Vladimir Putins Reden zu Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine haben die Welt geschockt. In zwei Fernsehansprachen hat Putin seine Argumentation in einem emotionalen, aggressiven, teilweise wütenden Ton vorgetragen: am 21. Februar über die russische Anerkennung der von Kyiv abtrünnigen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk und am 24. Februar am Anfang der sogenannten „militärischen Spezialoperation“. Nicht wenige haben daraufhin die Vermutung geäußert, der russische Präsident sei verrückt geworden. Wie es um die mentale Gesundheit Vladimir Putins steht, wissen wir nicht. Was wir aber mit Sicherheit wissen: Putins aggressive Sprache der letzten Wochen ist keineswegs neu, vielmehr handelt es sich um eine radikalisierte Rhetorik, die direkt auf die Affekte der Zuhörer:innen zielt. Diese Affektrhetorik hat Putins Argumentation in Bezug auf die Ukrainefrage von Anfang an charakterisiert. Das postsowjetische Russland modelliert Putin als einen Emotionsraum, der vom Gefühl einer tiefen Kränkung dominiert wird. Vom Westen betrogen und gedemütigt, sehne sich Russland nach Respekt und Anerkennung seiner geopolitischen Interessen, in denen die Ukraine eine Schlüsselrolle spielt. Es lohnt sich daher, einen Blick auf diese besondere Form der Argumentation in Putins Rhetorik zu werfen und ihre Verschränkung mit anderen Argumentationsstrategien zu untersuchen.
Politische Affekte
Dass politische Ordnungen auch affektive Ordnungen sind, d.h. dass Affekte – Gefühle in einem weiten Sinne – ein Motor des Politischen sind, darauf wurde im Zuge des sogenannten affective turn in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten vielfach hingewiesen. Wenn ich hier aber von Affektrhetorik spreche, meine ich nicht die bloße emotionale Färbung politischer Rede, sondern eine Form der Argumentation, die nach der aristotelischen Rhetoriklehre zu den wichtigsten Überzeugungsmitteln des Redners gehört. In der berühmten Triade „Logos“, „Ethos“ und „Pathos“ bezeichnet Letzteres das auf Affekterregung der Zuhörer gerichtete Argumentieren.
Vladimir Putin ist in dieser Hinsicht ein interessanter Redner, weil er das Spiel mit rhetorischen Mitteln gut beherrscht. Er ist sicherlich kein sonderlich begabter Orator, wie beispielsweise sein politischer Ziehvater Anatolij Sobčak, Bürgermeister von St. Petersburg in den 1990er Jahren, oder auch Boris El’cin in den ersten Jahren seiner politischen Karriere es waren. Putins Rhetorik zeichnet sich eher durch stilistische Vielfalt und argumentative Flexibilität aus. Je nach Situation, Adressaten und Kontext konkretisiert sich diese rhetorischen Eklektik unterschiedlich, durch Reden, deren Spannbreite sehr weit ist: vom Technokratischen (hier stilisiert sich Putin als kundiger Mann der Tat, der über umfassende Kenntnisse in allen wichtigen politischen Bereichen verfügt und konkrete Probleme löst), über das ‚Spontan-Arhetorische‘, zum Teil Vulgäre (durch das er seine volksnahe Entschlossenheit zum Ausdruck bringt, wobei er manchmal die Sprache der organisierten Kriminalität verwendet) bis hin zum Historisch-Staatstragenden.
Unter diesen verschiedenen rhetorischen Rollen, die Putin verkörpert, hat letztere in jüngster Zeit deutlich die Oberhand gewonnen: Putin inszeniert sich zum einen als oberster Historiker des Landes, der ‚wissenschaftliche‘ Artikel publiziert, lange und gerne über Geschichte doziert, und zugleich als historische Persönlichkeit, d.h. als Vollender einer „geschichtlichen Mission“, die in der Wiederherstellung der territorialen Einheit des „historischen Russlands“ besteht. Wie Putin in alter imperialer Tradition vielfach argumentiert hat, gehört für ihn dazu auch die Ukraine.
Das Gewicht von Putins Reden für den heutigen politischen Diskurs in Russland kann man kaum hoch genug einschätzen, denn sie haben eine programmatische Funktion. Putins Reden, an denen ein großer Stab von Redeschreibern arbeitet, sind zentrale Orte der Formulierung von politischen Ideologemen, die dann in allen Staatsmedien konsequent propagiert, d.h. ausbuchstabiert und bebildert werden. Es handelt sich dabei um eine monologische Rhetorik, die keine Widerrede akzeptiert und den quasi-sakralen Status der Wahrheitsverkündung aufweist.
Die rhetorische Vorbereitung des Krieges
Putins Rhetorik ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Krieges in der Ukraine, der – und das wird oft vergessen – bereits 2014 begann. Putin hat diesen Krieg rhetorisch vorbereitet, begleitet und eskalieren lassen. Aus seiner Argumentation ragen drei Ebenen besonders deutlich heraus: Eine sachlogische Ebene, in deren Zentrum vor allem völkerrechtliche Argumente stehen; eine historische Ebene, die narrativer Natur ist und deshalb, rhetorisch gesehen, weniger zwingend als das rationale Argumentieren ist; und eine affektrhetorische Ebene, die heftige, akute Emotionen hervorrufen will.
Diese drei Argumentationslinien sind eng miteinander verwoben und potenzieren sich gegenseitig. Völkerrechtliche Argumente haben 2014, im Zuge der Rechtfertigung der Annexion der Krym, eine zentrale Rolle gespielt. In seiner feierlichen Rede vom 18. März 2014 beruft sich Putin auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und vergleicht die Situation auf der Krym mit jener im Kosovo im Jahr 1999. Er bildet also seine Argumentation auf Kausal- und Vergleichsschlüssen. Aber auch für die jetzige Rechtfertigung des Beginns der militärischen Operationen in der Ukraine sind völkerrechtliche Argumente in Bezug auf einen angeblichen „Genozid“ an der dort lebenden russischen Bevölkerung von zentraler Bedeutung. Wesentlich ist dabei der Vergleich mit der Rechtfertigung der militärischen Intervention der NATO gegen Jugoslawien.
In den letzten Jahren hat das historische Argument der Zugehörigkeit der Ukraine zur „russischen Welt“ in Putins Reden zunehmend an Bedeutung gewonnen und das völkerrechtliche Argument an den Rand gedrängt. Mithilfe einer äußerst tendenziösen historischen Erzählung hat Putin dieses Argument im Juli vorigen Jahres in einem langen (und langatmigen) Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ erläutert. Wiederholt hat er es seitdem mehrmals, etwa in den zwei oben genannten Fernsehansprachen Ende Februar.
Wie mittlerweile bekannt sein dürfte, postuliert Putin eine historisch gewachsene Einheit von Russen, Ukrainern und Belarussen, deren Wurzel er im mittelalterlichen Staat der sog. Kiever Rus’ (9.-12. Jahrhundert) sieht. Putin knüpft dabei an eine alte Meistererzählung der russischen imperialen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts an: Nach dem Zerfall der Kiever Rus’ und der Zeit unter dem „tatarischen Joch“ habe Moskau mit der „Sammlung der russischen Länder“ begonnen, da es, im Sinne einer translatio imperii, das neue Zentrum der russischen Staatlichkeit wurde.
Für Putin gibt es zwischen Russen und Ukrainern, für die er oft die alte imperiale Bezeichnung „Kleinrussen“ verwendet, nicht bloß ein gemeinsames Erbe, sondern eine Art natürliche Einheit, vorgegeben durch orthodoxen Glauben, sprachliche Nähe und kulturelle Gemeinsamkeiten. Aus diesem Grund seien Vorstellungen einer von Russland unabhängigen ukrainischen Nation schlichtweg widernatürlich und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts praktisch nicht vorhanden gewesen. Dass diese Vorstellungen jedoch Realität geworden seien, liege einzig und allein an der Nationalitätenpolitik der Bolschewiken.
Dazu Putin im Wortlaut: „Es war die sowjetische Nationalitätenpolitik, die auf staatlicher Ebene die These von drei getrennten slawischen Völkern – dem russischen, dem ukrainischen, und dem belarussischen – festschrieb, statt der großen russischen Nation, eines dreieinigen Volks, bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Belarussen. […] Die heutige Ukraine [wurde] auf Kosten des historischen Russlands geschaffen“ (zitiert nach der deutschen Übersetzung von Andrea Huterer, in: Osteuropa 71/7 [2021]). Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe der Westen daran gearbeitet, diese historisch gewachsene Einheit zu zerstören und aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ zu machen. Aber die Ukraine könne „echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen“.
Die große Kränkung
Viel ist über diesen historischen Unsinn geschrieben worden, den Putin in seinen Reden und Texten über die Ukraine vertritt. Übersehen worden ist allerdings, dass die überzeugen-wollende Wirkung dieser historischen Erzählung, genauso wie jene der völkerrechtlichen Argumentation, durch die Verschränkung mit einer bestimmten Affektrhetorik gesteigert wird. Die penetrante ‚Basslinie‘ in Putins Argumentation ist ein starkes Gefühl, und zwar das der Kränkung. Diese Affektrhetorik wird bereits in der Rede vom 18. März 2014 deutlich formuliert und seitdem permanent wiederholt. Es lohnt sich also, auf diese Art von Rhetorik genauer einzugehen (im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel, in: Osteuropa 64/5-6 [2014]).
Putin modelliert hier das postsowjetische Russland als ein zutiefst gekränktes Land, das vom „Westen“ wiederholt beleidigt und betrogen worden sei. In historischer Perspektive handelt es sich dabei um die letzte Etappe eines alten, von westlichen Mächten beharrlich vorangetriebenen politischen Programms der „Eindämmung“ Russlands. Den „Verlust“ der Krym nach dem Zerfall der Sowjetunion beschreibt Putin mit der emotionalen Metapher des „Raubs“ („Als die Krym plötzlich in einem anderen Staat lag, war das für Russland so, als wäre es nicht nur bestohlen, sondern regelrecht ausgeraubt worden“), wobei er Russland als personifiziertes Opfer dieser „Ungerechtigkeit“ erscheinen lässt.
Dass Russland damals die Krym aufgegeben habe, führt Putin auf die Schwäche des Landes in den 1990er Jahren zurück. Sie ist das Schreckgespenst im russischen politischen Diskurs seit den 2000er Jahren und dient als Rechtfertigung für den Aufbau eines autokratischen, Stabilität versprechenden Systems. Die Komplexität politischer Prozesse, die damals stattfanden, reduziert Putin auf einfache Gefühle, wenn er pathetisch behauptet: „Wo warst du, Russland? Russland hat den Kopf sinken lassen und resigniert, es hat die Kränkung heruntergeschluckt“.
Die Kränkung Russlands wird dadurch verstärkt, dass in der Rede eine Opposition zwischen einem genuin aufrichtigen Russland einerseits und einer betrügerischen, vom Westen gesteuerten Ukraine anderseits aufgebaut wird. Man sei in den 1990er und 2000er Jahren der Ukraine „nicht nur in Bezug auf die Krym entgegengekommen“, doch „die Dinge entwickelten sich anders“.
An dieser Stelle in der Rede vom 18. März 2014 kommt ein verschwörungstheoretisches Moment ins Spiel, wenn es um die Geschehnisse auf dem Majdan geht: „Die Hintermänner der jüngsten Ereignisse in der Ukraine verfolgten andere Ziele: Sie planten wieder einmal einen Staatsstreich […]. Terror, Mord, und Pogrome wurden angezettelt. Die treibenden Kräfte des Umsturzes waren Nationalisten, Neonazis, Russenhasser und Antisemiten“. Putin greift hier zu einer sehr heterogenen Erweiterung (amplificatio), die durch einen Vergleichsschluss mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ emotional aufgeladen wird – er dient im heutigen Russland oft als Folie für die Deutung gegenwärtiger Konflikte.
Die Opposition zwischen einem gutgläubigen, und deshalb erniedrigten und beleidigten Russland und dem listigen „Westen“ mündet in eine wütende Invektive, vorgetragen in einer direkten, emotionalen Sprache: „Uns ist klar, was hier abläuft, uns ist klar, dass dieses Vorgehen sowohl gegen die Ukraine als auch gegen Russland und gegen eine Integration im eurasischen Raum gerichtet war. Und das, während Russland sich aufrichtig um einen Dialog mit unseren Kollegen im Westen bemühte. […] Wir wurden ein ums andere Mal betrogen […]. Aber alles hat seine Grenzen. […] Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie irgendwann mit aller Kraft auseinander schnellen. Das sollte man nie vergessen“.
Deutlich erscheint bereits hier die Motivation für die seit 2014 laufenden und in den letzten Wochen dramatisch eskalierten kriegerischen Operationen in der Ukraine: Es ist das Gefühl des Sich-Wehrens gegen die zu lange ertragene Kränkung Russlands, ein Gefühl, das Putin durch eine direkte, Authentizität simulierende Sprache selbst verkörpert. In diesem Kontext, in dem das Imperium zurückschlägt, kann Putin zufolge die Ukraine kein selbständig agierendes politisches Subjekt sein, da sie nur als Spielball „westlicher Mächte“ infrage kommt. In seinem ins Gewand einer historischen Abhandlung gekleideten Aufsatz vom letzten Jahr schreibt Putin dazu: „Schritt für Schritt zogen [die westlichen Mächte] die Ukraine in ein gefährliches geopolitisches Spiel, dessen Ziel ist es, die Ukraine in einen Puffer zwischen Europa und Russland, in ein Aufmarschgebiet gegen Russland zu verwandeln“.
Die historische Kränkung Russlands radikalisiert sich hier bis zur Paranoia, bis zur Verschwörungstheorie. Das westliche Projekt, aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ zu machen, sei nichts anders als die Fortsetzung einer historisch gewachsenen Politik der Eindämmung Russlands, die als Akteure in der Vergangenheit Polen-Litauen, dann Österreich-Ungarn, und nun die USA, die NATO und die EU kennt.
Dieses verschwörungstheoretische Denken, in dessen Rahmen Russland gar nicht als Aggressor auftreten kann, sondern immer nur als Verteidiger der eigenen nationalen Integrität, wird in Putins Rhetorik oft emotional aufgeladen durch einen weiteren zentralen Begriff aus dem gegenwärtigen russischen politischen Diskurs, nämlich durch den Begriff der „Russophobie“: Jede Form von Kritik an Russland, sowohl im Inneren als auch im Ausland, wird zur Erscheinung eines in der Welt tief verankerten Hasses gegen die russische Kultur und die russischen Menschen erklärt.
Die Wurzeln dieses angeblich weltweit verbreiteten pathologischen Zustands werden nur vage erklärt, vermutlich liegen sie – so die Unterstellung – in einem kollektiven Neid auf die Größe und die damit verbundene geopolitische Macht Russlands, die in Angst und Hass umschlägt. Und so behauptete Putin im Dezember 2021, dass „die Russophobie im Donbas nur der erste Schritt zum Genozid ist.“ In dieser extremen Stufe von Putins Affektrhetorik schlagen Emotionen ins Pathologische um. Sie werden im Grunde irrational und deshalb umso gefährlicher.
Kann es in dieser Situation Spielraum für verbale Abrüstung geben? Im Moment scheint die sorgfältig geplante, affektrhetorische Eskalation mit der zunehmend brutalen Kriegsführung der russischen Armee auf erschreckende Weise einherzugehen. Zugleich aber liegt die ‚verbale Kriegsführung‘ immer mehr bei Putin allein, während andere wichtige Funktionsträger, wie zum Beispiel Verteidigungsminister Sergej Šojgu, nicht mehr in Erscheinung treten. Eine Wende in der Rhetorik wäre also durch einen Sprecherwechsel durchaus denkbar.