Beschleunigung ist ein Begriff, der wie kein anderer für die weitgreifenden Veränderungsprozesse der Moderne Pate steht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bedeutet „Moderne“, die Welt entlang einer europäischen Vorstellung von säkularer, weltlicher Ganzheit zu ordnen. Alle politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Vorgänge sollen darin als zusammenhängend zur Darstellung gebracht werden können. Die Zeit wird vereinheitlicht. Der Fortschritt treibt die moderne Welt unaufhörlich in eine veränderliche Zukunft hinein, in der Beschleunigung zum Mass aller Dinge wird. In diesem Prozess schmelzen die geographischen Weiten; Arbeitswelt und ökonomische Beziehungen werden in systematischen Taktungen synchronisiert; die Vorstellung von Wissen dynamisiert sich in Wissenszuwächsen und Wissensverdichtungen. Tempo wird zum Schlüsselbegriff der neuen bürgerlichen Macht: „Herrschaft ist in aller Regel die Herrschaft des Schnelleren“, heisst es an einer Stelle von Hartmut Rosas soziologischen Analysen.
Beschleunigung und Dauer in der Sphäre des Rechts

Schlafsaal in Zivilschutzanlage, Kanton Aargau; Quelle: blick.ch
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das neue Schweizerische Asylgesetz, das am vergangenen 5. Juni in der Volksabstimmung mit grossem Mehr gutgeheissen wurde, in seinem Kern genau mit diesem vielversprechenden Begriff der Beschleunigung operiert. Die beschleunigten Verfahren lesen sich wie ein Heilsversprechen für moderne Fortschrittlichkeit: höhere bürokratische Effizienz, Ordnung der Strukturen, Kontrolle über juristische Abläufe. Der Staat präsentiert sich hier als Hüter der Souveränität und versucht den machtvollen gesellschaftlichen Phantombildern von Chaos und Überforderung, bürokratischer Stauung, Gesetzesmissbrauch und Überflutung ein Diktum der Herrschaft entgegenzusetzen. Doch dieses Bild ist schief. Auf der Internetseite des Staatsekretariats für Migration (SEM) liest man:
„Der Bundesrat verfolgt mit der Beschleunigung der Asylverfahren das Ziel, die Verfahren deutlich schneller und dennoch rechtsstaatlich korrekt abzuwickeln.“ –Staatssekretariat für Migration
Was hier erkennbar wird, ist ein potentieller Konflikt zwischen einer Beschleunigung von bürokratischen Verfahren einerseits und rechtsstaatlichen Prozessen andrerseits. Das ist kein Zufall. Denn moderne Beschleunigung lässt sich nicht ausschliesslich als ein auf temporale Steigerung ausgerichteter Dynamisierungsprozess verstehen. Schaut man sich die umfangreichen historischen und soziologischen Analysen zum Begriff der modernen Beschleunigung an, wird deutlich, dass diese stets von Prozessen der Verlangsamung begleitet wird: Staatliche Institutionen und ihre Bürokratien, politische Legislaturperioden, Gewaltenteilung und das Korrektiv des Rechtsstaats als „auf Dauer gestellte“ (Habermas) – d.h. Dauer einfordernde und Dauer garantierende – Rahmungen haben entscheidend dazu beigetragen, die Möglichkeit ökonomischer und gesellschaftlicher Beschleunigung zu garantieren.
Besonders deutlich wird dies in der Sphäre des Rechts: Zeit im juristischen Diskurs ist hauptsächlich nachträgliche Zeit. Der zur Anklage gestellte Rechtsbruch bezieht sich auf ein Ereignis in der Vergangenheit. Juristische Verfahren beschäftigen sich mit einer Rekonstruktion von temporalen Abläufen. In ihnen verbirgt sich das Prinzip einer extremen Zeitdehnung. Ereignisse, die sich in kurzen Augenblicken vollzogen haben, werden in langen Verfahren auseinandergenommen und beurteilt. Im klassischen Strafrecht, einem Kernbereich des Rechtsdiskurses, der auf die Bestrafung einzelner Individuen ausgerichtet ist, liegt die Verantwortlichkeit für diesen Rekonstruktionsprozess auf Seiten der KlägerInnen bzw. der Staatsanwaltschaft. Im Zweifel für den Angeklagten bedeutet, dass der Rechtsbruch von der Gegenseite nachgewiesen werden muss. Die angeklagten Personen haben dabei stets das Recht, die aktive Teilnahme am Aufklärungsprozess zu verweigern, die Abläufe des Verfahrens ins Stocken geraten zu lassen und sich somit ihrer zeitlichen Dynamisierung zu widersetzen.
Im Zweifel gegen die Asylsuchenden

Asylunterkunft in Zivilschutzbunker, Luzern; Quelle: luzernerzeitung.ch
Die gesetzlichen Asylverfahren unterscheiden sich in dieser Hinsicht, und zwar nicht erst seit der jüngsten Revision, fundamental von anderen Rechtsgebieten. Hier sind die Asylsuchenden gerade umgekehrt in der Pflicht, ihren eigenen Rechtsanspruch zu erklären und aktiv zur Aufklärung von Sachverhalten beizutragen. Kohärenz, Lückenlosigkeit und Glaubwürdigkeit gehören dabei zu den entscheidenden Kriterien. Damit wird das Asylverfahren vor allem zu einem komplexen Darstellungsprozess linearer biografischer Abläufe, in denen die entscheidenden Argumente vorgebracht werden müssen, die im Katalog der Asylgründe Wert besitzen. Wer in der zeitlichen Dynamik der Darstellungs- und Beweispflicht Fehler macht, hat den eigenen Rechtsanspruch auf Asyl schnell verwirkt.
Die beschleunigten Verfahren des Schweizerischen Asylgesetzes setzen in ihrem Kern nicht etwa auf die Beschleunigung von Abläufen auf Seiten der bürokratischen Institutionen. Die gesetzlichen Neuerungen fokussieren vielmehr auf eine massive Verkürzung der Fristen sowie auf eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Asylsuchenden. Demnach wird hier vor allem genau jener zeitliche Rahmen beschränkt, in welchem die Asylsuchenden und ihre Rechtsbeistände sowohl mit der Beweismittelbeschaffung als auch mit der Ausarbeitung der lückenlosen Darstellung der eigenen Flucht- und Verfolgungsgeschichte beschäftigt sind. Die massive Verkürzung der Fristen – ein Gutachten der „Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz“ bewertete diese u.a. als „Verletzung der Rechtsweggarantie“ – führt somit zu einer einseitigen Benachteiligung der Asylsuchenden. Die Devise lautet hier: Im Zweifel gegen die Asylsuchenden. Was hinter den Massnahmen erkennbar wird, ist ein tiefes Misstrauen. Konstatierende Sätze des Staatssekretariats für Migration (SEM) wie
„Schutzbedürftigen Personen wird weiterhin der notwendige Schutz gewährt. Durch die Beschleunigung wird jedoch der Anreiz, unbegründete oder missbräuchliche Asylgesuche einzureichen, gesenkt“ –Staatssekretariat für Migration
lassen tief blicken. Gleichzeitig geistert die Rede vom Rechtsschutz mantraartig durch alle Texte. Kernelement dieses legitimatorischen Sprechens bildet der neu eingeführte „Anspruch auf unentgeltliche Beratung und Rechtsvertretung“ für Asylsuchende, der allerdings vor allem mit dem Argument angepriesen wird, zur Folge zu haben, dass die Asylsuchenden „einen negativen Entscheid besser akzeptieren und weniger Beschwerden einreichen.“ Bei genauerem Hinsehen ergeben sich erhebliche Zweifel, ob es sich hier um einen gesetzlichen Anspruch handelt, der die Aufrechterhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien garantiert. Nicht nur, dass die RechtsvertreterInnen über Fallpauschalen, die sich bei komplizierten Fällen wenig rechnen, vom Staatssekretariat für Migration (SEM) selbst bezahlt werden – sie sind zudem angewiesen, ihr Mandat niederzulegen, wenn sie nach einem negativen Asylentscheid das Ergebnis einer Beschwerde als aussichtslos einschätzen. Eine solche Form der Prognose, die an die Stelle des juristischen Verfahrens rückt, stellt in gewissem Sinne die extremste Form der Beschleunigung innerhalb des Rechtsdiskurses dar. Hier wird der juristische Prozess gleich ganz übersprungen und die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Urteils zum Massstab des Rechts auf Recht überhaupt gemacht.

Asylunterkunft in Zivilschutzbunker, Wildhaus-Alt St. Johann; Quelle: Tagblatt.ch
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei der Einrichtung der beschleunigten Verfahren im Schweizerischen Asylgesetz um ein komplexes machtpolitisches Instrument handelt. Als Losungswort für moderne Fortschrittlichkeit soll es den verantwortlichen politischen Instanzen Souveränität attestieren. Zugleich aber weicht es rechtsstaatliche Prinzipien in einem Masse auf, dass sich einzelne, unerwünschte Individuen schnell und ohne viel Aufhebens aus dem Zuständigkeitsbereich des Rechtsstaats hinausdrängen lassen. „Politische Macht ist […] letztlich eine Form von Bewegungsmacht“, heisst es bei Hartmut Rosa. Diese Bewegungsmacht ist sowohl zeitlich als Herrschaft, die „beliebig über Strategien des Be- und Entschleunigens verfügt“, zu verstehen, als auch räumlich: Ein weiteres, wichtiges Element des revidierten Asylgesetzes sind die so genannten Zentren des Bundes, in denen die Asylsuchenden während der gesamten Zeit der beschleunigten Asylverfahren untergebracht werden. Die Regierung kann „die Einzelheiten zur Verlängerung der Höchstdauer des Aufenthalts“ per Verordnung bestimmen. Dass eine Exekutive, die auf diese Weise, ohne richterliche Anordnung, über die Bewegungsmöglichkeiten einzelner Individuen entscheidet, den Grundsatz der Gewaltenteilung überschreitet, braucht nicht eigens betont zu werden.
Gesunder Menschenverstand und christliche Barmherzigkeit
Indem Beschleunigung sich als machtpolitisches Instrument der Bewegungssteuerung erweist, wird hier ein neoliberaler Politikstil deutlich, der sich nicht mehr entlang von grundsätzlichen Prinzipien des Rechtsstaats und der Menschenrechte orientiert, sondern einen von der Logik des Ausnahmezustands („Flüchtlingskrise“) angetriebenen Konsens des gesunden Menschenverstands propagiert. Die politische Philosophin Wendy Brown beschreibt in ihrem Buch zum Neoliberalismus (Undoing the Demos: Neoliberalism’s Stealth Revolution, 2015) eine solche Politik als eine Form, die sich
„durch spezifische Regierungstechniken realisiert, durch Erfolgsmethoden und rechtliche Optimierung, kurz durch ‚sanfte Gewalt‘, die sich auf Konsens und Kooperation beruft […]. Der Neoliberalismus herrscht als raffinierter gesunder Menschenverstand, ein Realitätsprinzip, das Institutionen und Menschen überall umformt, wo es sich niederlässt, sich einnistet und Bestätigung erfährt.“ –Wendy Brown, 2015
Besonders perfide wird die Argumentation des ‚gesunden Menschenverstandes‘ im Zusammenhang der Schweizerischen Asylgesetzrevision, wenn betont wird, dass diese Art der Beschleunigung der Verfahren auch im Interesse der Asylsuchenden selbst liege. Unter den Argumenten des Bundesrates vor der Abstimmung vom 5. Juni hiess es:
„Beschleunigte Asylverfahren dienen allen: Sie sind sowohl im Interesse der Schweiz als auch der Asylsuchenden selber. Sie sind effizient und entlasten dadurch Bund und Kantone. Und Asylsuchende wissen rasch, ob sie bleiben können oder wieder gehen müssen.“ –Bundesbüchlein, 2016
Der Historiker Reinhart Koselleck hat in seinen Studien zur Semantik geschichtlicher Zeiten die Herkunft des Begriffs Beschleunigung aus dem christlichen Kontext deutlich gemacht: „Die Beschleunigung, zunächst eine apokalyptische Erwartung der sich verkürzenden Zeitabstände vor der Ankunft des Jüngsten Gerichts, verwandelt sich […] in einen geschichtlichen Hoffnungsbegriff“. In der Lesart der christlichen Beschleunigung verkürzt Gott in einem Akt der Gnade die Zeit, um den Menschen die Schrecken und Schmerzen der Apokalypse zu ersparen und eine schnellere Ankunft des Jüngsten Gerichts, das über das weitreichende Schicksal der Menschen entscheidet, herbeizuführen. „Und wenn der Herr diese Tage nicht verkürzt hätte, würde kein Mensch selig“, heisst es im Evangelium von Markus.

Schlafsaal für Asylsuchende in Zivilschutzbunker; Quelle: blick.ch
Eine Analogie dieses christlichen Motivs zu der Behauptung, die beschleunigten Verfahren würden sich mit dem Interesse der Asylsuchenden decken, möglichst rasch zu wissen, ob sie bleiben können oder wieder gehen müssen, liegt augenscheinlich auf der Hand. Insofern drängt sich hier der Verdacht auf, dass es sich dabei gerade nicht um ein Modell handelt, das seine Priorität darauf legt, eine Beschleunigung der Verfahren im Rahmen eines modernen rechtsstaatlichen Systems umzusetzen. Vielmehr bricht sich hier ein überkommenes theologisches Modell Bahn, das in gottähnlicher Manier, die sich im Gewand karitativer Barmherzigkeit und Gnade ausgibt, über das Schicksal einzelner Menschen voreilig entscheidet.
Eine solche Verschiebung muss zu denken geben. Sie kann nicht im Sinne einer engagierten und verantwortungsbewussten Politik sein. Gesunder Menschenverstand und christliche Barmherzigkeit sind Diskurse, auf die sich im Ernstfall niemand berufen kann. Was Geflüchtete, Asylsuchende und MigrantInnen brauchen, sind Rechte. Dieses Asylgesetz ist ein weiterer Schritt, um Rechte einzuschränken, die Ausübung von Rechten zu kontrollieren sowie Menschen aus der Sphäre des Rechts auszuschliessen. Die Rede von der Beschleunigung lenkt davon letztlich ab – kein Hoffnungsschimmer moderner Fortschrittlichkeit, sondern eine Gewaltstruktur der Dynamisierung von Bewegungsmacht, die rechtliche Grundsätze verwirft und weit davon entfernt ist, Flucht und Migration als die Realitäten anzuerkennen, zu denen sie schon längst geworden sind.