Sein Interesse an Geschichte hat Vladimir Putin bereits am Anfang seiner Präsidentschaft demonstriert. Im November 2003 traf er sich mit Historikern, um ihnen die Unzulässigkeit der „Politisierung“ des Schulfachs Geschichte auseinanderzusetzen, und rief sie dazu auf, in den Schulbüchern nur solche Fakten darzulegen, die „bei jungen Menschen Stolz auf ihr Land wecken“. Wie durch einen Zufall hatte das russische Bildungsministerium nur zwei Tage zuvor die Zulassung für das recht populäre Geschichts-Lehrbuch von Igor’ Doluckij zurückgezogen, das eine durchaus kritische Perspektive auf die Sowjetperiode einnahm.
Seitdem hat Putin sich immer wieder ins Gefilde der russischen Geschichte begeben. Mal ließ er sich über Lehrbücher aus, mal über ihre Autor:innen (darunter diejenigen, die seiner Meinung nach von „ausländischen Fördergeldern“ abhängig seien), mal darüber, dass das historische Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt werden müsse. Es ging ihm immer wieder um Stolz, nationale Einheit und weitere typische Denkbilder des durchschnittlichen Patrioten. Am Anfang seiner Präsidentschaft hatte Putin zunächst noch für eine gewisse Pluralität in der schulgeschichtlichen Praxis plädiert (wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen), doch schon bald stand die Idee des „einheitlichen Lehrbuchs“ im Zentrum, die zu einem landesweiten historisch-kulturellen Standard führen sollte. Daraus wurde eine Zwangsjacke, die in den prinzipiellen Fragen keine unterschiedlichen Lesarten mehr zuließ.
Man könnte das Interesse des Souveräns an der Geschichtsdidaktik für durchaus nachvollziehbar halten: Das Land ist groß, die Ethnien sind zahlreich – die naheliegendste Art, sie zusammenzuhalten, ist daher, sie zwischen die Seiten eines Schulbuchs zu pressen, auf dessen Buchdeckel steht: „Die Geschichte des Russländischen Staates“. Und so geschah es dann auch.
Der Kampf um die gemeinsame Geschichte
Putin war es jedoch nicht genug, sich um geschichtspolitische Angelegenheiten im Inland zu kümmern. Auch das Ausland rückte in seinen Fokus – zunächst die benachbarten, dann auch die weiter entfernteren Staaten. Das nächste und sein Interesse am stärksten weckende Land war die Ukraine, die jedoch von diesem Liebhaber praktischer Geschichte, wie sich schnell herausstellen sollte, gar nicht erst als Ausland wahrgenommen wurde.
Schon im Jahr 2003 hatte Putin „Historikern zugestimmt“, die eine gewisse Methodologie „einheitlicher Beleuchtung“ der sowjetischen Geschichte in den GUS-Staaten vorgeschlagen hätten. Zur selben Zeit wurde auch eine russisch-ukrainische Historikerkommission ins Leben gerufen, deren russische Teilnehmer:innen zunächst versuchten, die Fragen der „einheitlichen Beleuchtung“ auf die Tagesordnung zu setzen. Doch bald ließen sie von diesen hoffnungslosen Versuchen ab, da die Ukrainer:innen mit Nachdruck darauf bestanden, ihre nationale Geschichte so zu schreiben, wie sie es selbst für richtig hielten.

Die „orangene Revolution“ 2004; Quelle: atlanticcouncil.org
Im Jahr 2005 intensivierte sich das Interesse des Präsidenten für die Geschichte der Nachbarländer und ihre Lesarten. Anscheinend gab es dafür zwei Auslöser: Zum einen die „Orangene Revolution“ in der Ukraine, die den Wahlsieg des von Putin aktiv unterstützten Viktor Janukovyč verhinderte, und zum anderen die EU-Osterweiterung, die das Baltikum und Polen umfasste.
Die neuen EU-Mitglieder brachten eine für das russische politische Establishment äußerst unangenehme Idee in den europäischen politischen Diskurs, nämlich dass die Sowjetarmee ihnen nicht so sehr eine Befreiung vom Nazismus, sondern vielmehr eine neue Form der Unterjochung gebracht habe. Dazu kam die These zur Gleichsetzung der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime, die von den EU-Neuzugängen forciert wurde. Beim Gedenktag an den Sieg gegen NS-Deutschland am 9. Mai 2005 sagten die Präsidenten Litauens und Estlands ihre Teilnahme an der prunkvollen Parade demonstrativ ab. Polen hingegen wurde vom ehemaligen Armeegeneral, Ministerpräsidenten und Staatsoberhaupt des kommunistischen Polens Wojciech Jaruzelski vertreten, das heißt von einem Repräsentanten eben jener neuen Unterdrückung, von der die Vertreter der „vom Nazismus befreiten“ Nationen nach 1990 so viel sprachen.
Es war zu diesem Zeitpunkt, dass sich in der Moskauer Geschichtspolitik ein außenpolitischer Vektor auftat: Russland eröffnete eine „zweite Front“ im Kampf um die richtige Geschichtsschreibung gegen praktisch alle seine Nachbarn. In den Jahren 2007 und 2008 werden die staatlichen Organisationen „Russische Welt“ (Russkij mir) und „Russland-Zusammenarbeit“ (Rossotrudničestvo) ins Leben gerufen, deren strategische Ausrichtung auf die Schaffung einer russischen Irridenta zielte. 2007 bis 2010 tobte ein regelrechter Krieg um die historische Erinnerung, geführt von Russland gegen das Baltikum und die Ukraine. Die russische UNO-Delegation startete einen propagandistischen Marathon zur Verurteilung der Glorifizierung von „Nazi-Helfern“, der sich in erster Linie gegen das Baltikum richtete und über ein Jahrzehnt andauerte.

Lehrbuch für die 11. Klasse „Geschichte Russlands, 1900-1945“, herausgegeben von Aleksander Filippov; Quelle: urokiistorii.ru
Zur gleichen Zeit werden unter der Leitung von Aleksandr Danilov und Aleksandr Filippov Handreichungen für russische Geschichtslehrer:innen ausgearbeitet, die die „zivilisatorische Rolle Russland“ in den ehemaligen Grenzregionen des Imperiums, so auch im Baltikum, besonders herausstrichen. 2009 wird die berüchtigte „Medvedev-Kommission“ ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzt, gegen die „Falsifizierung der Geschichte Russlands“ seitens des Auslandes vorzugehen. 2012 löste Putin sie auf, schuf jedoch später eine ähnlich beschaffene interministerielle Kommission zur historischen Bildung.
Die Beherrschung der Geschichte
In diesen Prozessen nahm die Ukraine einen besonderen Platz ein. Die Aktionen und die Rhetorik der russischen Regierung zeugen davon, dass die ukrainischen Aspekte der Geschichtspolitik, im Gegensatz zu baltischen oder polnischen, von Moskau als innenpolitische Angelegenheit aufgefasst wurden – allerdings nicht der Ukraine selbst, sondern Russlands. Die „gemeinsame Vergangenheit“ hatte die gemeinsame Gegenwart zu bestimmen.
Die bereits erwähnte russisch-ukrainische Historikerkommission, 2003 auf Initiative Russlands gegründet, hatte zuerst vor, die scharfen Kanten dieser „gemeinsamen Vergangenheit“ abzuschleifen. Ihr wichtigstes Ergebnis war eine von ukrainischen Historikern in russischer Sprache verfasste Geschichte der Ukraine, die zur Publikation in Russland bestimmt war. Der gewichtige Band schrieb die Geschichte der Ukraine dezidiert als diejenige eines souveränen, vollwertigen historischen Subjekts. Die erste Auflage belief sich auf 300 Exemplare. Ob es eine zweite gab, ist unbekannt. In Russland hat dieses Werk kaum Spuren in Form von Zitaten, Verweisen oder Diskussionen hinterlassen. Immerhin war auch das Schicksal einer entsprechenden „Geschichte Russlands“, geschrieben von russischen Historikern im Rahmen desselben Projektes, in der Ukraine ähnlich trist.
Schon vor der „Orangenen Revolution“ war der Kreml vor allem bemüht, „separatistischen“ Tendenzen in der ukrainischen Geschichtspolitik in Bezug auf die „gemeinsame Vergangenheit“ entgegenzuwirken. Doch nachdem es nicht gelungen war, Viktor Janukovyč auf den Thron zu setzen, wurde ab 2004 ein neuer, antagonistischer Diskurs immer sichtbarer.
Bereits während des ukrainischen Präsidentschaftswahlkampfes 2004 lancierten russische Polittechnologen das Narrativ vom „ukrainischen Nazismus“ – wobei sie sich zunutze machten, dass sich im Umfeld von Viktor Juščenko Vertreter rechtsradikaler Parteien und Organisationen wie etwa „Svoboda“ befanden. Photomontagen von Juščenko in Nazi-Uniform auf Plakatwänden in Doneck, die Rede von den „Naschisten“ (noch nicht bezogen auf die russische Pro-Kreml-Jugendbewegung „Naši“, sondern auf Mitglieder der Juščenko-Partei „Naša Ukrajina“) und der „orangenen Pest“ (in Anlehnung an die „braune Pest“) – all das waren die ersten Manifestationen des neuen, vom Kreml inspirierten Ukraine-Diskurses. Dabei spielten die ukrainischen Nationalisten dem Kreml objektiv in die Hände. Sie hatten ein idealisiertes Bild der ukrainischen nationalistischen Organisationen und Anführer der Zwischenkriegszeit gepflegt, und ihre Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sowie weitere Aktionen der von ihnen verehrten historischen Protagonisten, etwa ihre Beteiligung am Holocaust und das Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung in Volhynien im Jahre 1943, relativiert.
In den Jahren von 2007 bis 2009 entbrannte ein regelrechter Krieg um die historische Erinnerung. Russlands herrschende Klasse, ihre Propaganda-Bediensteten und ihre Clacqeure aus dem Kulturbetrieb kämpften aktiv gegen die internationale Anerkennung des ukrainischen Holodomor als Genozid, unternahmen diplomatische Offensiven gegen die „Glorifizierung der OUN und der UPA“ (d.h. die rechtsradikale „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ und ihr militärischer Flügel), die unter Juščenko tatsächlich zum Teil der ukrainischen Geschichtspolitik geworden war, und etablierten zunehmend ein mediales Bild der Ukraine als eines Territoriums, das von einem wildgewordenen Nationalismus befallen sei.

Putin und Obama am NATO-Gipfel in Bukarest 2008; Quelle: loleblog.com
2008 trat Putin mit einer Erklärung auf, die man als programmatisch bezeichnen kann. Wir wissen nicht, welche Klassiker der russischen imperialen Geschichtsschreibung ihn dazu bewogen haben, jedenfalls war seine Rhetorik auf dem NATO-Gipfel in Bukarest erstmals deutlich von einer Revision der „gemeinsamen Vergangenheit“ im Sinne einer „Sammlung russischer Erde“ geprägt. Zuerst machte der erwiesene Liebhaber historischen Lesestoffes darauf aufmerksam, dass Russen ein Drittel der heutigen ukrainischen Bevölkerung ausmachen würden, auf der Krym gar noch mehr. Dann tat er kund, die Ukraine sei ein künstlich zusammengesetzter Staat, der erst zu Sowjetzeiten geschaffen worden sei. Dann erfuhren seine Zuhörer:innen, dass dieser Staat einige Territorien von Nachbarländern erhalten habe, darunter „riesige Territorien“ von Russland. Abschließend ließ er verlauten, das Hineintragen der „NATO-Problematik“ in die Diskussion um die Perspektiven der Ukraine könne dieses Land „an den Rand der Existenz als Staat“ bringen.
Es liegt auf der Hand, dass diese Thesen die Grundlage von Putins Vorstellungen über die Ukraine bilden. Die Ukraine figuriert darin als „unechter“ Staat, zusammengestoppelt aus den Flicken fremder Territorien. In dieser Eigenschaft läuft sie Gefahr, zur Beute der bösen NATO zu werden, anstatt in Harmonie mit Russland zusammenzuleben.
Während der Präsidentschaft des 2010 nun doch an die Macht gekommenen Janukovyč schwächte sich der Antagonismus um die „gemeinsame Geschichte“ ein wenig ab. Doch im September 2013 entschied sich Putin wieder einmal, der Öffentlichkeit seine Sicht auf die Geschichte der Ukraine mitzuteilen. Und wieder war, wie fünf Jahre zuvor, eine Bewegung der Ukraine in Richtung Westen, nämlich ein Assoziationsabkommen mit der EU, der unausgesprochene Grund dafür. In einem Interview für Associated Press teilte Putin unter anderem mit, dass Russ:innen und Ukrainer:innen ein Volk seien, getauft im selben historischen Taufbecken. Er bekundete zwar, von der ukrainischen Kultur, ihrer Musik und ihren Tänzen begeistert zu sein, und Respekt für den Wunsch der Ukrainer:innen nach Eigenständigkeit zu hegen – doch zugleich sprach er wieder von den Territorien, die Russland der Ukraine geschenkt habe, und behauptete, erst in einem mit Russland vereinigten Staat, mit der Vereinigung „beider Teile der Rus“, habe die Ukraine ein großer europäischer Staat werden können.
Von der Eroberung der Geschichte zur Eroberung von Territorium

Majdan-Aufstand, Kyiv, Februar 2014; Quelle: spiegel.de
Trotz dieser Bekundung, er habe Respekt vor dem Wunsch der Ukrainer nach europäischer Integration, entfesselte Putin sogleich einen Zollkrieg mit der Ukraine und erreichte dadurch, dass die ukrainische Regierung von der Unterzeichnung des Assoziierrungsabkommens Abstand nahm. Dies führte zu massiven Bürgerprotesten, die sich im Winter 2014 mit dem sogenannten Euromaidan zu einem großflächigen Aufstand gegen Janukovyč entwickelten. Das revolutionäre Chaos ausnutzend, annektierte Putin die Krym und provozierte einen bewaffneten Konflikt im Donbas, der zu einem hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine anwuchs.
Geschichte und historisches Gedächtnis wurden zu einem Bestandteil dieses Krieges. In Russland wuchs der Kult des „großen Sieges“ im Zweiten Weltkrieg zu einem Kult des Militarismus und einem (so von Kritikern bezeichneten) „Siegeswahn“ (pobedobesie) an, dessen radikalste Ausprägung der Slogan „Možem povtorit‘“ („Wir können es wiederholen!“) war, verbunden mit der Rechtfertigung des hybriden Krieges gegen die Ukraine. Im Donbas wurde dieser Kult erfolgreich in die Idee transformiert, man würde dort die Sache des 9. Mai fortführen: Das, was „wir“ dort 1945 nicht vollendet haben, bringen wir jetzt zu Ende – den Kampf gegen Faschisten und „Bandera-Leute“. Wie wir jetzt sehen, blieb dies auch die Ideologie des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine.
Gleichzeitig entwickelte man das Thema der „historischen Territorien“ weiter. Im März 2014 behauptete Putin, um die Annexion zu legitimieren, die Krym, genauso wie Territorien „Südrusslands“, sei seinerzeit illegal an die Ukraine übergeben worden wie ein „Sack Kartoffeln“. Dabei vergaß er offenbar, dass dies auf einem Territorium geschah, wo besagtes „gemeinsames Volk“ lebte. Wenn Ukrainer und Russen ein gemeinsames Volk sind – was tut dann der „Sack Kartoffeln“ zur Sache?
Zur selben Zeit tauchte auch das „Novorossija“-Projekt auf. Im April 2014 teilte Putin bei einer Live-Schaltung im russischen Fernsehen eine weitere seiner historischer Entdeckungen mit dem Publikum, indem er Doneck, Luhansk, Char’kiv, Mykolajiv, Cherson und Odesa „Neurussland“ („Novorossija“) zuordnete; zugleich äußerte er sein Unverständnis darüber, dass die Bolschewiki diese Territorien seinerzeit der Ukraine zugeschlagen hätten. Im Oktober des Jahres wiederholte er diese liebgewonnene Lektion in historischer Geographie auf der Tagung des Valdaj-Klubs, wenngleich ergänzt mit ritualisierten Bekundungen des Respekts vor der ukrainischen Souveränität.
Als Folge dieser Übungen entstand „Novorossija“ als politisches Projekt – vorerst bestehend aus den separatistischen Donecker und Luhansker „Volksrepubliken“. Es wurde sogar ein sogenanntes „Neurussisches Parlament“ zusammgerufen, doch das Projekt wurde vertagt – in Syrien standen dringendere Aufgaben an.
Schließlich war für den eifrigen Leser historischer Werke der Zeitpunkt gekommen, selbst zur Feder zu greifen. Im Sommer 2021 offerierte Putin der Öffentlichkeit einen längeren Essay mit dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“, der zu einem eigenwilligen Kompendium all seiner vorhergehenden Aussagen und Überlegungen wurde: vom gemeinsamen Volk war die Rede, von der gemeinsamen Geschichte, von den besonderen Rechten der Russen in der Ukraine, von den ukrainischen „Nationalisten-Nazisten“, von den von Russland verschenkten Territorien.
Der Essay, auf Russisch und Ukrainisch veröffentlicht, löste eine kurzzeitige Hektik in den Medien aus. Im Strudel begeisterter bis höhnischer Kommentare huschte eine Meldung vorbei, wonach das russische Verteidigungsministerium empfohlen hätte, den Essay des Oberbefehlhabers zur Pflichtlektüre an den Militärschulen zu machen. Viele hielten dies damals für ein kurioses Beispiel soldatisch-bürokratischen Gehorsams. Aus heutiger Perspektive sieht dies schon weniger kurios aus.
Die Geschichte auslöschen – ein Land auslöschen

Museum in Mariupol, 28.4.2022; Quelle. cbc.ca
Der Oberbefehlhaber wiederholte die Grundthesen seines Essays in einer langgeratenen Rede am 21. Februar 2022. Sie ging der blutigen Tragödie unmittelbar voraus, die nun im Eiltempo zur Horror-Farce verkommt: Der frischgebackene Populärhistoriker versucht sich als Regisseur eines historischen Reenactment. Er vergleicht sich mit Peter dem Großen und nimmt für sich in Anspruch, Territorien zu sammeln, während seine ideologischen Bediensteten propagandistische Klischees für das einzig richtige Bild der „Sonder-Militäroperation“ fabrizieren.
Geschichtsmanie, die in ein Kriegsspiel in imaginierten und realen historischen Landschaften mündet – dies ist nicht bloß der Zeitvertreib eines offenbar von seinem Job gelangweilten russischen Präsidenten. Das individuelle Trajektorium des Historikers Putin vom Leser zum Schreiber und schließlich zum Rekonstrukteur deckt sich in Wirklichkeit mit dem, was ein großer Teil seiner Untertanen denken. Gemäß soziologischen Umfragen sind es nicht die wissenschaftlichen oder kulturellen Errungenschaften, auf die die Mehrheit der Russ:innen am meisten stolz sind, und noch nicht einmal auf die Armee (was man ihnen nicht verübeln kann – für eine Armee, die in Butscha gewesen ist, kann man sich nur schämen). Am stolzesten sind sie auf die Geschichte, die Vergangenheit. Von 1994 bis 2020 war es die Vergangenheit, die stets an erster Stelle in der assoziativen Begriffsreihe der Russ:innen stand, die nach ihrem Bild vom russischen Volk befragt wurden. Und im historischen Bewusstsein nahm wiederum der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg stets den ersten Platz ein.
Ein weiterer Aspekt des historischen Bewusstseins, das Putin mit seinen Anhänger:innen teilt, ist die Abwesenheit der Ukraine und Ukrainer:innen als historische Subjekte. Die Analyse von Geschichtsschulbüchern, die in den letzten zwanzig Jahren in Russland herausgegeben wurden, zeigt eine ganze Reihe von ukrainebezogenen Themen auf, aus denen die Ukraine und die Ukrainer:innen förmlich herausgeschrieben worden sind.
Die Ereignisse, die in der Ukraine als Grundlage des eigenen nationalen Selbstbewusstseins gelten, sind wiederum für Putins Untertanen, die zur Schule gegangen sind und das Einheitsabschlussexamen in Geschichte abgelegt haben, ein fester Teil der Geschichte des russischen Staates. Sei es der Treueeid der Kosaken bei Perjaslav auf den russischen Zaren 1654, sei es die Sowjetunion – all das steht für die Schaffung des „einheitlichen Volkes“. Die Auflösung der Sowjetunion 1991 hingegen – das ist „Spaltung“ und die „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Entsprechend figurieren die Ukrainer:innen in diesem Geschichtsbild als dümmliche und vertrauensselige „kleine Brüder“, als tolpatschige „Haarschöpfe“ (so die abschätzige russische Bezeichnung, „chochly“), die immer wieder vom gewieften „Westen“ bezirzt und auf das arme, unschuldige Russland gehetzt werden – sei es von den Polen, von den Österreichern, von den Deutschen, von den Amerikanern oder von der EU. Das ist das Bild, das sich im Kopf des durchschnittlichen russischen Patrioten verfestigt hat. So gesehen, ist die „Spezielle Militäroperation“ die Wiederherstellung von Ordnung nicht einmal beim Nachbarn, sondern im eigenen Vorgarten. Da kann man auch schon mal durchjäten und Schädlinge vernichten.
Das Verhältnis Putins, seiner Umgebung, aber auch eines bedeutenden Teils der russischen Bevölkerung zur Vergangenheit prägt entscheidend ihr Handeln in der Gegenwart. In der von ihnen imaginierten Vergangenheit gibt es keine Ukraine und keine Ukrainer:innen als selbständige, selbstgenügsame kulturelle und politische Entität. Und deswegen darf es sie auch nicht in der Gegenwart geben. Das sind nicht bloß ideologische Spekulationen und propagandistische Windungen, sondern essenzieller Teil einer Weltanschauung, die sich von rationaler Argumentation und von moralischen Normen freimacht. Ihre Wurzeln liegen noch im 19. Jahrhundert, in der berühmten Formel „es gab sie nicht, es gibt sie nicht und es kann sie nicht geben“ (so das Verdikt des Zarenregimes 1863 über die ukrainische Sprache) – oder noch früher, als man ganze Staaten liquidieren und aufteilen konnte, wie etwa Polen im 18. Jahrhundert.
So sind die Wahlmöglichkeiten der Ukrainer:innen höchst eingeschränkt: entweder Teil des des großen russischen Volkskörpers zu sein – oder gar nicht zu sein. Dank Putin und seinen Wähler:innen ist diese Wahl zu einer Existenzfrage geworden. Das ist sie allerdings auch für Russland selbst: Die Besessenheit von der „großen Vergangenheit“ ist, wie die Geschichte zeigt, der direkte Weg in die Katastrophe. Die Unkenntnis der Geschichte ist in dem Fall einem Verbrechen gleich. Die Unkenntnis der ukrainischen Geschichte – und überhaupt die Unkenntnis der Ukraine als solcher – führte zur irren, verbrecherischen Entscheidung, einen Krieg nicht gegen irgendjemandem, sondern gegen einen Teil des imaginierten „gemeinsamen Volkes“ vom Zaun zu brechen.
Der Klassiker der modernen russischen Geschichtsschreibung, Vasilij Ključevskij (1841-1911), schrieb, dass die Geschichte diejenigen bestraft, die ihre Lektionen nicht lernen. Bis zu jener Stelle hat Putin anscheinend nicht gelesen. Und er wird die Lektüre auch kaum nachholen – schließlich schreibt er nun selbst.