätte es die entscheidenden Antworten auf grundlegende Probleme der Welt zu bieten. Axel Hacke tritt bescheidener auf: Das Buch ist so gestaltet, als ließe der Autor uns an einem Denkprozess teilhaben, der nicht zuletzt durch ein Gespräch zwischen ihm und einem Freund in Gang gehalten wird. Diese Dialoge, die verschiedentlich in den Text eingestreut sind, machen ihn leichtfüßig. Sie ermöglichen es, Gegenargumente aufzunehmen und die Perspektive zu wechseln. So startet Axel Hacke auch erst einmal damit, eine „halbwegs tragfähige Definition“ von Anstand zu geben; es ist eher assoziativ, denn „alles Weitere soll sich ja erst noch erweisen“: „Unter Anstand würde ich einen Sinn für Gerechtigkeit verstehen, auch ein grundsätzliches Gefühl für Solidarität mit anderen Menschen“, schreibt er; „Fairness“ fällt als weiteres Stichwort, und „Offenheit, auch sich selbst gegenüber“, ebenso „Aufrichtigkeit: zu handeln und zu reden ohne Hintergedanken. Fähig zu sein, das eigene Reden und Handeln kritisch zu sehen. Und den Willen zu haben, sich an die Gebote zu halten, so gut es geht.“
Clausnitz
So gut es geht. Axel Hackes Credo ist nicht moralische Unbarmherzigkeit, weder gegenüber sich selbst und auch nicht gegenüber anderen. Deshalb sind es nur wenige Pflöcke, die er wirklich einschlägt. Dazu gehört seine Überzeugung, dass es „einen Anstand, den man glaubt, nur bei bestimmten Menschen wahren zu müssen“, nicht gibt. Insgesamt aber ist sein Buch zur Frage, wie wir miteinander umgehen, eine Aufforderung, doch einmal innezuhalten, bevor wir harsch über andere urteilen: Nicht jeder, der sich rassistisch äußerst, ist auch ein Rassist, gibt Hacke zu bedenken. (Was nicht heißt, dass er nicht dafür wäre, einen Lügner Lügner zu nennen und einen Rassisten Rassisten.) Er plädiert für das genauere Hinsehen, und ein Beispiel, an dem er erläutert, warum dies wichtig ist, sind die Vorfälle, die sich im Februar 2016 im sächsischen Städtchen Clausnitz ereigneten. Grölende Einwohner hatten sich damals versammelt, um einen Bus zu blockieren, der Asylbewerber zu einer Unterkunft brachte. Sie hatten die Menschen im Bus bedroht, ihre Aggressivität gegen kleine Kinder, Frauen und Familien gerichtet, ohne dass diese ihnen irgendetwas zuleide getan hätten. Axel Hacke nennt ein solches Verhalten eine Dummheit als „Gefühlsfehler“ (Robert Musil); eine Furcht vor dem Leben und die Angst vor der Zukunft zählten zu ihren Gründen, gepaart mit einer Unfähigkeit, mit diesen Ängsten anders als hassend umzugehen.
Doch die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende. Zu ihr gehört, dass auch eine Helferin, die die Flüchtlinge begleitete, unflätig angeschrien und damit bedroht worden war, ihr Haus würde am nächsten Tag brennen. Der Täter suchte jedoch später die Frau auf, um sich zu entschuldigen. Angeblich hatte er den Satz sofort bereut, und ähnlich äußerten sich offenbar auch einige andere aus dem Kreis der schreienden Meute. Gegenüber dem Bürgermeister räumten sie ein, dass ihr Verhalten ihnen peinlich sei. Manche von ihnen sollen sich sogar später dem Helferkreis angeschlossen haben, der die Flüchtlinge unterstützte. Worauf Axel Hacke damit hinaus will, ist: Wir sollten mitbedenken, dass Menschen oft nicht nur einfach dies oder jenes sind. Es gibt Situationen, in denen sich Menschen in etwas hineinziehen lassen, was sie danach durchaus bereuen. Anstand wäre, so gibt uns Hacke zu verstehen, sich den Blick für solche „fließenden Übergänge“ zu bewahren – und damit auch anderen wieder die Möglichkeit zu geben, anständig zu sein.
Axel Hacke ist kein Träumer. Er sagt deutlich: „Bestimmten Leuten bringt man natürlich nie Anstand bei, man muss nur zusehen, dass sie nirgendwo die Oberhand gewinnen und den Ton bestimmen dürfen.“ Doch was ihm widerstrebt, ist das voreilige, das pauschale Urteil, weil es Polarisierungen nur verstärkt, und weil es nicht zur Kenntnis nimmt, dass Menschen nun einmal sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben, zum Beispiel nach überschaubaren und planbaren Lebensverhältnissen. Deshalb sind sie auch unterschiedlich gerüstet, um etwa auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren. Über solche Unterschiede hinwegzugehen, wäre eine Form von Respektlosigkeit, genauso wie man das auch über einen Umgangston in der Öffentlichkeit sagen kann, der sich auf die Ebene niveauloser Schreihälse begibt. Am Ende allerdings geht es nicht ausschließlich darum, dass wir versuchen sollten, andere Menschen ernst zu nehmen. Denn die Voraussetzung dafür ist zuallererst die Einsicht, dass die Welt, in der wir uns bewegen, viel komplizierter ist als wir uns immer wieder vormachen.
Axel Hacke, Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen, München: Kunstmann 2017.