SUV verkaufen sich wie geschnittenes Brot, obwohl kaum jemand mehr über Feldwege hoppeln muss. Wie kam es, dass dieses Gefährt den städtischen Raum eroberte und zum Must-Have der neuen Oberschicht wurde? Die Geschichte des SUV ist auch eine Geschichte des Neoliberalismus.

  • Markus Caspers

    Markus Caspers ist Design­wissen­schaftler und Gestalter. Er ist Pro­fessor für Gestaltungs­praxis und -theorie an der Hoch­schule Neu-Ulm und lehrt Design­soziologie an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

Im engli­schen Soli­hull testeten 1958 Inge­nieure des Auto­her­stel­lers Rover einen Proto­typen, den sie „Road Rover“ nannten. Die etwas tauto­lo­gi­sche Bezeich­nung für ein Auto, das ja in der Regel auf Straßen fährt, erklärte sich aus dem Unter­schied zum erfolg­reichsten Modell des Unter­neh­mens, dem Gelän­de­wagen „Land Rover“. Der „Road Rover“ besaß die Boden­gruppe (Leiter­rahmen, Achsen, Räder) des Gelän­de­wa­gens, darauf befand sich eine unge­lenk gestal­tete Kombi-Karosserie mit Anleihen an die Limou­sine „Rover P4“. Wie schon beim „Land Rover“, der eine Nach­bil­dung des US-Jeeps war, war der „Road Rover“ nicht der erste Crossover-Wagen oder „SUV“ (Sport Utility Vehicle), sondern eine Kopie des Modells „Jeepster“ der ameri­ka­ni­schen Firma Willys Over­land.

Vom Woody zum Wago­neer: funk­tio­nales Crossover

„Jeep Station Wagon“ als Woody, ca. 1955

Der „Wago­neer“ genannte erste SUV, bevor es den Gattungs­be­griff gab: Anzeige von 1964

Willys hatte direkt nach Ende des Zweiten Welt­kriegs begonnen, eine zivile Version des kriegs­er­probten Jeep zu vermarkten – mit beschei­denem Erfolg. In den USA hatte es seit Beginn des Auto­mo­bils den Typus „Station Wagon“ gegeben, eine Kombi­na­tion aus Personen- und Liefer­wagen, mit der man tradi­tio­nell Menschen und Güter vom Bahnhof abholte und in die nächst­ge­le­gene Stadt oder Sied­lung brachte. In Anleh­nung an die Pfer­de­fuhr­werke, die das in der vormo­to­ri­sierten Zeit erle­digten, wurden die „Station Wagon“-Modelle ab 1930 häufig mit Holz verkleidet und „Woody“ genannt – gleich­zeitig zur gene­rellen Einfüh­rung der Ganz­stahl­ka­ros­serie im Auto­mo­bilbau um 1930. (Zuvor hatten Autos zum großen Teil aus Holz bestanden – das wiederum versuchte man durch Beplan­kungen zu kaschieren, die wie Metall aussahen oder jeden­falls nicht nach Holz.)

Anfang der 1960er etablierte sich eine „Wago­neer“ getaufte, allrad­ge­trie­bene Weiter­ent­wick­lung des Jeepster auf dem ameri­ka­ni­schen Markt. Der ameri­ka­ni­sche Desi­gner Brooks Stevens gab 1963 dem ersten SUV, das noch nicht so hieß, die Form. Der „Wago­neer“ blieb für ameri­ka­ni­sche Verhält­nisse ein Nischen­pro­dukt; sein Hersteller Kaiser wurde mangels Markt­er­folg 1970 von AMC über­nommen, nach dem Zusam­men­bruch von AMC über­nahm Chrysler 1987 die Marke Jeep und damit die Produk­tion des „Wago­neer“. Die Anzeige von 1964 illus­triert die schon bei Thor­stein Veblen thema­ti­sierte Imita­tion der engli­schen upper class durch die von ihm analy­sierte ameri­ka­ni­sche „leisure class“.

Von der Straße ins freie Land – und zurück in die City

Daher zurück nach England. Bei Rover herrschte stän­dige Geld­knapp­heit, so dass die Pläne für den „Road Rover“ für einige Jahre beiseite gelegt wurden. Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre arbei­tete man am Konzept eines allrad­ge­trie­benen, gelän­de­gän­gigen Allzweck­autos weiter, das im Unter­schied zum reinen Nutz­fahr­zeug Land Rover über mehr Komfort und mehr Leis­tung, vor allem über eine höhere Geschwin­dig­keit verfügen sollte. 1970 wurde schließ­lich der „Range Rover“ vorge­stellt, eine zwei­tü­rige, mit Heck­klappe verse­hene, komfor­table Kombi­li­mou­sine, ange­trieben von einem V 8-Motor („range“ bedeutet im Engli­schen so viel wie Frei­land, aber auch Reich­weite, Akti­ons­ra­dius) . Der Innen­raum war nicht luxu­riös, aber komfortabel.

Mit dem SUV vors Hotel: der Luxus hält sich 1977 noch in Grenzen; Quelle: Rover

Die Gelän­de­gän­gig­keit kam der des Land Rover nahe, jedoch konnte man auch 160 km/h schnell fahren. Der Range Rover wurde als Allround-Fahrzeug für den privaten Einsatz vermarktet: Zum Fischen, zur Jagd, zum Sport; ein Boot oder den Pfer­de­an­hänger ziehen, fünf Personen bequem beför­dern und noch Stau­raum fürs Gepäck haben. Wenige Jahre nach der Markt­ein­füh­rung wurde der immer noch zwei­tü­rige, schnör­kel­lose Range Rover als passa­bles Vehikel für eine „upco­ming class“ beworben.

Die Entwick­lungs­pro­zesse für Auto­mo­bile von der Projek­tie­rung bis zur Produk­ti­ons­reife dauerten bis in die 1970er Jahre mit sieben bis zehn Jahren sehr lange. Es hat einige große Flops gegeben, weil man die Produkte nicht schnell genug auf den Markt oder gesell­schaft­liche Entwick­lungen anpassen konnte; manchmal gab es auch Über­ra­schungs­er­folge. Der Range Rover ist ein solcher, weil ihm die Zeit­läufte in die Hände spielten.

Vom Multi­funk­ti­ons­fahr­zeug zum Distinktionsvehikel

In funk­tional diffe­ren­zierten Gesell­schaften findet Distink­tion über Lebens­stile statt, diese wiederum speisen sich aus einem Set von Objekten und Hand­lungen, die zur Iden­ti­fi­ka­tion mit Gleich­ge­sinnten wie zur ästhe­tisch wahr­nehm­baren Abgren­zung von Anderen dienen. Die Form der Alltags­ge­gen­stände und Hand­lungs­op­tionen können wir als „Design“ verall­ge­mei­nern. Dabei ist nicht entschei­dend, ob es ästhe­ti­sche Marker gibt, die in das Design hinein­ge­ar­beitet wurden, um einen bestimmten Milieu- oder Klas­sen­bezug herzu­stellen – die Auswahl­kri­te­rien einer Distink­ti­ons­gruppe sind viel­schichtig und häufig auf den ersten Blick nicht einsichtig bzw. nach­voll­ziehbar. Es hätte dem Range Rover, gemessen an seinen Desi­gn­qua­li­täten, wie seinem ameri­ka­ni­schen Pendant gehen können und er wäre ein prak­ti­sches Auto für Fami­lien der Mittel­schicht geworden – der briti­sche Volvo-Kombi sozu­sagen. Hätte…, wenn nicht Ende der 1970er Jahre einige wohl­ha­bende Kunden nach einer vier­tü­rigen Version des Range Rover verlangt hätten und wenn nicht 1979 Margret That­cher Premier­mi­nis­terin von Groß­bri­tan­nien geworden wäre.

1974 erhielt der neoli­be­rale Ökonom Fried­rich August Hayek den Nobel­preis für Wirt­schafts­wis­sen­schaften, zwei Jahre später sein etwas jüngerer Bruder im Geiste   Milton Friedman. Bereits 1947 hatten sie mit der Grün­dung der Mont Pèlerin Society (MPS) einen Think Tank zur Popu­la­ri­sie­rung neoli­be­raler Ideen geschaffen. Nachdem die letzten unor­tho­doxen Mitglieder wie der engli­sche Philo­soph Karl Popper und die Vertreter der ordo-liberalen Frei­burger Schule die MPS verlassen hatten, wurde diese zur markt­ra­di­kalen Ideo­lo­gie­ma­schine des Mone­ta­rismus, der Ange­bots­lehre und der „markt­kon­formen Demo­kratie“. In Margret That­cher und Ronald Reagan fanden sie begeis­terte Anhänger. Die Dere­gu­lie­rung genannte Umwand­lung öffent­li­cher Güter in private Unter­neh­mungen und die Libe­ra­li­sie­rung des Finanz­marktes hatten eine Gold­grä­ber­stim­mung herauf­be­schworen – und die Akteure dieses Booms brauchten Insi­gnien ihres Treibens.

Range Rover Monteverdi

Monte­verdis Umbau von 1980 und Rovers offen­sives Buhlen um die neue Ober­schicht, 1988: Walnuss­holz, Leder, Auto­ma­tik­ge­triebe; Quelle: Rover

Für die seri­en­reife Entwick­lung einer vier­tü­rigen Version hatte Rover wieder kein Geld – das über­nahm die Schweizer Firma Monte­verdi, die seit 1980 diverse Umbauten des Range Rover für betuchte Kunden hatte anfer­tigen lassen, unter anderem für das briti­sche Königs­haus. Diese Wagen galten im neoli­be­ralen London als der letzte Schrei. Die Leis­tung eines Sport­wa­gens oder einer Luxus­li­mou­sine mit den Offroad-Qualitäten und der höheren Sitz­po­si­tion eines Gelän­de­wa­gens – das waren Osten­ta­tion und Under­state­ment in vorher nicht gekannter Kombi­na­tion. Rolls-Royce, Bentley, Jaguar erschienen nun als  Marken einer vergan­genen Epoche, die für eine alte Upper Class und eine verkrus­tete Klas­sen­ge­sell­schaft standen. Die neue Klasse des That­che­rismus kam aus der Mittel­schicht, verdiente im Invest­ment­ban­king, in der Werbung, in der Immo­bi­li­en­branche oder mit den Medien. Für sie galten keine der alten Regeln; es war neues Geld, schnelles Geld und ein schneller Aufstieg, den es schnell zu sichern galt. Es war die Idee der unbe­grenzten Möglich­keiten und des unbe­dingten Aufstiegs zur Geld­aris­to­kratie, die sich ein Objekt und eine Form suchte – und sie im vier­tü­rigen Range Rover mit „Vogue“-Ausstattung und schwarzer Lackie­rung fand. Mit Ellbo­gen­men­ta­lität durch die Niede­rungen des tägli­chen Verkehrs, kein Terrain zu schwierig, kein Hindernis, das man mit Allrad­an­trieb und Gelän­de­fahr­werk nicht über­winden kann: Ich schaue auf dich herab und deine Vorstel­lung von Soli­da­rität und Sozi­al­staat. Ich werde mir meinen Teil holen, egal wie. Wie sagte That­cher so tref­fend: „There is no such thing as society.“

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Und so erreichte die Umwid­mung eines zunächst nur in sechs Farben erhält­li­chen „no frills car“ in einen „execu­tive shuttle“ den ersten Höhepunkt.

Vom Nischen­pro­dukt zum Mainstream

Porsche Cayenne turbo, Markt­ein­füh­rung 2004; Quelle: Porsche.com

2002 erschien mit dem neuen  Porsche-Baureihe „Cayenne“ ein SUV auf dem Markt, dessen Design andere Wege einschlug. Der Range Rover war bei seinem Erscheinen ein eigen­stän­diges Modell und trotz seiner vielen Über­ar­bei­tungen und Rede­signs ein kantiges Auto geblieben. Porsches SUV wandte sich an eine scheinbar ähnliche Klientel, wenn es um Leis­tung und Ausstat­tung ging, aber die Front und der gesamte Auto­körper spra­chen eine ganz andere Sprache. Die flache Bugpartie und stark geneigte Front­scheibe sollten an die Sport­wagen des Herstel­lers erin­nern; die notwendig sehr tief herun­ter­ge­zo­gene Front­schürze wurde ein einziges, riesiges Maul. Die Radhäuser waren ausge­stellt und betonten die sport­li­chen Breit­reifen; der große Abstand zwischen Rädern und Radaus­schnitten machte klar: hier steckt ganz viel Federweg drin, ich kann über Feld­wege kraxeln (wenn’s unbe­dingt sein muss). Die Seiten­linie wurde durch Chrom­ein­fas­sungen kontu­riert, wie man sie sonst nur von Oberklasse-Limousinen kannte. So verband der „Cayenne“ drei Merk­male: Sport­lich­keit, Luxus und Gelän­de­taug­lich­keit. Diesem Rezept folgten kurz darauf andere Hersteller von soge­nannten Premi­um­fahr­zeugen, danach auch die Hersteller von Volu­men­mo­dellen der Mittel­klasse. In den vergan­genen Jahren sprangen Edel­marken wie Jaguar, Bentley, Mase­rati und Aston Martin auf den Zug auf, denen man ein solches Crossover-Modell eigent­lich nicht zuge­traut hätte. Nach wie vor sind SUV das am schnellsten wach­sende Produkt­seg­ment, bei dem jeder Hersteller etwas vom Kuchen abhaben will.

Das könnte man als blosses Oberschicht-Phänomen abtun, wenn nicht eine SUVsie­rung einge­setzt hätte, die von der unteren Mittel­klasse bis in die Luxus­ka­te­gorie herein reicht. Alle wollen höher sitzen und den besseren Über­blick haben, alle wollen ihre Kinder sicher vors Schultor bringen, alle wollen die Vorzüge des sanften Glei­tens und die Sicher­heit des Allrad­an­triebs genießen – das sind die Argu­mente, die man von SUV-Fahrern und vor allem -Fahre­rinnen immer wieder hört. Der Wider­spruch von styli­schen Niederquerschnitt-Breitreifen und präten­dierter Gelän­de­gän­gig­keit, aber auch von neuer­dings schick-rustikaler Boden­frei­heit und hohem Luft­wi­der­stand, über­haupt von Größe und Gewicht gegen­über erhöhtem Roll­wi­der­stand und entspre­chend exor­bi­tantem Verbrauch – all das beküm­mert die Käufer dieser zutiefst wider­sprüch­lich konstru­ierten Autos offenbar in keiner Weise. Einen SUV zu fahren ist Ausdruck einer Nach-mir-die-Sintflut-Haltung, die sich besten­falls noch naiv gibt. Noch haben wir kein „Rolling Coal“ in Europa, jene ameri­ka­ni­sche Vari­ante des Stin­ke­fin­gers, mit dem US-Trucker und Pick-up-Fahrer zeigen, dass sie den Klima­wandel für fingiert halten; aber ein 300 PS-SUV mit vier Endrohren, der bei Voll­last bis zu 60 Liter pro 100 km verbraucht, steht dem in nichts nach. Die opti­sche, akus­ti­sche und ener­ge­ti­sche Aufrüs­tung des Indi­vi­du­al­ver­kehrs fügt sich nahtlos ein in den Prozess der schlei­chenden Entso­li­da­ri­sie­rung und Priva­ti­sie­rung des öffent­li­chen Raums. Im Design der klobigen Gesamt­form und der aggres­siven Front ist jene gesell­schaft­liche Bruta­lität aufge­spei­chert, die jene dazu treibt, es den anderen noch einmal vor Augen zu führen.