Esoterische Heilverfahren haben seit den 1980er Jahren Konjunktur. Als vermeintlich sanfte Alternative zur ‚Apparate-Medizin‘ erfreuen sich paramedizinische Praktiken wie Aroma-, Edelstein- und Bachblütentherapie, Ayurveda, Bioenergetik, Chakren-Massage oder Reiki einer immer grösseren Beliebtheit. Entsprechende Ratgeberliteratur findet sich in nahezu jeder Buchhandlung, Bildungsträger bieten zahlreiche Therapiekurse an, Messen und Gesundheitsmärkte boomen.
Wer sich darauf einlässt, sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass viele alternative Therapien auf religiösen bzw. esoterischen Konzepten basieren, die weit über die Bedeutung von Gesundheit im engeren Sinne hinausgehen. Sie zielen auf eine Veränderung der Grundanschauungen und sind damit auch politisch zu beurteilen.
Theoretisch und methodisch erweisen sich alternative Heilverfahren häufig als eklektizistisch, sie arbeiten mit Versatzstücken aus Esoterik, Okkultismus und Psychologie sowie Vorstellungen aus verschiedenen, vor allem fernöstlichen Religionen. Dazu kommen Elemente aus der mittelalterlichen Mystik, der Alchemie, der Ur- und Stammeskulturrezeption, exotische medizinische und paramedizinische Techniken, Anleihen aus der Naturheilkunde und Kräutermedizin verschiedener Kulturen und Epochen sowie Denkmuster der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Elemente werden neu zusammengesetzt und umgedeutet, eine lange Tradition gilt bereits als eigener Wert. Versprochen wird nichts weniger als Gesundheit, Glück und langes Leben.
Ganzheitlichkeit oder: Disharmonie als Krankheit
VertreterInnen und AnhängerInnen esoterischer Heilverfahren grenzen sich bewusst von der naturwissenschaftlichen Medizin ab. Sie erheben den Vorwurf, dass die hochspezialisierte und technisierte westliche Medizin zu einer Entfremdung zwischen Arzt und Patient und schliesslich zur Entsubjektivierung des Kranken geführt habe. Eine Abkehr von der isolierten Symptombehandlung sei deshalb dringend geboten. Grundlage dafür ist der Entwurf pantheistischer ‚Ganzheitlichkeit‘. In diesem Konzept erscheint der ‚Kosmos‘ als geordneter Raum; wiederholt anzutreffen ist auch der Hinweis auf eine ‚Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos‘. Damit wird Krankheit als eine Folge von Ungleichgewicht, als mikrokosmische Spiegelung makrokosmischer Disharmonie betrachtet, entsprechend seien auch die Gelassenheit im Annehmen von Krankheit, Sterben und Tod sowie das Seinlassen und Loslassen, die Bereitschaft, Wandlung und Vergehen zuzulassen, von kosmischen Prozessen bestimmt.
Im Verständnis esoterischer Heilverfahren hängt die seelische und geistige Gesundheit vom Fluss nicht messbarer, ‚feinstofflicher Energie‘ ab. Könne sie ungehemmt fliessen, sei die Voraussetzung für natürliche Gesundheit und Vitalität gegeben. Sei dieser Fluss jedoch durch ‚Disharmonie‘ blockiert, werde der Mensch krank. Dieser Logik nach erfolgt Heilung durch Auflösung von ‚Blockaden‘. Daher meint etwa die Spirituelle Lebensschule in Duderstadt, dass „das ‚Sich-Nicht-Anpassen‘ die Hauptursache für Disharmonien auf allen Ebenen ist, die sich z. B. im körperlichen Bereich als Krankheit manifestieren.“ Sie verkauft nicht nur „Produkte zur Reinigung, Harmonisierung und Erhöhung der feinstofflichen Schwingung“, sondern will helfen, „sich aus irdischer Knechtschaft und Unwissenheit zu befreien“ und „Krankheitsdispositionen“ herausarbeiten, mit dem Zweck, einen Weg in die Eigenverantwortlichkeit aufzuzeigen, wie es in ihrer Broschüre heisst. Dies ist ein Gedanke, der immer wieder eingebracht wird und letztlich den Kranken die Verantwortung für ihren bzw. die Schuld an ihrem Zustand zuschreibt.
Die These von der selbstverschuldeten Krankheit
Die Bedeutung des gesellschaftlich bedingten und gesellschaftlich handelnden Subjekts wird in diesem Zusammenhang abgewertet und vernachlässigt, denn anders als in psychosomatischen Konzepten, wo unter Ganzheitlichkeit neben Körper und Psyche auch die Berücksichtigung des sozialen und ökologischen Kontextes verstanden wird, ist mit Ganzheitlichkeit hier das Streben nach ‚Harmonie von Körper, Geist und Seele‘ gemeint. Mit dem Begriff ‚Spiritualität‘ wird die Suche nach Sinn und Ziel eines Daseins charakterisiert, das sich nicht in somatischen bzw. physischen Abläufen erschöpfe. Auch diese Argumentation setzt bei Selbstverantwortung an, denn esoterische Therapien werden häufig als Zugangswege zu solcher Lebensqualität dargestellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass das individuelle ‚Alltagsbewusstsein‘ lediglich ein Ausschnitt sei, wird nach einer Entwicklung von Bewusstseinsmöglichkeiten gestrebt, die andere Erfahrungen und Gefühlslagen, andere Bilder vom Menschen, von der Welt und vom Kosmos zu integrieren verstehen. Dies setzt stets eine individuelle „Neuorientierung“ voraus: das ‚Loslassen‘ gewohnter Denk- und Handlungsmuster und das ‚Einlassen‘ auf eine zunächst durch ‚äussere Führung‘ (Therapeut, Lehre) geleitete ‚Reise nach Innen‘. Das Ziel der Suche, die Erleuchtung, zeichnet sich demnach unter anderem durch Gesundheit aus. Für den einzelnen Menschen bedeutet der Weg nach Innen das Anerkennen von vorgegebenen Autoritäten und damit einhergehend die Geringschätzung der Verstandeskräfte und die Aufgabe der Kritikfähigkeit. Hinzu kommen Selbstbezogenheit und die Überzeugung, dass jede und jeder sich letztlich nur selbst helfen könne.
Insgesamt basiert das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in alternativen Heilverfahren auf der Vorstellung, dass ‚natürliche Gesundheit‘ in jedem einzelnen von uns beschlossen liegt. Der Vorwurf an die Schulmedizin lautet, sie sei gegen die Natur des Menschen gerichtet. Entsprechend wird ein ‚neues Paradigma‘ im Beziehungsgefüge von Gesundheit, Krankheit und Heilung postuliert. Die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit seien dem Menschen immanent, er sei souverän, sich für oder gegen Krankheit zu entscheiden. Die individuelle positive Einstellung und der Gefühlszustand seien für das Erreichen individueller Ziele wie Heilung, Glück, Liebe oder Erfolg von grosser Bedeutung. Daher wird ‚positives Denken‘ propagiert. Aber mit der Forderung, auch negative Gegebenheiten, Erfahrungen und Erlebnisse für sich anzunehmen, positiv umzudeuten, gerät affirmatives Denken geradezu zum Gebot, wenn nicht zum Zwang: Denn wer negativ denkt, wird krank und erfährt Leid. Und wer Heilung, Glück, Liebe oder Erfolg nicht erreicht, hat nicht positiv genug gedacht.

Buddhastatue, Burma, 12. Jh.; Quelle: pinterst.com
Eng verbunden mit der Frage der Eigenverantwortung ist die Frage der Schuld, die sich in den aus Hinduismus und Buddhismus bekannten Vorstellungen von Reinkarnation und Karma zeigt, die auch in esoterischen Heilverfahren eine grosse Rolle spielen. Reinkarnation wird gedeutet als individuelle Teilhabe an der ‚kosmischen Evolution‘. Die Seele ist demnach geistigen Ursprungs, unvollständig entstanden bzw. geschaffen und bedarf eines langen Läuterungs- und Erziehungsprozesses, in dem sie ihre Freiheit verwirklicht. Zu übersetzen mit Werk oder Tat, meint Karma die Folgen eigenen Verhaltens in früheren und jetzigen Existenzen, den Bedingungszusammenhang zwischen Taten und ihren Konsequenzen. Zentral ist die Vorstellung von Schuld, die der nach Heil strebende Mensch durch Sühneleistungen, Meditation, Lebensumstellung gleichsam abarbeiten und abtragen müsse. Wie weit das geht, zeigt sich in einer Broschüre des Studienkreises für nichtuniversitäre Heilweisen e. V., in der Behinderung als Folge der ‚Seelenschuld‘ sowohl der inkarnierenden Seele selbst als auch der Mutter erscheint. Weiter heisst es: „Wenn bereits vom Kindheitsalter an die Beine oder Arme behindert sind, wird das auf ein körperliches Vergehen in weiter zurückliegenden Zeiten beruhen, wie etwa Streitsucht oder Kriegshandlung durch körperlichen Einsatz.“ Eine solche Sichtweise ist menschenverachtend.
Krankheit als Wille und Weg
Als Ursachen von Krankheit, worunter auch Unfallfolgen und äussere Verletzungen fallen, gelten vielfach allein individuelle (Prä-)Dispositionen, d. h. karmische Last oder die psychische Disposition: Krank-sein-Wollen. Nach der Vorstellung esoterischer Heilverfahren besitzt Krankheit einen Sinn. „Alle Krankheitssymptome übermitteln wertvolle Botschaften aus dem seelischen Bereich; sie haben einen tieferen Sinn für unser Leben, den es zu begreifen gilt“, lautet der Werbetext für Thorwald Detlefsens und Rüdiger Dahlkes viel gelesenes Buch Krankheit als Weg (1983), in dem die Autoren diese Sichtweise auch auf Krebs oder Aids beziehen. Krankheit wird zu einer positiven Funktion menschlichen Lebens uminterpretiert. Damit ist allerdings nicht die selbstverständliche Zugehörigkeit von Krankheit zum menschlichen Leben gemeint. Es geht keineswegs um einen integrativen Ansatz, sondern die Botschaft lautet: Erkenne dich selbst durch deine Krankheit, so wirst du gesund. Krankheit wird damit als Weg zur Selbsterkenntnis verstanden, als Auslöser für eine mögliche, bewusst herbeizuführende Lebensveränderung.
Als Wert an sich wird ‚Natur‘ bestimmt. Dabei erfährt sie eine Reihe positiver Zuschreibungen: Sie gilt als sanft und zugleich als sicher, als harmonisch, rein und – wie selbstverständlich – als gesund. Der Naturbegriff beinhaltet dabei eine Reihe von Glaubensvorstellungen über die Bedeutung von Gesundheit, über die Eigenschaften des menschlichen Körpers, über die Beziehung zwischen Körper, Geist, Seele und Natur und über die Möglichkeit, ein ‚natürliches Leben‘ zu führen.
Die harmonische Beziehung zur Natur wird als etwas dargestellt, das nur durch geistige bzw. seelische und körperliche Anpassung zu erreichen sei. Entsprechend enthalten diese Vorstellungen von Natur eine Kritik am ‚Unnatürlichen‘, die sich in der Konstruktion verschiedener Gegensatzpaare zeigt: künstlich versus natürlich, technologisch versus organisch und synthetisch versus ganzheitlich und ursprünglich. So werden Regeln für ein gesundes Leben formuliert. Der ‚richtigen‘ Lebensführung wird dabei grosse Bedeutung beigemessen, wobei die Frage, ob jemand krank oder gesund ist, vom Grad der ‚Natürlichkeit‘ seines Lebens abhängig zu sein scheint.
Bei einer solchen Inanspruchnahme der Kategorie Natur wird zunächst eine künstliche Naivität erzeugt. Doch in allen Naturalismen stecken Ansätze zu Ordnungsideologien. Wo beteuert wird, die Dinge seien von Natur aus, vom Ursprung her in der ‚Ordnung‘ vorgegeben, wird der menschliche Beitrag bzw. werden gesellschaftliche Prozesse negiert.
Triviale Erklärungsmuster komplexer Zusammenhänge
Mit einem Gestus des Eingeweihtseins in Höheres und dem Anschein von Wissenschaftlichkeit und philosophischer Tiefe liefern VerfasserInnen esoterisch ausgerichteter Gesundheitsratgeber triviale Erklärungsmuster komplexer Zusammenhänge und Sachverhalte. Dabei geht es weniger um die Vermittlung von Kenntnissen als um Sinnstiftung. Die wechselseitigen Einflussnahmen und Abhängigkeiten von Individuum und Umwelt, sozialem Umfeld und normativen Konstruktionen werden ignoriert, rational fassbare Kausalitäten durch Mystifizierung umgewertet.
Mit der Selbsterhebung der AutorInnen esoterisch orientierter Gesundheitsratgeber oder Therapien geht die Scheinermächtigung der NutzerInnen einher. Suggeriert werden die Teilhabe an heilendem Wissen, die Souveränität der Entscheidung für Gesundheit oder Krankheit sowie die Aussicht auf spirituelle Vollkommenheit. Mit der Orientierung an einer kosmischen Hierarchie bzw. Evolution, den Mythologien des Körpers und der Natur, dem moralischen Verständnis von Gesundheit, der Ideologie der selbstverschuldeten Krankheit und dem Postulat des Positiven Denkens erweist sich das präsentierte Welt- und Menschenbild bei näherem Hinsehen allerdings so gar nicht als sanfte Alternative, sondern als unsolidarisch, antirational und autoritär.