Es ist höchste Zeit, eine antike Komödie wiederzulesen: Denn die Sophisten haben erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Politikberatern und Spin-Doktoren der Gegenwart, der Demagoge Kleon ist der Prototyp eines Populisten – und der Dichter Aristophanes kann uns heute noch die Augen öffnen.

  • Christoph Riedweg

    Christoph Riedweg ist Professor für Klassische Philologie / Gräzistik und Vorsitzender des ZAZH – Zentrum Altertumswissenschaften Zürich der Universität Zürich

Keine Frage: „Popu­lismus“ ist – nicht anders als „Demagogie“ – ein heillos unscharfer Begriff. Auf der Basis des latei­ni­schen populus, Volk, gebildet, kommt der Terminus Ende des 19. Jahr­hun­derts im Zusam­men­hang mit der von Farmern getra­genen People’s Party in den Verei­nigten Staaten auf. Er wird seither auf die unter­schied­lichsten poli­ti­schen Phäno­mene ange­wandt. Meist handelt es sich um einen Kampf­be­griff: Was immer man genau darunter versteht, das Wort impli­ziert in der Regel Verach­tung für als extrem empfun­dene Formen eines emotional aufpeit­schenden Polit­stils. Dieser Polit­stil wird heute eher mit dem rechten Ende des Partei­en­spek­trums asso­zi­iert, kann jedoch genauso auch am linken Rand diagnos­ti­ziert werden – vom Natio­nal­so­zia­lismus, der den Rechts-Links-Gegensatz schon im Namen zu über­winden trach­tete, ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass der Terminus von promi­nenten Rechts­po­pu­listen wie Stephen Bannon affir­mativ, als stolze Selbst­be­zeich­nung, gebraucht wird. Auch aus poli­tik­wis­sen­schaft­li­cher Posi­tion wird zuweilen eine posi­ti­vere Sicht vertreten und Popu­lismus als unab­dingbar mit Demo­kratie verknüpft betrachtet.

Ange­sichts der Viel­deu­tig­keit des Begriffs könnte man sich fragen, ob nicht besser über­haupt darauf verzichtet wird. Und doch spricht allein schon die häufige Verwen­dung des Worts im öffent­li­chen Diskurs für das Bedürfnis, schwer zu leug­nende Verän­de­rungen in der poli­ti­schen Wirk­lich­keit des vergan­genen Jahr­zehnts sprach­lich zu erfassen. Ein Ausdruck wie „illi­be­rale Demo­kratie“ steht in ähnli­cher Weise für das verbrei­tete Unbe­hagen vor welt­weit fast synchron zu beob­ach­tenden Entwick­lungen der Demo­kratie west­li­chen Zuschnitts – einem zuneh­menden Hang zu Auto­ri­ta­rismus und zum Aushe­beln tradi­tio­neller „Checks and Balances“.

Bei aller inhalt­li­chen Unschärfe des Wortes kris­tal­li­siert sich nicht zuletzt in den Forschungen des in Princeton lehrenden Poli­to­logen Jan-Werner Müller ein inhalt­li­cher Kern heraus, der dem schil­lernden Begriff Konturen verleiht und ihn als heuris­tisch nütz­li­ches Instru­ment erscheinen lässt. Zu diesem Kern gehört die Konstruk­tion eines unüber­wind­li­chen Gegen­satzes zwischen einem, oder rich­tiger: dem „mora­lisch reinen, homo­genen Volk“ und den „stets unmo­ra­li­schen, korrupten Eliten“. Der Popu­list nimmt dabei für sich ganz selbst­ver­ständ­lich in Anspruch, dass nur er den einen, wahren Volks­willen kennt. Gegner werden entspre­chend nicht mehr als poli­ti­sche Konkur­renten, sondern als Volks- und Vater­lands­ver­räter gesehen, die, wenn nicht physisch, so doch zumin­dest sozial vernichtet werden sollen.

Ein antiker Testfall

Aris­to­phanes; Quelle: britannica.com

Ein beson­ders krasses Bild eines Popu­listen zeichnet schon der geniale altgrie­chi­sche Komö­di­en­dichter Aris­to­phanes in seinen Rittern mit der Figur des Kleon, eines der einfluss­reichsten athe­ni­schen Poli­tiker nach Peri­kles – so krass, dass man bis vor kurzem dazu tendierte, dem Stück jeden Wirk­lich­keits­ge­halt abzu­spre­chen und von einer typisch komi­schen Über­trei­bung auszu­gehen. Und doch: Seit die poli­ti­sche Wirk­lich­keit ‘beyond the Ocean’ jede Satire über­trifft, liest man das Stück mit neuen Augen. Dies umso mehr, als Aris­to­phanes als Komiker ein dezi­diert poli­ti­sches Selbst­ver­ständnis hatte und – etwa mit einem Stephen Colbert und anderen Late Night Show Hosts vergleichbar – nicht nur witzig bis zoten­haft unter­halten wollte, sondern auch erzie­he­risch und poli­tisch auf das Publikum einzu­wirken suchte. Bei allen Diffe­renzen der insti­tu­tio­nellen und gesell­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen, wie sie für die athe­ni­sche Demo­kratie der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. konsti­tutiv waren, springen bei einem näheren Blick daher zum Teil frap­pie­rende Paral­lelen zwischen Aris­to­phanes‘ nega­tivem Helden Kleon und modernen Popu­listen, etwa dem 45. Präsi­denten der Verei­nigten Staaten, ins Auge.

Zu bedenken ist dabei, dass das Phänomen des Popu­lismus nach antiker Einschät­zung in einer bestimmten histo­ri­schen Situa­tion Athens beson­ders viru­lent war und auch weit­ge­hend auf diese beschränkt blieb. Es sind dies die Jahre des Pelo­pon­ne­si­schen Bruder­krieges (431–404), der mit grösster Bruta­lität ausge­tragen wurde und zu einem zuneh­menden Werte­ver­fall führte. Diese Jahre been­deten eine seit dem Ende der Perser­kriege (479) andau­ernde Boom-Periode, die mit einer bis heute das Bild Athens prägenden gran­diosen Bautä­tig­keit, mit der impe­ria­lis­ti­schen Ausdeh­nung des athe­ni­schen Herr­schafts­be­reichs und einer immer radi­ka­leren Form der Demo­kratie einher­ging. In ihrer Schluss­phase traten die Sophisten auf den Plan. Heutigen Politik- und Kommu­ni­ka­ti­ons­be­ra­tern nicht unähn­lich, boten sie der athe­ni­schen Führungs­schicht ihre Tech­niken der Beein­flus­sung und Emoti­ons­steue­rung gegen teure Bezah­lung an. Die Demagogen der 20er Jahre des 5. Jh. v. Chr. setzten diese von den Sophisten entwi­ckelten Mani­pu­la­ti­ons­tech­niken im poli­ti­schen Alltag souverän ein, um ihre Ziele zu errei­chen. Unge­achtet aller grund­le­genden Unter­schiede zwischen der grie­chi­schen Antike und der Moderne sind gewisse Ähnlich­keiten und wieder­keh­rende patterns kaum zu übersehen.

Das Volk und seine Sklaven

In der aris­to­pha­ni­schen Komödie wird die Demo­kratie nun als durch­schnitt­li­cher Athener Haus­halt eines Herrn „Demos von der Pnyx“ auf die Bühne gebracht – „Pnyx“ ist der Name des unweit der Akro­polis gele­genen Ortes für die lands­ge­mein­de­ar­tige Volks­ver­samm­lung, und der „demos“ ist das Volk. Den führenden Poli­ti­kern wird die Rolle von Sklaven des ältli­chen, leicht tauben Haus­herrn – des Volks – zuge­wiesen: bereits dies ein keck provo­zie­rendes State­ment des Dich­ters. Mit der Ankunft des jüngst gekauften neuen Sklaven Kleon alias Paphlagon (der „Babbler“) ist das Los für die ange­stammten Haus­sklaven – eben die poli­ti­sche Elite – uner­träg­lich geworden. Kleon malträ­tiert sie und unter­bindet jeden Kontakt zu dem von ihm schamlos mani­pu­lierten Haus­herrn brutal. Tatsäch­lich ist Kleon, von Aris­to­phanes durch­gängig als absolut durch­trieben gezeichnet: ganz beson­ders stolz darauf, die Stim­mungs­lagen des Volkes genau zu erfassen und ihm zu geben, wonach es lechzt.

Es sind dies zunächst mate­ri­elle Wohl­taten: Der Pelo­pon­ne­si­sche Krieg hatte vor allem für den länd­li­chen Mittel­stand zu erheb­li­chen Wohl­stands­ein­bussen geführt. Die Bereit­schaft, dem Meist­bie­tenden unter den ‘Volks­füh­rern’ zu folgen, war ange­sichts der bitteren Entbeh­rungen entspre­chend gross. Auch heute besteht weit­ge­hend Einig­keit darin, dass Popu­listen mit ihren voll­mun­digen Verspre­chen beson­ders bei den wirt­schaft­lich ‘Abge­hängten’ auf offene Ohren stossen, und dass eine Präsi­dent­schaft Donald Trumps ohne die Finanz­krise des Jahres 2008 schwer denkbar wäre, aner­kennt selbst ein Stephen Bannon.

Schmei­chelei gehört zum Geschäft: Der Popu­list behauptet von sich, als einziger für das Volk zu kämpfen. Aris­to­phanes lässt Kleon sogar von einem eroti­schen Liebes­ver­hältnis zum Volk reden – und stellt doch sogleich klar, dass diese ‘Liebe’ rein instru­men­teller Natur ist und letzt­lich alles dem Macht­streben und der eigenen Berei­che­rung unter­ge­ordnet wird. ‘Rauben’ und ‘stehlen’, aber auch ‘sich bestechen lassen’ gehören zu den am häufigsten im Zusam­men­hang mit dem Prot­ago­nisten verwen­deten Verben. Der aris­to­pha­ni­sche Kleon steht im Übrigen unge­niert zu seinem Verhalten: „Ich gestehe zu, dass ich stehle“, ja mehr noch: Er behauptet, dass er dies „zum Wohl des Staates“ tue – der umstrit­tene Harvard-Jurist und Trump-Anwalt Alan Dershowitz könnte das nicht tref­fender formulieren.

Brittany Johnson: Aris­to­phanes‘ Knights, 2016; Quelle: newyorker.com

Disrup­tion, Manipulation

Zu den Schlüs­sel­kom­pe­tenzen des Popu­listen zählt Aris­to­phanes dessen Fähig­keit, alles durch­ein­an­der­zu­wir­beln, Unruhe und grösst­mög­liche Verwir­rung zu stiften – aktua­li­sie­rend könnte man von Disrup­tion reden: Als ‘disrupter in chief’ hat der Kolum­nist James Petho­ko­ukis unlängst Donald Trump bezeichnet. Illus­triert wird dieses Verhalten bei Aris­to­phanes durch den Vergleich mit Aalfän­gern: „Wenn der Teich ruhig ist, fangen sie nichts. Wenn sie aber den Schlamm durch und durch aufwühlen, machen sie einen tollen Fang. Auch Du fängst, wenn Du die Stadt in Aufruhr versetzt“.

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Auch ein geöltes Mund­werk und rheto­ri­sche Kennt­nisse sind für das emotio­nale Aufsta­cheln hilf­reich. Kleon war berühmt für seine kräch­zend laute Stimme und nutzte die von den Sophisten entwi­ckelten mani­pu­la­tiven Kommu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gien schamlos zu seinen Gunsten, unab­hängig von jedem Wahr­heits­ge­halt einer Aussage (‘lügen’ und ‘betrügen’ kehren regel­mässig im Zusam­men­hang mit dem Paphla­gonier wieder). Er war sich sicher, aufgrund seiner Kompe­tenzen das Volk nach Belieben umstimmen zu können – und äussert im Stück zugleich seine abgrund­tiefe Verach­tung für den Demos als schwach­sin­nigen Dummkopf.

Kleon verführt das Volk dabei nicht allein mit mate­ri­ellen Verspre­chen, sondern setzt genauso auf ideelle Über­zeu­gungs­stra­te­gien: Er spielt mit patrio­ti­schen Gefühlen und appel­liert an die Grösse, Stärke und Mission des eigenen Volkes, dem er prah­le­risch die Herr­schaft über ganz Grie­chen­land in Aussicht stellt („Make Athens Great Again“, gleichsam).

Gegen Insti­tu­tionen und Eliten

Für die Insti­tu­tionen, die Kleon sich völlig hörig wähnt, hat der Popu­list ledig­lich Verach­tung übrig: Platt­ma­chen will er den athe­ni­schen Rat, der alle Trak­tanden der Volks­ver­samm­lung vorzu­be­raten hatte; die mili­tä­ri­sche Führung will er demü­tigen, ins Gefängnis werfen und sexuell miss­han­deln. Poli­ti­sche Konkur­renten (die ‘Elite’), gegen die er das Volk aufwie­gelt, über­schüttet er mit Verbal­in­ju­rien und schreit sie nieder. Er operiert mit Schmutz­kam­pa­gnen gegen sie, wirft ihnen Verschwö­rung gegen das Volk bzw. Vater­lands­verrat vor – auch dies ein heute aner­kanntes Kenn­zei­chen des Popu­lismus –, droht mit Prozess­klagen und dem finan­zi­ellen Ruin, ja sogar mit physi­scher Vernichtung.

Zu den von modernen Pendants vertrauten Charak­te­ris­tika gehört ausserdem der gekonnte Einsatz dreister Ablen­kungs­ma­növer (Stich­wort ‘distrac­tion’), um das Gegen­über zu täuschen und hinter dessen Rücken skru­pellos die eigene Agenda weiter­ver­folgen zu können. Wohl­be­kannt klingt schliess­lich auch das Angebot von Schwei­ge­geld, falls man mal ertappt wird: Auf den Vorwurf des Gesprächs­part­ners „Ich weiss sehr wohl, dass Du aus Potei­daia zehn Talente gestohlen hast“ entgegnet Kleon zunächst unver­froren „Was soll’s?“, nur um dann den Deal vorzu­schlagen: „Willst Du eins der Talente haben und schweigen?“

Im Spiegel der Antike

Im Grunde ist es schon erstaun­lich, wie aktuell und frisch sich bei genauerem Hinsehen das Bild präsen­tiert, das Aris­to­phanes vor fast 2500 Jahren von den Methoden und Taktiken eines popu­lis­ti­schen Agita­tors gezeichnet hat. Es scheint, als werde so etwas wie ein poli­ti­scher Phänotyp greifbar.

Beun­ru­hi­gend ist aus heutiger Sicht, dass in Aris­to­phanes’ witziger Anlage der Komö­di­en­hand­lung der Teufel Kleon am Ende einzig mit einem noch viel ärgeren Beel­zebub ausge­trieben werden kann. Vor allem aber gibt zu denken, dass das coura­gierte Bloss­stellen des Popu­listen durch den Komö­di­en­dichter poli­tisch offenbar ohne Konse­quenzen blieb: Kleon wurde wenige Wochen nach Auffüh­rung der Ritter vom Volk zu einem der zehn Stra­tegen für das Jahr 424/23 gewählt, und nach seinem Tod scheint mit Hyper­bolos ein ähnlich skru­pel­loser Anführer des Volkes eine Schlüs­sel­rolle in der athe­ni­schen Politik gespielt zu haben. Erst nach der verhee­renden Nieder­lage Athens am Ende des Pelo­pon­ne­si­schen Krieges wurden Elemente demo­kra­ti­scher Reprä­sen­ta­tion defi­nitiv in das poli­ti­sche System einge­baut, welche die wankel­mü­tige „Tyrannei der Mehr­heit“ insti­tu­tio­nell zügelten und damit auch die Spiel­wiese der Demagogen markant verkleinerten.