Der russische Dichter Valerij Brjusov schrieb 1905 eine Erzählung über eine sonderbare, äußerst ansteckende und tödliche Krankheit. Er dachte dabei nicht etwa an eine Grippe, an die Pest oder an Typhus. Er dachte an Tolstoj. Lev Tolstoj hatte fünfzehn Jahre lang an einer Kunsttheorie gearbeitet, in der Ansteckung der zentrale Begriff ist. Er war davon überzeugt, dass nur Kunst, die anzustecken vermag, wahrhafte Kunst sei. Der Autor, so Tolstojs Idee, stecke die Leser genau mit jenem Gefühl an, das er selbst beim Schreiben empfunden habe, er versetze die Leser*innen auf diese Weise „alle in ein und dieselbe Stimmung“. Brjusov erschauderte bei einer solchen Vorstellung von direkter Übertragung durch Kunst und antwortete mit einer parodistischen Erzählung auf dieses aus seiner Sicht so durch und durch dystopische Denken.
Brjusovs Erzählung mit dem Titel „Die Republik des Südkreuzes“ ist hochaktuell. Nicht, weil sie uns etwas über Corona und die Ansteckung mit einem Virus wissen lässt – das kann sie nicht –, sondern weil sie uns etwas über den Ausbruch von Ansteckungs-Metaphern erzählt und darüber, wie überlebenswichtig es ist, zwischen diskursiver „Ansteckung“ und viraler Ansteckung unterscheiden zu können.
„Widerspruchswut“
Die Krankheit, die in Brjusovs Erzählung in der Republik des Südkreuzes grassiert, heißt Widerspruchswut (mania contradicens): „Ihren Namen erhielt sie, weil die daran Erkrankten ständig ihren eigenen Wünschen widersprechen, sie wollen das eine, sagen und tun aber das Gegenteil.“ Die Redeweise der Einwohner wird unverständlich, ihr Verhalten unsinnig, wer eigentlich nach links gehen will, geht nach rechts.… und so weiter. Zudem ist die Widerspruchswut hochansteckend und wird – und da kommt Tolstoj das erste Mal ins Spiel – am effektivsten im Theater oder durch Zeitungen übertragen:
Bei Theateraufführungen und Versammlungen zeitigten plötzliche Erkrankungen sehr häufig tragische Folgen. In der Oper stürzten einige hundert Zuschauer, vom Massenwahnsinn gepackt, auf die Bühne, und anstatt ihre Begeisterung darzubringen, verprügelten sie die Sänger. Im Großen Schauspielhaus feuerte ein plötzlich erkrankter Schauspieler, der laut Rolle Selbstmord begehen sollte, einige Male in den Zuschauerraum. Der Revolver war natürlich nicht geladen, doch infolge der nervlichen Anspannung brach bei vielen Zuschauern die bereits latent vorhandene Krankheit aus. In dem darauffolgenden Chaos, in dem die natürliche Panik noch durch die ‚widersprüchlichen’ Handlungen der Irren verstärkt wurde, kamen einige Dutzend Menschen ums Leben. Nach diesem Vorfall ordnete Horace Diville an, alle Theater- und Musikveranstaltungen in der Stadt einzustellen.
Dass Brjusov in der „Republik des Südkreuzes“ ausgerechnet Widerspruchswut ausbrechen ließ, hatte noch einen anderen Grund. Und der hat wieder mit Tolstoj zu tun. Der Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation, Max Nordau, geboren als Maximilian Südfeld, hatte zu Beginn der 1890er Jahre seine vielrezipierte Hetzschrift „Entartung“ veröffentlicht, die dann 1893 ins Russische übersetzt wurde. Nordau hatte darin eine ganze Reihe von Dichtern, Musikern und Denkern als ansteckend, krank, ja entartet befunden. Dazu gehörten Wagner, Nietzsche, Zola, Baudelaire, der gesamte französische Symbolismus, Ibsen – und Tolstoj. Bei Tolstoj diagnostizierte Nordau Widerspruchswut.
Brjusov nun sperrt in seiner Erzählung Tolstoj und Nordau im Grunde zusammen in ihren eigenen Utopien bzw. Dystopien ein. Er wusste vermutlich, dass Nordaus Buch Tolstoj selbst in die Bredouille gebracht hatte. Denn Tolstoj verurteilte in „Was ist Kunst?“ ganz ähnliche Künstler als schlechte, weil unaufrichtige Künstler, darunter die französischen Symbolisten, Zola, aber auch Beethoven. Aufgrund seiner fortschreitenden Taubheit sei Beethoven nicht mehr in der Lage gewesen zu hören und damit auch zu empfinden, was er komponierte. Dies habe dazu geführt, dass der taube Beethoven „völlig konstruierte, unfertige und daher oft sinnlose, musikalisch unverständliche Werke“ geschrieben habe, die das Publikum nun mit nervösen Gefühlen anstecken. So ist es kein Wunder, dass eine Sonate von Beethoven, die Kreutzersonate, bald die Hauptrolle in Tolstojs gleichnamiger Erzählung spielt. Sie wird dort als „gefährliche Sache“ dargestellt, wobei Tolstoj insinuiert, dass das Hören der Sonate sogar zum Mord geführt haben könnte. Vereinfacht gesagt wollte Tolstoj unterscheiden zwischen einer guten Ansteckung durch ein ehrliches, möglichst religiöses Gefühl des Autors und einer verwerflichen Ansteckung durch gekünstelte, abstrakte Werke – durch Kunstimitate, wie Tolstoj sie nennt.
Grassierende Ansteckungsmetaphern
Mit Nordau – und leider eben auch mit Tolstoj – wurde am Ende des 19. Jahrhunderts ein Ansteckungs-Denken unter die Leute gebracht, das dann später – ich nehme es vorweg – in den Ideologien des 20. Jahrhunderts, der Sowjetunion und in Nazideutschland wiederverwendet werden wird. Aber die beiden sind nicht die einzigen, die von Ansteckung sprachen, im Gegenteil, es ist wohl der Ansteckungsgedanke selbst, der im kunstsoziologischen, psychischen und auch politischen Diskurs grassierte. Jean Marie Guyau, seinerseits Kunstsoziologe, glaubte, dass Kunst und alle zeichenhaften Systeme indirekte Mittel zur Übertragung von Emotionen seien, er schreibt von Nervenschwingungen und Nervenwellen, die zu einer „Solidarität der Nervensysteme“ führen können. Auch bei Tolstoj ging es darum, Gemeinschaft durch Ansteckung zu stiften. Anders dann der Neurologe und Psychiater Vladimir Bechterev, der zwischen „physischen Infektionen“ und nicht physikalisch greifbaren Infektionen unterschieden hat, die durch ein contagium psychicum verursacht würden. Bechterev warnte auch davor, die Rede von der Ansteckung selbst zu verbreiten, weil die Geschichte der „psychischen Epidemien“ immer einhergehe mit einer Ideologie (politisch oder religiös), die behauptet, dass Sprache oder Kunst als Übertragungsmittel von Sünde und damit verbunden von Krankheit überhaupt in Frage kommt.
Während Nordaus Konzept der Entartung von den Nazis aufgegriffen wurde, schien Tolstojs Idee in der Sowjetunion für Agitprop interessant. Der Kommissar für Aufklärung Anatolij Lunačarskij griff, mit Lenins Unterscheidung von Agitation und Propaganda im Hinterkopf, auf Tolstoj zurück und schrieb, dass Ansteckung durch Kunst als „Organisator von Ideen und Emotionen“ dienen könne. Wie problematisch dieser Gedanke ist, formulierte bereits Mitte der 1920er Jahre der sowjetische Psychologe und Literaturwissenschaftler Lev Vygotskij in einem treffenden Kommentar zu Tolstoj: „Wenn ein Gedicht über die Traurigkeit nichts wollte, als uns mit der Traurigkeit des Verfassers anzustecken, so wäre das sehr traurig für die Kunst.“
Die Folgen einer solchen Kunsttheorie sind nicht nur für die Kunst verheerend. Wer davon ausgeht, dass man beim Lesen mit dem Gefühl des Autors angesteckt wird, hat einen empfangenden Leser im Sinn, wobei dann die Kunst nur noch als bloßes Medium oder als „Resonator“ fungiert. Dies wäre nützlich für Religion und auch für Ideologien, sie könnten dadurch Zensur legitimieren und auch Autoren rückwirkend in die Verantwortung nehmen, wenn Zuhörer „falsche“ Gefühle entwickeln.
Gefährliche Fehllektüren
Was hat das nun alles mit dem Corona-Virus zu tun? Bzw. mit dem Reden über den Virus? Slavoj Žižek hat vor einigen Tagen Giorgio Agambens Reaktion auf den Ausbruch des Corona-Virus zu Recht kritisiert, auch der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ging hart mit Agamben ins Gericht. Agamben hatte die Maßnahmen in Italien ins Lächerliche gezogen, sie als „irrational“ und „unbegründet“ diffamiert und die Epidemie als „mutmaßlich“ verharmlost. Dabei resümierte er, dass die Situation politisch genutzt werde, er beobachtete die „zunehmende Neigung, den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma zu nutzen“. Wie er argumentierten viele im früheren Stadium der Epidemie. Sie zogen Theorien herbei, die eine totalitäre Überwachung kritisierten, Solidarität als Vorstufe von Kommunismus interpretierten oder, im Gegenteil, in Selbstsorge eine Manifestation des Neoliberalismus sehen wollten. Wir wissen inzwischen, dass das ein gefährlicher Irrtum war.
Agamben verwechselte die tatsächliche Epidemie mit dem, was Bechterev psychische Epidemie genannt hätte, er verwechselte seine Antipathie gegen ansteckende Effekte in der Propaganda mit der Ansteckung in der Realität. Er interpretierte die Fakten als Meinungsmache. Žižek nennt dieses Leugnen der Tatsachen „Ideologie in der reinsten Form“, wobei Agambens fatale Fehllektüre in einem politischen Kontext auch zu einem organisierten Leugnen werden kann.
Aber egal, worum es sich handelt, sowohl die Fehllektüre als auch das Leugnen sind nun gefährlich, ja lebensgefährlich. Das anfängliche Leugnen, Beschwichtigen und Immun-Getue wird vermutlich viele Menschenleben gekostet haben, genau werden wir das nie erfahren. Wer jetzt nicht zwischen Desinformation und objektiver Gefahr unterscheiden kann, gefährdet sich und andere. Einen solchen Moment existentieller Rezeption und Einschätzung haben die meisten von uns noch nie erlebt.
Žižek forderte verständlicherweise mehr Differenzierung und kritisierte die reflexartige Übernahme von Theorien des Ausnahmezustands oder der Überwachung aus dem politischen und philosophischen Diskurs für die Beschreibung der Situation der Pandemie.
Doch dass Žižek am Ende seines Artikels dann ausgerechnet auf Tolstoj zu sprechen kommt, ist irritierend. Tolstoj habe „das menschliche Wesen als ein passives leeres Medium, das von affektbeladenen kulturellen Elementen infiziert ist“, gesehen und zugleich eingesehen, dass es „keine echte geistige Autonomie“, keine „Souveränität“ gebe. „Der Mensch trage weiter, was ihm zugetragen werde“, so sein Resümee. Damit gibt sich Žižek mit dem zentralen Narrativ aus dem Umfeld der psychischen Ansteckung zufrieden, nämlich dass die Leser*in bloße Empfängerin sei und nichts gegen die geistige Infektion machen könne.
Das war zwar nicht das Problem von Agamben, denn dieser dachte ja, er sei immun gegen Propaganda, die sich dann als Realität herausstellte. Aber auch umgekehrt wird kein Schuh draus: Nur weil ich mich gegen den Virus nicht immunisieren kann, muss ich nicht auch glauben bzw. empfangen, er sei eine kapitalistische Optimierung der Gesellschaft, Werkzeug einer jüdischen Weltverschwörung, natürlich von Soros organisiert, oder ein Versuch der CIA, China auszuschalten.

Reden zwar inzwischen von „social distancing“, praktizieren es aber nicht. Quelle: handelsblatt.de
Es ist genau diese Vorstellung von geistiger Übertragung, die schon Brjusov in seiner Erzählung parodierte, denn auch wenn der Mensch nicht souverän und nicht autonom ist, so ist er doch auch kein pures Medium. Und Solidarität – solange es sich nicht um die „Solidarität der Nervensysteme“ handelt – ist nicht das Gegenteil von Autonomie und Souveränität. Um dies zu wissen oder zu erfahren, sollten wir keinen Corona-Virus benötigen. Banal gesagt, die komplexen physischen Prozesse einer Ansteckung mit Corona werden wir nicht mit Konzepten geistiger Ansteckung interpretieren können, das könnte schlimmstenfalls selbst die physische Ansteckung befördern. In Brjusovs Widerspruchswut-Dystopie würde das bedeuten, dass Diskurs und Realität sich völlig widersprechen: Die Theorie sagt das eine, und der Virus macht einfach das Gegenteil.