Verena Stefans Roman „Häutungen“ von 1975 war ein Kultbuch der Neuen Frauenbewegung. Es gilt als „schwierig“, weil schwer einzuordnen. Genau das könnte aber ein Grund sein, das Buch heute wieder zu lesen.

Wie kann es gelingen, für das eigene Erleben Worte zu finden, die über das Subjek­tive hinaus­weisen und mit diesem dennoch verbunden bleiben? Diese Frage hat die 1947 in Bern gebo­rene und am 30. November 2017 in Mont­real verstor­bene Autorin Verena Stefan seit ihrem Roman­debut beschäf­tigt. 1975 veröf­fent­lichte sie Häutungen. Das Buch, das jenseits des etablierten Lite­ra­tur­be­triebs zu einem Best­seller wurde, gab keine Antworten. Es stellte das Problem als solches in den Raum: Dass Sprache kein unschul­diges Medium ist, sondern eine Struktur, in der ökono­mi­sche, soziale und poli­ti­sche Verhält­nisse abge­la­gert sind – Verhält­nisse, die auf einer langen Geschichte der Unter­ord­nung des Weib­li­chen unter das Männ­liche beruhen. Männer­be­zie­hungen und ihr Wegfall sind denn auch das titel­ge­bende Motiv von Häutungen. „Ich wollte zu ende denken, was geschehen würde, wenn frauen sich von männern los sagten“, beschreibt die Autorin ihr Projekt.

„Aufent­halts­be­din­gungen in der Welt der Männer“

Häutungen ist ein Patch­work verschie­den­ar­tiger Text­sorten, bestehend aus Gedichten, Gesprächs­frag­menten, Tage­buch­ein­trägen und Traum­pro­to­kollen. Der Roman liest sich als Selbst­er­kun­dungs­be­richt und kreist um die sexu­ellen Erfah­rungen der Ich-Erzählerin. Wir folgen den Aufzeich­nungen von Cloe, einer jungen Frau aus Bern, die Ende der 60er Jahre nach West­berlin über­sie­delt. Das Ich, das Verena Stefan entwirft, ist gefangen in einem Körper voll plumper eroti­scher Sehn­süchte, deren Erfül­lung notwendig schei­tern muss, da sie einem männ­li­chen Script entstammen.

Aus diesem engen Gehäuse einer Selbst­wahr­neh­mung, die vom formenden Blick von Männern bestimmt und auf deren Begehren ausge­richtet ist, will Cloe ausbre­chen. In Berlin kommt sie in Kontakt mit den Befrei­ungs­ideen der Neuen Linken, empfindet aber auch diese als männer­zen­triert. Ihr Journal proto­kol­liert die Suche nach einem Zugang zum eigenen Körper und doku­men­tiert dessen Verein­nah­mung und Kolo­ni­sie­rung durch Männer. Mit ihrem zuneh­menden Enga­ge­ment in der Frau­en­be­we­gung und ihrer Hinwen­dung zu lesbi­schen Bezie­hungen setzt Cloe einen Prozess der allmäh­li­chen Heraus­lö­sung aus der hete­ro­nor­ma­tiven Einstellungs- und Erwar­tungs­ma­trix in Gang. Stefan beschreibt einen Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zess, in dem die Erin­ne­rungs­ar­beit und die Loslö­sung von den entfrem­denden Bezie­hungen zum anderen Geschlecht meta­pho­risch als Häutung erfahren wird – als ein mehr­schich­tiger Prozess der Befreiung und Ich-Werdung. Zum Schluss ihres Jour­nals wird Cloe sagen können: „Der mensch meines lebens bin ich.“

(De)Kolonisierung der Frauen

Verena Stefan schrieb nicht im kühlen Studier­zimmer. Ihr Buch entstand im Umfeld einer heissen Gegen­kultur, die den Text entschei­dend mitformte. Häutungen ist der erste lite­ra­ri­sche Text in deut­scher Sprache, der unmit­telbar aus der Neuen Frauen- und Lesben­be­we­gung hervor­ge­gangen ist. Die proto­kol­lierten Erfah­rungen wären unmög­lich gewesen ohne deren Struk­turen (wie Frauen-WGs, Frau­en­häuser, Frau­en­gruppen) und Prak­tiken (wie Aktionen, Bewusst­seins­trai­ning, Bera­tung). Undenkbar gewesen wäre das Buch auch ohne Vorden­ke­rinnen wie Simone de Beau­voir, deren Buch Das andere Geschlecht Verena Stefan ihrer Ich-Erzählerin in die Hand legt, oder dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas. In ihrem Bücher­regal standen die wich­tigsten Werke der ameri­ka­ni­schen Frau­en­be­we­gung: Betty Friedans Der Weib­lich­keits­wahn, Kate Milletts Sexus und Herr­schaft und Shul­a­mith Fires­tones Frau­en­be­freiung und sexu­elle Revo­lu­tion.

Als Schmelz­tiegel dieser unter­schied­li­chen Ideen fungierte die Berliner Frau­en­gruppe Brot und Rosen, die Stefan im Jahr 1972 mit der Filme­ma­cherin Helke Sander und der Malerin Sara Schuh­mann ins Leben rief. Hier schlugen Theorie und Praxis wech­sel­seitig aufein­ander durch. „Das war ein neues, uner­hörtes Denken“, erzählt Stefan 2008 im Rück­blick. „Wir haben uns die Köpfe heiss geredet über die Situa­tion der Frau im Patri­ar­chat, die Frau als Fremde, Aussen­sei­terin.“ Der Hunger nach Wissen, Forschen, Umdenken und nach eigenen Worten sei riesig gewesen. In der Aufklä­rungs­ar­beit über den weib­li­chen Körper sah die Gruppe einen zentralen Bestand­teil ihrer eman­zi­pa­to­ri­schen Praxis und veröf­fent­lichte 1972 das kollektiv verfasste Frau­en­hand­buch Nr. 1. Die gemein­same Lektüre und Diskus­sion von femi­nis­ti­scher Lite­ratur legte die Grund­lage, um Schritt für Schritt auszu­steigen aus einem System, das in Frauen nur das Andere sah. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. „Je länger wir an diesen Themen arbei­teten und die Welt kritisch anschauten, desto mehr Knatsch gab es in unseren Bezie­hungen mit Männern. Einige gingen in die Brüche, auch meine.“ Im Jahr 1973 wurden Brot und Rosen ange­fragt, für eine Ausgabe des Kurs­bu­ches einen Artikel über Linke, Bezie­hungen und die Neue Frau­en­be­we­gung zu verfassen. Das war der Anfang von Häutungen. Ausge­hend von ihren Tage­bü­chern und im stän­digen Austausch mit der Frau­en­gruppe begann Stefan mit dem Umschreiben ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Petti­coat und Penisneid

Natür­lich wäre der Roman nicht zustande gekommen ohne den Stoff, ohne die Erfah­rungen, die Stefan im Gepäck mit sich trug. Dazu gehörten eine Kind­heit und Jugend in einer Klein­fa­milie auf dem Dorf und der Besuch des Gymna­siums in der Stadt Bern. Die 1960er Jahre waren eine Zeit, in der der ameri­ka­ni­sche Traum vom Eigen­heim für viele Wirk­lich­keit wurde und Frauen die für sie vorge­se­hene Rolle der sich aufop­fernden Haus­frau im Petti­coat ausfüllen sollten. Die Reali­sie­rung der Haus­frau­enehe ging mit einer Veren­gung weib­li­cher Hand­lungs­spiel­räume einher. Das Liebes­ideal verbarg den Alltag von Frauen hinter einem mythi­schen Schleier, zu dem auch die Psycho­ana­lyse das ihrige beitrug – etwa mit dem „Penis­neid“, den sie Frauen attes­tierte. Dass diese Rech­nung nicht aufgehen konnte, hatte die Schweizer Juristin Iris von Roten bereits 1958 fest­ge­halten. Ihr kämp­fe­ri­sches Buch Frauen im Lauf­gitter stellte die Ehe als ein Verlust­ge­schäft für Frauen dar – in finan­zi­eller, persön­li­cher und sexu­eller Hinsicht. Das stimmte auch für Verena Stefans Mutter, die um der Familie Willen ihr künst­le­ri­sches Talent versiegen liess und zeit­weise an schweren Depres­sionen litt. Noch ganz auf dieser Linie wird Stefans adoles­zentes Erzähl-Ich im Roman beherrscht von der fixen Vorstel­lung, ohne einen Mann nicht voll­wertig zu sein, aber auch von der Sehn­sucht nach Nähe und Zärt­lich­keit. Im Koitus, auf den beides zuläuft, erfährt Cloe aber das Gegen­teil: Entfrem­dung, Schmerz und Unge­nüg­sam­keit. Auch sie tappt zunächst – wie ihre Mutter – in die Liebes­falle, erkennt aber bald, dass Liebe oft nichts anderes sei als eine Schreck­re­ak­tion: „Eine reak­tion auf den schreck, dass die wirk­lich­keit so brutal anders ist, als die vorstel­lung von ihr. Durch liebe lässt sich bruta­lität eine weile vertuschen.“

Das private Unbe­hagen in der Klein­fa­milie und Paar­be­zie­hung fand in der Neuen Frau­en­be­we­gung einen neuen Reso­nanz­boden. Der Bruch mit herkömm­li­chen Rollen­bil­dern und Bezie­hungs­struk­turen schlug sich in neuen Themen­set­zungen und expe­ri­men­tellen Lite­ra­tur­formen nieder. Zeit­gleich mit Verena Stefan veröf­fent­lichte etwa auch die Schweizer Schrift­stel­lerin und Jour­na­listin Laure Wyss unter dem Titel Frauen erzählen ihr Leben vier­zehn Oral-History-Porträts von ganz gewöhn­li­chen Frauen. Diese Lebens­ge­schichten inter­es­sieren sich für die Brüche zwischen Ideal und Wirk­lich­keit in konkreten Frau­en­bio­gra­fien und beleuchten einen Alltag, der jenseits der femi­nis­ti­schen Bewe­gung weit­ge­hend ausge­klam­mert wurde.

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„Beim Schreiben bin ich auf die Sprache gestossen“

Anders als Wyss und andere Vertre­te­rinnen der Frau­en­be­we­gung ging es Verena Stefan jedoch nicht vor allem um Gleich­be­rech­ti­gung. „Ich will neben keines mannes bruta­lität und verküm­me­rung gleich­be­rech­tigt stehen“, hält ihre Ich-Erzählerin lako­nisch fest. Ihre Kritik war grund­sätz­li­cher Art. Sie zielte auf das herr­schende Regime der Sag- und Sicht­bar­keit – und damit auf die Sprache selbst. „Beim schreiben dieses buches, dessen inhalt hier­zu­lande über­fällig ist, bin ich wort um wort und begriff und begriff an der vorhan­denen sprache ange­eckt“ schreibt Stefan im Vorwort. „Die sprache versagt, sobald ich über neue erfah­rungen berichten will.“ Die Unsag­bar­keit lesbi­scher Erfah­rungen in der Alltags­sprache sowie die Verdrän­gung des weib­li­chen Alltags aus dem öffent­li­chen Diskurs über­haupt: Für Stefan war beides aufs Engste mit der unter­ge­ord­neten Posi­tion von Frauen in der Gesell­schaft verbunden, die sich sprach­lich beständig reproduzierte.

Häutungen ist ein lite­ra­ri­scher Befrei­ungs­ver­such. „Es ging mir darum, die fälschungen meiner eigenen geschichte zu korri­gieren“, lässt Verena Stefan ihre Prot­ago­nistin sagen. Mit Hilfe eines neuen Voka­bu­lars und einer neuen Gram­matik macht diese sich ans Umschreiben ihrer Geschichte. Seine dich­te­ri­sche Kraft bezieht das Buch aus einer Ästhetik der zerschla­genen Formen, aus dem Spiel mit dem Satzbau und der gezielten Regel­ver­let­zung, zu der auch die Aufgabe der Gross- und Klein­schrei­bung gehört. Im Anschluss an lite­ra­ri­sche Vorbilder wie Christa Wolfs Nach­denken über Christa T. und an die fran­zö­si­sche écri­ture fémi­nine einer Monique Wittig, Luce Irigaray oder Hélène Cixous schrieb Stefan gegen eine Sprach­ord­nung an, die patri­ar­chale Struk­turen in die Geschichte und in die Selbst­wahr­neh­mung von Frauen einprägte. Mit ihrer Heraus­lö­sung aus der hete­ro­se­xu­ellen Ordnung, die zur Tren­nung Cloes von ihrem Partner und zum Eingehen von Frau­en­be­zie­hungen führt, beginnt für die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Buches das Tasten nach einem weib­li­chen Ich, das irgendwo in der Geschichte – in der eigenen Biografie, aber auch in der Geschichte der Mensch­heit – verloren gegangen sei.

Gerade der letzte Teil des Buches, in dem Stefan von der Sprach­kritik zur Sprach­schöp­fung wech­selt und eine am Ursprung der Geschichte ersehnte matri­ar­chale Weib­lich­keit aufzu­de­cken versucht, ist inner­halb der Neuen Frau­en­be­we­gung äusserst kontro­vers disku­tiert worden. Die Suche nach einer alten weib­li­chen Kultur galt hier als mensch­lich zwar verständ­li­cher, poli­tisch aber gefähr­li­cher Rückzug auf eine refle­xi­ons­feind­liche Unmittelbarkeit.

Eine Denk­be­we­gung lebendig halten

Als das Buch 1975 erschien, wussten es viele nicht so richtig einzu­ordnen. In den Feuil­le­tons sprach man von „Bekennt­nis­li­te­ratur“: zu persön­lich, zu viel Nabel­schau, zu aktio­nis­tisch. Obwohl die auto­bio­gra­fi­schen Aufzeich­nungen Stefans heute zum Stoff von Germa­nis­tik­se­mi­naren gehören, gilt das Buch auch lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich eher als „schwierig“, weil sehr zeit­ge­bunden und schwer einzuordnen.

Wenn es mit Häutungen ein Problem gibt, dann liegt dieses jedoch weniger am Kontext dieses Denkens als in der Ausson­de­rung dieser Kritik­linie aus der Selbst­re­fle­xion der Gegen­wart. Der Rückzug in abge­schot­tete „Frau­en­pro­jekte“, den Verena Stefan in den 1980er Jahren selbst vollzog, ebenso wie die Aussor­tie­rung dieser Stimmen in die Rubrik der „Frau­en­li­te­ratur“ oder ihr Outsour­cing ins wissen­schaft­liche Spezi­al­ge­biet der Gender Studies haben zur Insti­tu­tio­na­li­sie­rung, aber gleich­zeitig auch zur Peri­phe­ri­sie­rung des femi­nis­ti­schen Blicks beigetragen. Auch heute geben Stefans lite­ra­ri­sche Erkun­dungen im Feld der herr­schenden Sprach- und Gesell­schafts­ord­nung keine schlüs­sigen Antworten. Es ist aber genau die Offen­heit und Unsi­cher­heit, mit der sie nach neuen ästhe­ti­schen Formen und Gegen­ent­würfen sucht, die nach wie vor über­zeugt und die den Blick schärft für die Möglich­keits­be­din­gungen einer Kritik, die nicht den Status quo fest­schreibt. Ohne allen Analysen Stefans zuzu­stimmen oder spätere Schwer­punkte im Einzelnen zu recht­fer­tigen: Es ist wichtig, diese Denk­be­we­gung lebendig zu halten und dort zu refor­mu­lieren, wo die Verein­nah­mung von Frauen gegen­wärtig wieder und immer noch genauso wirksam ist wie vor fünfzig Jahren.