Keine Frage: „Populismus“ ist – nicht anders als „Demagogie“ – ein heillos unscharfer Begriff. Auf der Basis des lateinischen populus, Volk, gebildet, kommt der Terminus Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der von Farmern getragenen People’s Party in den Vereinigten Staaten auf. Er wird seither auf die unterschiedlichsten politischen Phänomene angewandt. Meist handelt es sich um einen Kampfbegriff: Was immer man genau darunter versteht, das Wort impliziert in der Regel Verachtung für als extrem empfundene Formen eines emotional aufpeitschenden Politstils. Dieser Politstil wird heute eher mit dem rechten Ende des Parteienspektrums assoziiert, kann jedoch genauso auch am linken Rand diagnostiziert werden – vom Nationalsozialismus, der den Rechts-Links-Gegensatz schon im Namen zu überwinden trachtete, ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass der Terminus von prominenten Rechtspopulisten wie Stephen Bannon affirmativ, als stolze Selbstbezeichnung, gebraucht wird. Auch aus politikwissenschaftlicher Position wird zuweilen eine positivere Sicht vertreten und Populismus als unabdingbar mit Demokratie verknüpft betrachtet.
Angesichts der Vieldeutigkeit des Begriffs könnte man sich fragen, ob nicht besser überhaupt darauf verzichtet wird. Und doch spricht allein schon die häufige Verwendung des Worts im öffentlichen Diskurs für das Bedürfnis, schwer zu leugnende Veränderungen in der politischen Wirklichkeit des vergangenen Jahrzehnts sprachlich zu erfassen. Ein Ausdruck wie „illiberale Demokratie“ steht in ähnlicher Weise für das verbreitete Unbehagen vor weltweit fast synchron zu beobachtenden Entwicklungen der Demokratie westlichen Zuschnitts – einem zunehmenden Hang zu Autoritarismus und zum Aushebeln traditioneller „Checks and Balances“.
Bei aller inhaltlichen Unschärfe des Wortes kristallisiert sich nicht zuletzt in den Forschungen des in Princeton lehrenden Politologen Jan-Werner Müller ein inhaltlicher Kern heraus, der dem schillernden Begriff Konturen verleiht und ihn als heuristisch nützliches Instrument erscheinen lässt. Zu diesem Kern gehört die Konstruktion eines unüberwindlichen Gegensatzes zwischen einem, oder richtiger: dem „moralisch reinen, homogenen Volk“ und den „stets unmoralischen, korrupten Eliten“. Der Populist nimmt dabei für sich ganz selbstverständlich in Anspruch, dass nur er den einen, wahren Volkswillen kennt. Gegner werden entsprechend nicht mehr als politische Konkurrenten, sondern als Volks- und Vaterlandsverräter gesehen, die, wenn nicht physisch, so doch zumindest sozial vernichtet werden sollen.
Ein antiker Testfall

Aristophanes; Quelle: britannica.com
Ein besonders krasses Bild eines Populisten zeichnet schon der geniale altgriechische Komödiendichter Aristophanes in seinen Rittern mit der Figur des Kleon, eines der einflussreichsten athenischen Politiker nach Perikles – so krass, dass man bis vor kurzem dazu tendierte, dem Stück jeden Wirklichkeitsgehalt abzusprechen und von einer typisch komischen Übertreibung auszugehen. Und doch: Seit die politische Wirklichkeit ‘beyond the Ocean’ jede Satire übertrifft, liest man das Stück mit neuen Augen. Dies umso mehr, als Aristophanes als Komiker ein dezidiert politisches Selbstverständnis hatte und – etwa mit einem Stephen Colbert und anderen Late Night Show Hosts vergleichbar – nicht nur witzig bis zotenhaft unterhalten wollte, sondern auch erzieherisch und politisch auf das Publikum einzuwirken suchte. Bei allen Differenzen der institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie sie für die athenische Demokratie der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. konstitutiv waren, springen bei einem näheren Blick daher zum Teil frappierende Parallelen zwischen Aristophanes‘ negativem Helden Kleon und modernen Populisten, etwa dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, ins Auge.
Zu bedenken ist dabei, dass das Phänomen des Populismus nach antiker Einschätzung in einer bestimmten historischen Situation Athens besonders virulent war und auch weitgehend auf diese beschränkt blieb. Es sind dies die Jahre des Peloponnesischen Bruderkrieges (431–404), der mit grösster Brutalität ausgetragen wurde und zu einem zunehmenden Werteverfall führte. Diese Jahre beendeten eine seit dem Ende der Perserkriege (479) andauernde Boom-Periode, die mit einer bis heute das Bild Athens prägenden grandiosen Bautätigkeit, mit der imperialistischen Ausdehnung des athenischen Herrschaftsbereichs und einer immer radikaleren Form der Demokratie einherging. In ihrer Schlussphase traten die Sophisten auf den Plan. Heutigen Politik- und Kommunikationsberatern nicht unähnlich, boten sie der athenischen Führungsschicht ihre Techniken der Beeinflussung und Emotionssteuerung gegen teure Bezahlung an. Die Demagogen der 20er Jahre des 5. Jh. v. Chr. setzten diese von den Sophisten entwickelten Manipulationstechniken im politischen Alltag souverän ein, um ihre Ziele zu erreichen. Ungeachtet aller grundlegenden Unterschiede zwischen der griechischen Antike und der Moderne sind gewisse Ähnlichkeiten und wiederkehrende patterns kaum zu übersehen.
Das Volk und seine Sklaven
In der aristophanischen Komödie wird die Demokratie nun als durchschnittlicher Athener Haushalt eines Herrn „Demos von der Pnyx“ auf die Bühne gebracht – „Pnyx“ ist der Name des unweit der Akropolis gelegenen Ortes für die landsgemeindeartige Volksversammlung, und der „demos“ ist das Volk. Den führenden Politikern wird die Rolle von Sklaven des ältlichen, leicht tauben Hausherrn – des Volks – zugewiesen: bereits dies ein keck provozierendes Statement des Dichters. Mit der Ankunft des jüngst gekauften neuen Sklaven Kleon alias Paphlagon (der „Babbler“) ist das Los für die angestammten Haussklaven – eben die politische Elite – unerträglich geworden. Kleon malträtiert sie und unterbindet jeden Kontakt zu dem von ihm schamlos manipulierten Hausherrn brutal. Tatsächlich ist Kleon, von Aristophanes durchgängig als absolut durchtrieben gezeichnet: ganz besonders stolz darauf, die Stimmungslagen des Volkes genau zu erfassen und ihm zu geben, wonach es lechzt.
Es sind dies zunächst materielle Wohltaten: Der Peloponnesische Krieg hatte vor allem für den ländlichen Mittelstand zu erheblichen Wohlstandseinbussen geführt. Die Bereitschaft, dem Meistbietenden unter den ‘Volksführern’ zu folgen, war angesichts der bitteren Entbehrungen entsprechend gross. Auch heute besteht weitgehend Einigkeit darin, dass Populisten mit ihren vollmundigen Versprechen besonders bei den wirtschaftlich ‘Abgehängten’ auf offene Ohren stossen, und dass eine Präsidentschaft Donald Trumps ohne die Finanzkrise des Jahres 2008 schwer denkbar wäre, anerkennt selbst ein Stephen Bannon.
Schmeichelei gehört zum Geschäft: Der Populist behauptet von sich, als einziger für das Volk zu kämpfen. Aristophanes lässt Kleon sogar von einem erotischen Liebesverhältnis zum Volk reden – und stellt doch sogleich klar, dass diese ‘Liebe’ rein instrumenteller Natur ist und letztlich alles dem Machtstreben und der eigenen Bereicherung untergeordnet wird. ‘Rauben’ und ‘stehlen’, aber auch ‘sich bestechen lassen’ gehören zu den am häufigsten im Zusammenhang mit dem Protagonisten verwendeten Verben. Der aristophanische Kleon steht im Übrigen ungeniert zu seinem Verhalten: „Ich gestehe zu, dass ich stehle“, ja mehr noch: Er behauptet, dass er dies „zum Wohl des Staates“ tue – der umstrittene Harvard-Jurist und Trump-Anwalt Alan Dershowitz könnte das nicht treffender formulieren.

Brittany Johnson: Aristophanes‘ Knights, 2016; Quelle: newyorker.com
Disruption, Manipulation
Zu den Schlüsselkompetenzen des Populisten zählt Aristophanes dessen Fähigkeit, alles durcheinanderzuwirbeln, Unruhe und grösstmögliche Verwirrung zu stiften – aktualisierend könnte man von Disruption reden: Als ‘disrupter in chief’ hat der Kolumnist James Pethokoukis unlängst Donald Trump bezeichnet. Illustriert wird dieses Verhalten bei Aristophanes durch den Vergleich mit Aalfängern: „Wenn der Teich ruhig ist, fangen sie nichts. Wenn sie aber den Schlamm durch und durch aufwühlen, machen sie einen tollen Fang. Auch Du fängst, wenn Du die Stadt in Aufruhr versetzt“.
Auch ein geöltes Mundwerk und rhetorische Kenntnisse sind für das emotionale Aufstacheln hilfreich. Kleon war berühmt für seine krächzend laute Stimme und nutzte die von den Sophisten entwickelten manipulativen Kommunikationsstrategien schamlos zu seinen Gunsten, unabhängig von jedem Wahrheitsgehalt einer Aussage (‘lügen’ und ‘betrügen’ kehren regelmässig im Zusammenhang mit dem Paphlagonier wieder). Er war sich sicher, aufgrund seiner Kompetenzen das Volk nach Belieben umstimmen zu können – und äussert im Stück zugleich seine abgrundtiefe Verachtung für den Demos als schwachsinnigen Dummkopf.
Kleon verführt das Volk dabei nicht allein mit materiellen Versprechen, sondern setzt genauso auf ideelle Überzeugungsstrategien: Er spielt mit patriotischen Gefühlen und appelliert an die Grösse, Stärke und Mission des eigenen Volkes, dem er prahlerisch die Herrschaft über ganz Griechenland in Aussicht stellt („Make Athens Great Again“, gleichsam).
Gegen Institutionen und Eliten
Für die Institutionen, die Kleon sich völlig hörig wähnt, hat der Populist lediglich Verachtung übrig: Plattmachen will er den athenischen Rat, der alle Traktanden der Volksversammlung vorzuberaten hatte; die militärische Führung will er demütigen, ins Gefängnis werfen und sexuell misshandeln. Politische Konkurrenten (die ‘Elite’), gegen die er das Volk aufwiegelt, überschüttet er mit Verbalinjurien und schreit sie nieder. Er operiert mit Schmutzkampagnen gegen sie, wirft ihnen Verschwörung gegen das Volk bzw. Vaterlandsverrat vor – auch dies ein heute anerkanntes Kennzeichen des Populismus –, droht mit Prozessklagen und dem finanziellen Ruin, ja sogar mit physischer Vernichtung.
Zu den von modernen Pendants vertrauten Charakteristika gehört ausserdem der gekonnte Einsatz dreister Ablenkungsmanöver (Stichwort ‘distraction’), um das Gegenüber zu täuschen und hinter dessen Rücken skrupellos die eigene Agenda weiterverfolgen zu können. Wohlbekannt klingt schliesslich auch das Angebot von Schweigegeld, falls man mal ertappt wird: Auf den Vorwurf des Gesprächspartners „Ich weiss sehr wohl, dass Du aus Poteidaia zehn Talente gestohlen hast“ entgegnet Kleon zunächst unverfroren „Was soll’s?“, nur um dann den Deal vorzuschlagen: „Willst Du eins der Talente haben und schweigen?“
Im Spiegel der Antike
Im Grunde ist es schon erstaunlich, wie aktuell und frisch sich bei genauerem Hinsehen das Bild präsentiert, das Aristophanes vor fast 2500 Jahren von den Methoden und Taktiken eines populistischen Agitators gezeichnet hat. Es scheint, als werde so etwas wie ein politischer Phänotyp greifbar.
Beunruhigend ist aus heutiger Sicht, dass in Aristophanes’ witziger Anlage der Komödienhandlung der Teufel Kleon am Ende einzig mit einem noch viel ärgeren Beelzebub ausgetrieben werden kann. Vor allem aber gibt zu denken, dass das couragierte Blossstellen des Populisten durch den Komödiendichter politisch offenbar ohne Konsequenzen blieb: Kleon wurde wenige Wochen nach Aufführung der Ritter vom Volk zu einem der zehn Strategen für das Jahr 424/23 gewählt, und nach seinem Tod scheint mit Hyperbolos ein ähnlich skrupelloser Anführer des Volkes eine Schlüsselrolle in der athenischen Politik gespielt zu haben. Erst nach der verheerenden Niederlage Athens am Ende des Peloponnesischen Krieges wurden Elemente demokratischer Repräsentation definitiv in das politische System eingebaut, welche die wankelmütige „Tyrannei der Mehrheit“ institutionell zügelten und damit auch die Spielwiese der Demagogen markant verkleinerten.