Im Geschichtsbild Putins und eines großen Teils der russischen Bevölkerung ist kein Platz für die Ukraine als eigenständige kulturelle und politische Größe – und damit auch nicht in der Gegenwart. Dieses katastrophale Geschichtsbild ist älter als der aktuelle Krieg.

  • Georgiy Kasianov

    Georgiy Kasianov ist Professor an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin und Leiter des dortigen Laboratory of International Memory Studies. Er forscht und publiziert zur Geschichte der Ukraine vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, zu Theorien der Nation und des Nationalismus, zur Ideengeschichte und Erinnerungspolitik. Jüngst erschien von ihm „Memory Crash: Politics of History in and around Ukraine, 1980s-2010s” (CEU Press, 2022).

Sein Inter­esse an Geschichte hat Vladimir Putin bereits am Anfang seiner Präsi­dent­schaft demons­triert. Im November 2003 traf er sich mit Histo­ri­kern, um ihnen die Unzu­läs­sig­keit der „Poli­ti­sie­rung“ des Schul­fachs Geschichte ausein­an­der­zu­setzen, und rief sie dazu auf, in den Schul­bü­chern nur solche Fakten darzu­legen, die „bei jungen Menschen Stolz auf ihr Land wecken“. Wie durch einen Zufall hatte das russi­sche Bildungs­mi­nis­te­rium nur zwei Tage zuvor die Zulas­sung für das recht popu­läre Geschichts-Lehrbuch von Igor’ Doluckij zurück­ge­zogen, das eine durchaus kriti­sche Perspek­tive auf die Sowjet­pe­riode einnahm.

Seitdem hat Putin sich immer wieder ins Gefilde der russi­schen Geschichte begeben. Mal ließ er sich über Lehr­bü­cher aus, mal über ihre Autor:innen (darunter dieje­nigen, die seiner Meinung nach von „auslän­di­schen Förder­gel­dern“ abhängig seien), mal darüber, dass das histo­ri­sche Denken in eine bestimmte Rich­tung gelenkt werden müsse. Es ging ihm immer wieder um Stolz, natio­nale Einheit und weitere typi­sche Denk­bilder des durch­schnitt­li­chen Patrioten. Am Anfang seiner Präsi­dent­schaft hatte Putin zunächst noch für eine gewisse Plura­lität in der schul­ge­schicht­li­chen Praxis plädiert (wenn auch inner­halb bestimmter Grenzen), doch schon bald stand die Idee des „einheit­li­chen Lehr­buchs“ im Zentrum, die zu einem landes­weiten historisch-kulturellen Stan­dard führen sollte. Daraus wurde eine Zwangs­jacke, die in den prin­zi­pi­ellen Fragen keine unter­schied­li­chen Lesarten mehr zuließ.

Man könnte das Inter­esse des Souve­räns an der Geschichts­di­daktik für durchaus nach­voll­ziehbar halten: Das Land ist groß, die Ethnien sind zahl­reich – die nahe­lie­gendste Art, sie zusam­men­zu­halten, ist daher, sie zwischen die Seiten eines Schul­buchs zu pressen, auf dessen Buch­de­ckel steht: „Die Geschichte des Russ­län­di­schen Staates“. Und so geschah es dann auch.

Der Kampf um die gemein­same Geschichte

Putin war es jedoch nicht genug, sich um geschichts­po­li­ti­sche Ange­le­gen­heiten im Inland zu kümmern. Auch das Ausland rückte in seinen Fokus – zunächst die benach­barten, dann auch die weiter entfern­teren Staaten. Das nächste und sein Inter­esse am stärksten weckende Land war die Ukraine, die jedoch von diesem Lieb­haber prak­ti­scher Geschichte, wie sich schnell heraus­stellen sollte, gar nicht erst als Ausland wahr­ge­nommen wurde.

Schon im Jahr 2003 hatte Putin „Histo­ri­kern zuge­stimmt“, die eine gewisse Metho­do­logie „einheit­li­cher Beleuch­tung“ der sowje­ti­schen Geschichte in den GUS-Staaten vorge­schlagen hätten. Zur selben Zeit wurde auch eine russisch-ukrainische Histo­ri­ker­kom­mis­sion ins Leben gerufen, deren russi­sche Teilnehmer:innen zunächst versuchten, die Fragen der „einheit­li­chen Beleuch­tung“ auf die Tages­ord­nung zu setzen. Doch bald ließen sie von diesen hoff­nungs­losen Versu­chen ab, da die Ukrainer:innen mit Nach­druck darauf bestanden, ihre natio­nale Geschichte so zu schreiben, wie sie es selbst für richtig hielten.

Die „oran­gene Revo­lu­tion“ 2004; Quelle: atlanticcouncil.org

Im Jahr 2005 inten­si­vierte sich das Inter­esse des Präsi­denten für die Geschichte der Nach­bar­länder und ihre Lesarten. Anschei­nend gab es dafür zwei Auslöser: Zum einen die „Oran­gene Revo­lu­tion“ in der Ukraine, die den Wahl­sieg des von Putin aktiv unter­stützten Viktor Janu­kovyč verhin­derte, und zum anderen die EU-Osterweiterung, die das Baltikum und Polen umfasste.

Die neuen EU-Mitglieder brachten eine für das russi­sche poli­ti­sche Estab­lish­ment äußerst unan­ge­nehme Idee in den euro­päi­schen poli­ti­schen Diskurs, nämlich dass die Sowjet­armee ihnen nicht so sehr eine Befreiung vom Nazismus, sondern viel­mehr eine neue Form der Unter­jo­chung gebracht habe. Dazu kam die These zur Gleich­set­zung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen und kommu­nis­ti­schen Regime, die von den EU-Neuzugängen forciert wurde. Beim Gedenktag an den Sieg gegen NS-Deutschland am 9. Mai 2005 sagten die Präsi­denten Litauens und Estlands ihre Teil­nahme an der prunk­vollen Parade demons­trativ ab. Polen hingegen wurde vom ehema­ligen Armee­ge­neral, Minis­ter­prä­si­denten und Staats­ober­haupt des kommu­nis­ti­schen Polens Wojciech Jaru­zelski vertreten, das heißt von einem Reprä­sen­tanten eben jener neuen Unter­drü­ckung, von der die Vertreter der „vom Nazismus befreiten“ Nationen nach 1990 so viel sprachen.

Es war zu diesem Zeit­punkt, dass sich in der Moskauer Geschichts­po­litik ein außen­po­li­ti­scher Vektor auftat: Russ­land eröff­nete eine „zweite Front“ im Kampf um die rich­tige Geschichts­schrei­bung gegen prak­tisch alle seine Nach­barn. In den Jahren 2007 und 2008 werden die staat­li­chen Orga­ni­sa­tionen „Russi­sche Welt“ (Russkij mir) und „Russland-Zusammenarbeit“ (Rosso­trud­ničestvo) ins Leben gerufen, deren stra­te­gi­sche Ausrich­tung auf die Schaf­fung einer russi­schen Irridenta zielte. 2007 bis 2010 tobte ein regel­rechter Krieg um die histo­ri­sche Erin­ne­rung, geführt von Russ­land gegen das Baltikum und die Ukraine. Die russi­sche UNO-Delegation star­tete einen propa­gan­dis­ti­schen Mara­thon zur Verur­tei­lung der Glori­fi­zie­rung von „Nazi-Helfern“, der sich in erster Linie gegen das Baltikum rich­tete und über ein Jahr­zehnt andauerte.

Lehr­buch für die 11. Klasse „Geschichte Russ­lands, 1900-1945“, heraus­ge­geben von Alek­sander Filippov; Quelle: urokiistorii.ru

Zur glei­chen Zeit werden unter der Leitung von Alek­sandr Danilov und Alek­sandr Filippov Hand­rei­chungen für russi­sche Geschichtslehrer:innen ausge­ar­beitet, die die „zivi­li­sa­to­ri­sche Rolle Russ­land“ in den ehema­ligen Grenz­re­gionen des Impe­riums, so auch im Baltikum, beson­ders heraus­stri­chen. 2009 wird die berüch­tigte „Medvedev-Kommission“ ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzt, gegen die „Falsi­fi­zie­rung der Geschichte Russ­lands“ seitens des Auslandes vorzu­gehen. 2012 löste Putin sie auf, schuf jedoch später eine ähnlich beschaf­fene inter­mi­nis­te­ri­elle Kommis­sion zur histo­ri­schen Bildung.

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Die Beherr­schung der Geschichte

In diesen Prozessen nahm die Ukraine einen beson­deren Platz ein. Die Aktionen und die Rhetorik der russi­schen Regie­rung zeugen davon, dass die ukrai­ni­schen Aspekte der Geschichts­po­litik, im Gegen­satz zu balti­schen oder polni­schen, von Moskau als innen­po­li­ti­sche Ange­le­gen­heit aufge­fasst wurden – aller­dings nicht der Ukraine selbst, sondern Russ­lands. Die „gemein­same Vergan­gen­heit“ hatte die gemein­same Gegen­wart zu bestimmen.

Die bereits erwähnte russisch-ukrainische Histo­ri­ker­kom­mis­sion, 2003 auf Initia­tive Russ­lands gegründet, hatte zuerst vor, die scharfen Kanten dieser „gemein­samen Vergan­gen­heit“ abzu­schleifen. Ihr wich­tigstes Ergebnis war eine von ukrai­ni­schen Histo­ri­kern in russi­scher Sprache verfasste Geschichte der Ukraine, die zur Publi­ka­tion in Russ­land bestimmt war. Der gewich­tige Band schrieb die Geschichte der Ukraine dezi­diert als dieje­nige eines souve­ränen, voll­wer­tigen histo­ri­schen Subjekts. Die erste Auflage belief sich auf 300 Exem­plare. Ob es eine zweite gab, ist unbe­kannt. In Russ­land hat dieses Werk kaum Spuren in Form von Zitaten, Verweisen oder Diskus­sionen hinter­lassen. Immerhin war auch das Schicksal einer entspre­chenden „Geschichte Russ­lands“, geschrieben von russi­schen Histo­ri­kern im Rahmen desselben Projektes, in der Ukraine ähnlich trist.

Schon vor der „Oran­genen Revo­lu­tion“ war der Kreml vor allem bemüht, „sepa­ra­tis­ti­schen“ Tendenzen in der ukrai­ni­schen Geschichts­po­litik in Bezug auf die „gemein­same Vergan­gen­heit“ entge­gen­zu­wirken. Doch nachdem es nicht gelungen war, Viktor Janu­kovyč auf den Thron zu setzen, wurde ab 2004 ein neuer, antago­nis­ti­scher Diskurs immer sichtbarer.

Bereits während des ukrai­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahl­kampfes 2004 lancierten russi­sche Polit­tech­no­logen das Narrativ vom „ukrai­ni­schen Nazismus“ – wobei sie sich zunutze machten, dass sich im Umfeld von Viktor Juščenko Vertreter rechts­ra­di­kaler Parteien und Orga­ni­sa­tionen wie etwa „Svoboda“ befanden. Photo­mon­tagen von Juščenko in Nazi-Uniform auf Plakat­wänden in Doneck, die Rede von den „Naschisten“ (noch nicht bezogen auf die russi­sche Pro-Kreml-Jugendbewegung „Naši“, sondern auf Mitglieder der Juščenko-Partei „Naša Ukra­jina“) und der „oran­genen Pest“ (in Anleh­nung an die „braune Pest“) – all das waren die ersten Mani­fes­ta­tionen des neuen, vom Kreml inspi­rierten Ukraine-Diskurses. Dabei spielten die ukrai­ni­schen Natio­na­listen dem Kreml objektiv in die Hände. Sie hatten ein idea­li­siertes Bild der ukrai­ni­schen natio­na­lis­ti­schen Orga­ni­sa­tionen und Anführer der Zwischen­kriegs­zeit gepflegt, und ihre Zusam­men­ar­beit mit den Natio­nal­so­zia­listen im Zweiten Welt­krieg sowie weitere Aktionen der von ihnen verehrten histo­ri­schen Prot­ago­nisten, etwa ihre Betei­li­gung am Holo­caust und das Massaker an der polni­schen Zivil­be­völ­ke­rung in Volhy­nien im Jahre 1943, relativiert.

In den Jahren von 2007 bis 2009 entbrannte ein regel­rechter Krieg um die histo­ri­sche Erin­ne­rung. Russ­lands herr­schende Klasse, ihre Propaganda-Bediensteten und ihre Clac­qeure aus dem Kultur­be­trieb kämpften aktiv gegen die inter­na­tio­nale Aner­ken­nung des ukrai­ni­schen Holo­domor als Genozid, unter­nahmen diplo­ma­ti­sche Offen­siven gegen die „Glori­fi­zie­rung der OUN und der UPA“ (d.h. die rechts­ra­di­kale „Orga­ni­sa­tion Ukrai­ni­scher Natio­na­listen“ und ihr mili­tä­ri­scher Flügel), die unter Juščenko tatsäch­lich zum Teil der ukrai­ni­schen Geschichts­po­litik geworden war, und etablierten zuneh­mend ein mediales Bild der Ukraine als eines Terri­to­riums, das von einem wild­ge­wor­denen Natio­na­lismus befallen sei.

Putin und Obama am NATO-Gipfel in Buka­rest 2008; Quelle: loleblog.com

2008 trat Putin mit einer Erklä­rung auf, die man als program­ma­tisch bezeichnen kann. Wir wissen nicht, welche Klas­siker der russi­schen impe­rialen Geschichts­schrei­bung ihn dazu bewogen haben, jeden­falls war seine Rhetorik auf dem NATO-Gipfel in Buka­rest erst­mals deut­lich von einer Revi­sion der „gemein­samen Vergan­gen­heit“ im Sinne einer „Samm­lung russi­scher Erde“ geprägt. Zuerst machte der erwie­sene Lieb­haber histo­ri­schen Lese­stoffes darauf aufmerksam, dass Russen ein Drittel der heutigen ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung ausma­chen würden, auf der Krym gar noch mehr. Dann tat er kund, die Ukraine sei ein künst­lich zusam­men­ge­setzter Staat, der erst zu Sowjet­zeiten geschaffen worden sei. Dann erfuhren seine Zuhörer:innen, dass dieser Staat einige Terri­to­rien von Nach­bar­län­dern erhalten habe, darunter „riesige Terri­to­rien“ von Russ­land. Abschlie­ßend ließ er verlauten, das Hinein­tragen der „NATO-Problematik“ in die Diskus­sion um die Perspek­tiven der Ukraine könne dieses Land „an den Rand der Exis­tenz als Staat“ bringen.

Es liegt auf der Hand, dass diese Thesen die Grund­lage von Putins Vorstel­lungen über die Ukraine bilden. Die Ukraine figu­riert darin als „unechter“ Staat, zusam­men­ge­stop­pelt aus den Flicken fremder Terri­to­rien. In dieser Eigen­schaft läuft sie Gefahr, zur Beute der bösen NATO zu werden, anstatt in Harmonie mit Russ­land zusammenzuleben.

Während der Präsi­dent­schaft des 2010 nun doch an die Macht gekom­menen Janu­kovyč schwächte sich der Antago­nismus um die „gemein­same Geschichte“ ein wenig ab. Doch im September 2013 entschied sich Putin wieder einmal, der Öffent­lich­keit seine Sicht auf die Geschichte der Ukraine mitzu­teilen. Und wieder war, wie fünf Jahre zuvor, eine Bewe­gung der Ukraine in Rich­tung Westen, nämlich ein Asso­zia­ti­ons­ab­kommen mit der EU, der unaus­ge­spro­chene Grund dafür. In einem Inter­view für Asso­ciated Press teilte Putin unter anderem mit, dass Russ:innen und Ukrainer:innen ein Volk seien, getauft im selben histo­ri­schen Tauf­be­cken. Er bekun­dete zwar, von der ukrai­ni­schen Kultur, ihrer Musik und ihren Tänzen begeis­tert zu sein, und Respekt für den Wunsch der Ukrainer:innen nach Eigen­stän­dig­keit zu hegen – doch zugleich sprach er wieder von den Terri­to­rien, die Russ­land der Ukraine geschenkt habe, und behaup­tete, erst in einem mit Russ­land verei­nigten Staat, mit der Verei­ni­gung „beider Teile der Rus“, habe die Ukraine ein großer euro­päi­scher Staat werden können.

Von der Erobe­rung der Geschichte zur Erobe­rung von Territorium

Majdan-Aufstand, Kyiv, Februar 2014; Quelle: spiegel.de

Trotz dieser Bekun­dung, er habe Respekt vor dem Wunsch der Ukrainer nach euro­päi­scher Inte­gra­tion, entfes­selte Putin sogleich einen Zoll­krieg mit der Ukraine und erreichte dadurch, dass die ukrai­ni­sche Regie­rung von der Unter­zeich­nung des Asso­zi­ier­rungs­ab­kom­mens Abstand nahm. Dies führte zu massiven Bürger­pro­testen, die sich im Winter 2014 mit dem soge­nannten Euro­maidan zu einem groß­flä­chigen Aufstand gegen Janu­kovyč entwi­ckelten. Das revo­lu­tio­näre Chaos ausnut­zend, annek­tierte Putin die Krym und provo­zierte einen bewaff­neten Konflikt im Donbas, der zu einem hybriden Krieg Russ­lands gegen die Ukraine anwuchs.

Geschichte und histo­ri­sches Gedächtnis wurden zu einem Bestand­teil dieses Krieges. In Russ­land wuchs der Kult des „großen Sieges“ im Zweiten Welt­krieg zu einem Kult des Mili­ta­rismus und einem (so von Kriti­kern bezeich­neten) „Sieges­wahn“ (pobe­do­besie) an, dessen radi­kalste Ausprä­gung der Slogan „Možem povtorit‘“ („Wir können es wieder­holen!“) war, verbunden mit der Recht­fer­ti­gung des hybriden Krieges gegen die Ukraine. Im Donbas wurde dieser Kult erfolg­reich in die Idee trans­for­miert, man würde dort die Sache des 9. Mai fort­führen: Das, was „wir“ dort 1945 nicht voll­endet haben, bringen wir jetzt zu Ende – den Kampf gegen Faschisten und „Bandera-Leute“. Wie wir jetzt sehen, blieb dies auch die Ideo­logie des voll­um­fäng­li­chen Krieges gegen die Ukraine.

Gleich­zeitig entwi­ckelte man das Thema der „histo­ri­schen Terri­to­rien“ weiter. Im März 2014 behaup­tete Putin, um die Anne­xion zu legi­ti­mieren, die Krym, genauso wie Terri­to­rien „Südruss­lands“, sei seiner­zeit illegal an die Ukraine über­geben worden wie ein „Sack Kartof­feln“. Dabei vergaß er offenbar, dass dies auf einem Terri­to­rium geschah, wo besagtes „gemein­sames Volk“ lebte. Wenn Ukrainer und Russen ein gemein­sames Volk sind – was tut dann der „Sack Kartof­feln“ zur Sache?

Zur selben Zeit tauchte auch das „Novorossija“-Projekt auf. Im April 2014 teilte Putin bei einer Live-Schaltung im russi­schen Fern­sehen eine weitere seiner histo­ri­scher Entde­ckungen mit dem Publikum, indem er Doneck, Luhansk, Char’kiv, Myko­lajiv, Cherson und Odesa „Neuru­ss­land“ („Novor­os­sija“) zuord­nete; zugleich äußerte er sein Unver­ständnis darüber, dass die Bolsche­wiki diese Terri­to­rien seiner­zeit der Ukraine zuge­schlagen hätten. Im Oktober des Jahres wieder­holte er diese lieb­ge­won­nene Lektion in histo­ri­scher Geogra­phie auf der Tagung des Valdaj-Klubs, wenn­gleich ergänzt mit ritua­li­sierten Bekun­dungen des Respekts vor der ukrai­ni­schen Souveränität.

Als Folge dieser Übungen entstand „Novor­os­sija“ als poli­ti­sches Projekt – vorerst bestehend aus den sepa­ra­tis­ti­schen Donecker und Luhansker „Volks­re­pu­bliken“. Es wurde sogar ein soge­nanntes „Neuru­s­si­sches Parla­ment“ zusamm­ge­rufen, doch das Projekt wurde vertagt – in Syrien standen drin­gen­dere Aufgaben an.

Schließ­lich war für den eifrigen Leser histo­ri­scher Werke der Zeit­punkt gekommen, selbst zur Feder zu greifen. Im Sommer 2021 offe­rierte Putin der Öffent­lich­keit einen längeren Essay mit dem Titel „Über die histo­ri­sche Einheit der Russen und Ukrainer“, der zu einem eigen­wil­ligen Kompen­dium all seiner vorher­ge­henden Aussagen und Über­le­gungen wurde: vom gemein­samen Volk war die Rede, von der gemein­samen Geschichte, von den beson­deren Rechten der Russen in der Ukraine, von den ukrai­ni­schen „Nationalisten-Nazisten“, von den von Russ­land verschenkten Territorien.

Der Essay, auf Russisch und Ukrai­nisch veröf­fent­licht, löste eine kurz­zei­tige Hektik in den Medien aus. Im Strudel begeis­terter bis höhni­scher Kommen­tare huschte eine Meldung vorbei, wonach das russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rium empfohlen hätte, den Essay des Ober­be­fehl­ha­bers zur Pflicht­lek­türe an den Mili­tär­schulen zu machen. Viele hielten dies damals für ein kurioses Beispiel soldatisch-bürokratischen Gehor­sams. Aus heutiger Perspek­tive sieht dies schon weniger kurios aus.

Die Geschichte auslö­schen – ein Land auslöschen

Museum in Mariupol, 28.4.2022; Quelle. cbc.ca

Der Ober­be­fehl­haber wieder­holte die Grund­thesen seines Essays in einer lang­ge­ra­tenen Rede am 21. Februar 2022. Sie ging der blutigen Tragödie unmit­telbar voraus, die nun im Eiltempo zur Horror-Farce verkommt: Der frisch­ge­ba­ckene Popu­lär­his­to­riker versucht sich als Regis­seur eines histo­ri­schen Reenact­ment. Er vergleicht sich mit Peter dem Großen und nimmt für sich in Anspruch, Terri­to­rien zu sammeln, während seine ideo­lo­gi­schen Bediens­teten propa­gan­dis­ti­sche Klischees für das einzig rich­tige Bild der „Sonder-Militäroperation“ fabrizieren.

Geschichts­manie, die in ein Kriegs­spiel in imagi­nierten und realen histo­ri­schen Land­schaften mündet – dies ist nicht bloß der Zeit­ver­treib eines offenbar von seinem Job gelang­weilten russi­schen Präsi­denten. Das indi­vi­du­elle Trajek­to­rium des Histo­ri­kers Putin vom Leser zum Schreiber und schließ­lich zum Rekon­struk­teur deckt sich in Wirk­lich­keit mit dem, was ein großer Teil seiner Unter­tanen denken. Gemäß sozio­lo­gi­schen Umfragen sind es nicht die wissen­schaft­li­chen oder kultu­rellen Errun­gen­schaften, auf die die Mehr­heit der Russ:innen am meisten stolz sind, und noch nicht einmal auf die Armee (was man ihnen nicht verübeln kann – für eine Armee, die in Butscha gewesen ist, kann man sich nur schämen). Am stol­zesten sind sie auf die Geschichte, die Vergan­gen­heit. Von 1994 bis 2020 war es die Vergan­gen­heit, die stets an erster Stelle in der asso­zia­tiven Begriffs­reihe der Russ:innen stand, die nach ihrem Bild vom russi­schen Volk befragt wurden. Und im histo­ri­schen Bewusst­sein nahm wiederum der Sieg im Großen Vater­län­di­schen Krieg stets den ersten Platz ein.

Ein weiterer Aspekt des histo­ri­schen Bewusst­seins, das Putin mit seinen Anhänger:innen teilt, ist die Abwe­sen­heit der Ukraine und Ukrainer:innen als histo­ri­sche Subjekte. Die Analyse von Geschichts­schul­bü­chern, die in den letzten zwanzig Jahren in Russ­land heraus­ge­geben wurden, zeigt eine ganze Reihe von ukraine­be­zo­genen Themen auf, aus denen die Ukraine und die Ukrainer:innen förm­lich heraus­ge­schrieben worden sind.

Die Ereig­nisse, die in der Ukraine als Grund­lage des eigenen natio­nalen Selbst­be­wusst­seins gelten, sind wiederum für Putins Unter­tanen, die zur Schule gegangen sind und das Einheits­ab­schluss­examen in Geschichte abge­legt haben, ein fester Teil der Geschichte des russi­schen Staates. Sei es der Treueeid der Kosaken bei Perjaslav auf den russi­schen Zaren 1654, sei es die Sowjet­union – all das steht für die Schaf­fung des „einheit­li­chen Volkes“. Die Auflö­sung der Sowjet­union 1991 hingegen – das ist „Spal­tung“ und die „größte Kata­strophe des 20. Jahr­hun­derts“. Entspre­chend figu­rieren die Ukrainer:innen in diesem Geschichts­bild als dümm­liche und vertrau­ens­se­lige „kleine Brüder“, als tolpat­schige „Haar­schöpfe“ (so die abschät­zige russi­sche Bezeich­nung, „chochly“), die immer wieder vom gewieften „Westen“ bezirzt und auf das arme, unschul­dige Russ­land gehetzt werden – sei es von den Polen, von den Öster­rei­chern, von den Deut­schen, von den Ameri­ka­nern oder von der EU. Das ist das Bild, das sich im Kopf des durch­schnitt­li­chen russi­schen Patrioten verfes­tigt hat. So gesehen, ist die „Spezi­elle Mili­tär­ope­ra­tion“ die Wieder­her­stel­lung von Ordnung nicht einmal beim Nach­barn, sondern im eigenen Vorgarten. Da kann man auch schon mal durch­jäten und Schäd­linge vernichten.

Das Verhältnis Putins, seiner Umge­bung, aber auch eines bedeu­tenden Teils der russi­schen Bevöl­ke­rung zur Vergan­gen­heit prägt entschei­dend ihr Handeln in der Gegen­wart. In der von ihnen imagi­nierten Vergan­gen­heit gibt es keine Ukraine und keine Ukrainer:innen als selb­stän­dige, selbst­ge­nüg­same kultu­relle und poli­ti­sche Entität. Und deswegen darf es sie auch nicht in der Gegen­wart geben. Das sind nicht bloß ideo­lo­gi­sche Speku­la­tionen und propa­gan­dis­ti­sche Windungen, sondern essen­zi­eller Teil einer Welt­an­schauung, die sich von ratio­naler Argu­men­ta­tion und von mora­li­schen Normen frei­macht. Ihre Wurzeln liegen noch im 19. Jahr­hun­dert, in der berühmten Formel „es gab sie nicht, es gibt sie nicht und es kann sie nicht geben“ (so das Verdikt des Zaren­re­gimes 1863 über die ukrai­ni­sche Sprache) – oder noch früher, als man ganze Staaten liqui­dieren und aufteilen konnte, wie etwa Polen im 18. Jahrhundert.

So sind die Wahl­mög­lich­keiten der Ukrainer:innen höchst einge­schränkt: entweder Teil des des großen russi­schen Volks­kör­pers zu sein – oder gar nicht zu sein. Dank Putin und seinen Wähler:innen ist diese Wahl zu einer Exis­tenz­frage geworden. Das ist sie aller­dings auch für Russ­land selbst: Die Beses­sen­heit von der „großen Vergan­gen­heit“ ist, wie die Geschichte zeigt, der direkte Weg in die Kata­strophe. Die Unkenntnis der Geschichte ist in dem Fall einem Verbre­chen gleich. Die Unkenntnis der ukrai­ni­schen Geschichte – und über­haupt die Unkenntnis der Ukraine als solcher – führte zur irren, verbre­che­ri­schen Entschei­dung, einen Krieg nicht gegen irgend­je­mandem, sondern gegen einen Teil des imagi­nierten „gemein­samen Volkes“ vom Zaun zu brechen.

Der Klas­siker der modernen russi­schen Geschichts­schrei­bung, Vasilij Ključevskij (1841-1911), schrieb, dass die Geschichte dieje­nigen bestraft, die ihre Lektionen nicht lernen. Bis zu jener Stelle hat Putin anschei­nend nicht gelesen. Und er wird die Lektüre auch kaum nach­holen – schließ­lich schreibt er nun selbst.

Dieser Text wurde zuerst im russi­schen Online-Nachrichtenportal Meduza veröf­fent­licht. Über­set­zung aus dem Russi­schen von Gleb J. Albert