Bei Gerichtsprozessen und anderen Zensurmassnahmen gegen Kunst und Literatur richtet man in der Regel die Aufmerksamkeit auf die inkriminierten Werke und deren Verfasser. Es lohnt sich aber, auch mal auf die Kläger zu schauen.

Als Claus Kleber im Heute Journal dem deut­schen Anwalt des türki­schen Präsi­denten Erdoğan die Frage stellte, welches Inter­esse denn sein Mandant mit der Klage gegen Jan Böhmer­mann verfolge, traf er ins Schwarze. Seit Tagen wird Jan Böhmer­manns „Schmäh­ge­dicht“ – in der Regel ohne den dazu gehö­renden Kontext – inter­pre­tiert, parodiert, gefeiert oder seiner­seits verschmäht… Bei so viel Aufmerk­sam­keit für den „Täter“ kann man sein „Opfer“ schon mal vergessen. Würde das aber wirk­lich passieren, dann hätte Böhmer­mann mit seiner karne­val­esken künst­le­ri­schen Inter­ven­tion seine Mission leider verfehlt. Böhmer­mann schrieb ja nicht einfach ein Gedicht auf den türki­schen Präsi­denten, sondern sein Gedicht war die provo­ka­tive Antwort auf die Frage, zu welchem Zweck Kritik, Satire und andere Lach­gat­tungen ganz bewusst als Verlet­zung der Persön­lich­keit inter­pre­tiert werden können.

Wenden wir uns also zunächst dem Kläger Recep Tayyip Erdoğan, Präsi­dent der Türkei, zu: In der Free­muse Annual Statistik 2015, dem Jahres­be­richt über Zensur­maß­nahmen gegen Künstler, stand die Türkei neben China, Russ­land, Iran, Burundi, Syrien ganz oben auf der Liste derje­nigen Länder, die die Kunst­frei­heit im letzten Jahr deut­lich einge­schränkt haben (dazu muss man aller­dings ergän­zend sagen, dass Zensur z.B. in Nord­korea gar nicht gemessen werden kann). Die Türkei sticht unter allen Ländern deshalb heraus, weil Präsi­dent Erdoğan selbst es ist, der im letzten Jahr sage und schreibe 200 Klagen wegen Belei­di­gung seiner Person einge­reicht hat:

Presi­dent Erdoğan seems to have parti­cu­larly thin skin when it comes to criti­cism. Since beco­ming presi­dent in August 2014, he has initiated well over 200 cases in which he claims he has been insulted. In the past year actors, singers, cartoo­nists and jour­na­lists have been inves­ti­gated, tried and fined for mocking the president.

Diese Situa­tion ist ziem­lich einmalig. Kein Präsi­dent eines anderen Landes richtet seine Aufmerk­sam­keit so deut­lich auf die Frage, wie er in der eigenen und inzwi­schen auch auslän­di­schen Öffent­lich­keit bei Jour­na­listen, Blog­gern, Facebook-Schreibern und Künst­lern erwähnt und darge­stellt wird. Selbst Vladimir Putin, der einiges in die Rein­heit seiner Ikono­gra­phie inves­tiert, hat nur wenige Darstel­lungen konfis­zieren lassen, u.a. ein Gemälde, das ihn und Medvedev in Frau­en­klei­dern zeigt; eine Anklage hat er nie erhoben.

Karikatur von Bahadir Baruter und Ozer Aydoganin im Journal Penguen, Quelle: https://www.ifex.org/turkey/2015/03/25/cartoonists_charged/

Kari­katur von Bahadir Baruter und Ozer Aydo­ganin im Journal Penguen, Quelle: ifex.org/turkey/2015/03/25/cartoonists_charged/

Unter den 200 türki­schen Fällen im letzten Jahr waren auch solche, die Künstler oder Sati­riker betrafen. Die Kari­ka­tu­risten Bahadir Baruter und Ozer Aydogan wurden z.B. im Herbst 2015 von einem türki­schen Gericht wegen Ehrver­let­zung verur­teilt, zunächst zu einer vier­zehn­mo­na­tigen Haft­strafe, dann zu einer Ordnungs­strafe. Schuld war nicht etwa die Sprech­blase zur Kari­katur auf Erdo­gans Amts­ein­füh­rung : „What a bland cele­bra­tion. We could have at least sacri­ficed a jour­na­list.“ Aus Sicht des Staats­an­walt gab es einen anderen Grund für die Verur­tei­lung, und zwar die Art, wie der Beamte, der Erdogan im Präsi­den­ten­pa­last begrüßte, mit Daumen und Zeige­finger einen Kreis formte. Der Staats­an­walt meinte, mit dieser Geste hätten die Zeichner Erdogan als Schwulen belei­digt. Baruter sagte dazu ironisch, dass diese Inter­pre­ta­tion wohl eher ihre Ursache im Unbe­wussten des Staats­an­waltes gehabt hätte.  Dieser Verweis auf die angeb­lich obszöne Belei­di­gung lenkte die Aufmerk­sam­keit von der viel provo­kan­teren Bemer­kung zur Verfol­gung der Jour­na­listen ab und wertete diese Kritik bzw. die Kritiker zugleich noch ab. Denn sie kam – in der Logik des Staats­an­walts – von Kari­ka­tu­risten, die offenbar unter die Gürtel­linie zielten.

Orga­ni­sierte Verletzung

Die Verschie­bung von Kritik hin zu Verlet­zung und anderen Straf­tat­be­ständen ist indes nicht nur in der Türkei zu beob­achten, sie ist ein typi­sches Vorgehen von Klägern, die mit ihrer Klage ein poli­ti­sches Inter­esse verfolgen. Im Freemuse-Report steht, dass – bezogen auf die Türkei, „any opinion oppo­sing the views and posi­tions of the poli­ti­cally powerful and not prai­sing them are perceived as an ‚insult‘ or ‚defa­ma­tion‘“.

18. April 2011, Zerstörung von Andres Serranos "Immersion Piss Christ", Lambert foundation in Avignon, Foto: Boris Horvat, Quelle: http://www.spiegel.de/fotostrecke/kunstschaendung-das-werk-der-zerstoerung-fotostrecke-66981-2.html

18. April 2011, Zerstö­rung von Andres Serranos „Immersion Piss Christ“, Lambert foun­da­tion in Avignon, Foto: Boris Horvat, Quelle: spiegel.de/fotostrecke/kunstschaendung-das-werk-der-zerstoerung-fotostrecke-66981-2.html

Viel auffal­lender jedoch als die außer­halb der Türkei kaum anzu­tref­fende Präsi­den­ten­be­lei­di­gung ist das erneute Anwachsen von Fällen, die eine Verlet­zung von reli­giösen und natio­nalen Gefühlen im Auge haben – und zwar durch alle Reli­gionen hindurch.  Im Bericht von Free­muse für 2015 heißt es, dass z.B. im Iran jegliche Kritik an „reli­gious autho­ri­ties and their inter­pre­ta­tion of Islam“ sofort als „insul­ting the sacred“ inter­pre­tiert werde. In Indien atta­ckierten „right-wing Hindu groups“ Künstler, weil diese ihre Gefühle verletzten. In der katho­li­schen Welt hat vor allem das öffent­liche Zeigen von Andres Serrano’s Immersion (Piss Christ) seit 1987 stets zu Versu­chen geführt, das Bild wegen „Verlet­zung reli­giöser Gefühle“ zu verbieten. Dahinter stecken immer wieder katho­li­sche Extre­misten: 2011 waren Serranos Bild und zwei weitere in einer Ausstel­lung in Avignon von katho­li­schen Funda­men­ta­listen mit einem Hammer demo­liert worden, in Austra­lien und Schweden wurden andere Abzüge davon (es gibt insge­samt zehn) zerstört.

Alisa Zraževskaja, "Du sollst dir kein Bildnis machen", Zerstörung der Ausstellung "Achtung, Religion!" durch orthodoxe Hooligans 2003 im Andrej Sacharov-Zentrum In Moskau, Quelle: http://old.sakharov-center.ru/museum/exhibitionhall/religion_notabene/hall_exhibitions_religion01.htm

Alisa Zraževs­kaja, „Du sollst dir kein Bildnis machen“, Zerstö­rung der Ausstel­lung „Achtung, Reli­gion!“ durch ortho­doxe Hooli­gans 2003 im Andrej Sacharov-Zentrum In Moskau, Quelle: old.sakharov-center.ru/museum/exhibitionhall/religion_notabene/hall_exhibitions_religion01.htm

Regel­recht orga­ni­siert wird die „Verlet­zung von reli­giösen Gefühlen“ als Folge des angeb­li­chen „Schü­rens von natio­nalem und reli­giösem Hass“ seit ca. 1998 in Russ­land. Bislang wurden drei aufwän­dige Gerichts­pro­zesse geführt, die jedes Mal zu einer Verschär­fung des Gesetzes im Umgang mit reli­giösen Symbolen geführt haben. Kläger sind ultra­na­tio­na­lis­ti­sche und zugleich ortho­doxe Orga­ni­sa­tionen, insbe­son­dere die Gruppe Narodnyj sobor, die im Jahre 2005 von Vladimir Chom­jakov, einem Jour­na­listen, und Oleg Kassin, dem ehema­ligen Vorsit­zenden einer para­mi­li­tä­ri­schen erzkon­ser­va­tiven Jugend­gruppe, gegründet wurde. Dabei werden verletzte Zeugen durch Radio­auf­rufe (Kassin) regel­recht gecastet. Diese Zeugen müssen die Ausstel­lungen nicht einmal gesehen haben, es reicht, wenn sie jemanden kennen, der sich verletzt fühlt. In Russ­land wurde vorge­führt: Wenn es einen Verletzten gibt, der die Verlet­zung reli­giöser Gefühle vor Gericht bezeugen kann, dann muss man nicht mehr über die Anwend­bar­keit des Gesetzes und die Kunst­frei­heit disku­tieren. Wenn es einen Verletzten gibt, dann kann man die schäd­liche Wirkung von Kunst unmit­telbar beweisen und so eine stren­gere Zensur legitimieren.

In Deutsch­land wurde 1961 übri­gens ein Urteil gefällt, das zumin­dest bei der Verlet­zung von reli­giösen Gefühlen eine wich­tige Einschrän­kung macht. Ange­klagt wurde nach § 166 des Straf­ge­setz­bu­ches der BRD (Gottes­läs­te­rung) Rein­hard Döhl mit seinem Gedicht „Missa profana“. Das Urteil des Bundes­ge­richts­hofes im Beru­fungs­ver­fahren machte deut­lich, dass ein Verlet­zungs­ge­fühl auf Seiten der Gläu­bigen für eine Bestra­fung nicht ausreiche, sondern dass der Richter zu urteilen habe und dabei den Eindruck einer künst­le­risch aufge­schlos­senen oder zumin­dest um Verständnis bemühten Person zu berück­sich­tigen habe.

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Kritik, Satire oder Beleidigung?

Sprach­liche oder bild­liche Verlet­zungs­fälle sind komplex. Eine Aussage kann selbst, wie Merkel das in ihrer höchst proble­ma­ti­schen Einschät­zung sagte, „bewusst verlet­zend“ gemeint sein, wenn der Adressat die Verlet­zung nicht annimmt. Umge­kehrt gilt es, den Schutz der Persön­lich­keit als Grund­recht bzw. das Recht auf Schutz der eigenen Ehre zu achten. Das heißt aber auch, dieses Recht nicht für poli­ti­sche Zwecke zu miss­brau­chen, also selbst zum Täter zu werden. Ein profes­sio­neller Kläger wie Erdoğan, der Kritik an seiner Person in der Regel als Ehrver­let­zung auslegt, tut genau dies: Er miss­braucht seine Macht, um davon abzu­lenken, dass er es ist, der Persön­lich­keits­rechte und andere Grund­rechte wie die Meinungs­äu­ße­rungs­frei­heit, Kunst­frei­heit, Pres­se­frei­heit und Infor­ma­ti­ons­frei­heit durch seine Klagen in der Türkei massiv einschränkt.

Um nicht mehr und nicht weniger ging es in Jan Böhmer­manns Sendung vom 31. März 2016. Wenn ein solch profes­sio­neller Kläger wie Erdoğan nun auch noch Zensur jenseits der Türkei ausüben will, wie es mit der Auffor­de­rung, den Beitrag mit dem Song „Erdowie, Erdowo, Erdoğan“ aus dem Netz zu nehmen und zu löschen, geschehen ist, handelt es sich um einen massiven Über­griff bzw. Eingriff in die Kunst­frei­heit in Deutsch­land. Erdoğan hatte das Lied als Belei­di­gung seiner Person aufge­fasst. Es handelt sich aber nicht einfach um eine spott­hafte Über­trei­bung oder Über­spit­zung der Wirk­lich­keit zu seinen Ungunsten, sondern um eine komisch-kritische Insze­nie­rung der Wahr­heit: „Ein Jour­na­list, der was verfasst, / Das Erdogan nicht passt, / Ist morgen schon im Knast. / Redak­tion wird dicht gemacht, /Er denkt nicht lange nach und fährt mit Tränengas und Wasser­wer­fern durch die Nacht.“ Mit seiner Reak­tion hat er den Inhalt des Songs in Windes­eile bestätigt…

Karikatur in einem baden-württembergischen Schulbuch von Greser & Lenz, die einen Hund namens Erdogan zeigt. Ministerpräsident Kretzschmann wies 2014 die Kritik der türkischen Regierung, die Karikatur beleidige den türkischen Präsidenten harsch zurück. Quelle: www.welt.de

Kari­katur in einem baden-württembergischen Schul­buch von Greser & Lenz, die einen Hund namens Erdogan zeigt. Minis­ter­prä­si­dent Kretz­schmann wies 2014 die Kritik der türki­schen Regie­rung, die Kari­katur belei­dige den türki­schen Präsi­denten, harsch zurück.
Quelle: www.welt.de

Jan Böhmer­mann machte sich aber nicht nur über die Reak­tion von Erdogan lustig, sondern wunderte sich auch darüber, wie einmütig man in Deutsch­land und der EU – von Beatrice von Storch bis zu Angela Merkel und Jean-Claude Juncker –  den Erdogan-Song vertei­digte und als Satire gelten liess. Denn jeder verfolgte mit seiner Einstel­lung zum Lied auch noch eine eigene poli­ti­sche Agenda: Noch kurz zuvor hatte von Storch, die für gewöhn­lich von „Staats­fern­sehen“ und „Lügen­presse“ spricht, einen Beitrag von Böhmer­mann, in dem sie selbst vorkommt, als ein „mit staat­li­chen Zwangs­ge­bühren finan­ziertes Propa­gan­tain­ment“ und als „Unter­hal­tungs­hetze“ bezeichnet. Nun hieß es in ihrem Facebook-Eintrag: „Lassen wir uns von Erdoğan alles bieten?“ Aus einer Belei­digten wurde plötz­lich eine Profiteurin.

Und auch bei Merkel war die zunächst wohl­wol­lende Rezep­tion nicht jenseits poli­ti­scher Inter­essen zu sehen. Den Song als Satire zu betrachten, als legi­time Über­spit­zung, ist einfa­cher, als ihn als Insze­nie­rung von Wahr­heit zu lesen. Im Lied von „extra 3“ selbst hiess es schon anti­zi­pie­rend dazu: „Sei schön char­mant (wobei Merkel einge­blendet wurde), denn er hat dich in der Hand.“

Böhmer­mann machte also eine rich­tige Rezep­ti­ons­zwick­mühle auf, die zu einem Rezep­ti­ons­theater sonder­glei­chen führte. In diesem Rezep­ti­ons­theater wird offen­sicht­lich, dass Rezep­tion kein passiver Akt ist, sondern dass die Reak­tionen auf die „extra-3“ Sendung – Verständnis und Verlet­zung, Empö­rung gegen Böhmer­mann oder gegen Erdoğan – selbst Teil des poli­ti­schen Spiels sind.

„Schmäh­kritik“

Böhmer­mann drehte seine Rezep­ti­ons­zwick­mühle selbst noch einen Schritt weiter. Er produ­zierte ein eigenes Stück, die „Schmäh­kritik“, die, würde man sie als echte Schmäh­kritik verstehen, Verständnis und Befür­wor­tung eigent­lich gänz­lich unmög­lich machen sollten. Aber: Während man das Lied „Erdowie, Erdowo, Erdoğan“ als Satire lesen kann, ist seine „Schmäh­kritik“ keine Satire. Sie hat keinerlei Wirk­lich­keits­bezug. Niemand glaubt nach dem Hören des Gedichtes ernst­haft, dass Erdoğan schwul ist, Kinder schändet oder Sodomie betreibt. Die „Schmäh­kritik“ war viel­mehr eine Parodie, sie parodierte die recht­liche und lite­ra­ri­sche Gattung Schmähkritik.

Recht­lich liegt Schmäh­kritik dann vor, „wenn in ihr nicht mehr die Ausein­an­der­set­zung in der Sache, sondern die Diffa­mie­rung einer Person im Vorder­grund steht.“ Dazu müssen z.B. Lügen in die Welt gesetzt werden, die der Person massiv schaden, Anschimp­fungen gemacht werden, die die Person in ihrer gesell­schaft­li­chen Stel­lung herab­wür­digen. Lite­ra­tur­his­to­risch gehören zu einem Schmäh­ge­dicht zwin­gend ein Verschmähter und eine möglichst komi­sche, dras­ti­sche, obszöne Sprache, auch Fluch­sprache, die den Verschmähten in karne­val­esker Manier verlacht, indem die Situa­tion verkehrt und das ‚Hohe‘, der Präsi­dent, mit möglichst viel Nied­rigem beworfen wird. Solche Verse, die die Lite­ratur seit der Antike kennt, müssen die Grenzen des guten, hohen Geschmacks verletzten, das sakrale Zentrum der Macht radikal profa­nieren, ja es ist gera­dezu ihr Wesen, dies zu tun. Es sind Lach­texte, in denen nicht die persön­liche Verlet­zung des Adres­saten das Ziel ist, sondern das Verla­chen der Posi­tion der poli­ti­schen oder reli­giösen Macht.

Jan Böhmer­mann las, damit niemand seine „Schmäh­kritik“ mit einer Schmäh­kritik verwech­selt, den Text bekannt­lich nicht einfach vor, sondern hat – als Teil seiner Insze­nie­rung – eine Rezep­ti­ons­hilfe gleich mitgegeben:

wenn du Leute diffa­mierst, wenn du einfach nur so untenrum argu­men­tierst, wenn du sie beschimpfst, du sie herab­setzt, das ist Schmäh­kritik, und das ist in Deutsch­land auch nicht erlaubt. Haben Sie das verstanden? Herr Erdoğan? Das kann bestraft werden. […] Das ist viel­leicht ein biss­chen kompli­ziert, viel­leicht erklären wir es an einem prak­ti­schen Beispiel. Ich habe ein Gedicht dabei, das heisst „Schmäh­kritik“. […] Und das, was jetzt kommt, das darf man NICHT machen. Wenn das öffent­lich aufge­führt wird – das wäre in Deutsch­land verboten.

Ob sich das Risiko, das er damit einging, gelohnt hat, kann man jetzt noch nicht beant­worten. Wenn man aber diese künst­le­ri­sche Inter­ven­tion als soziales Theater liest, dann doku­men­tiert sie schon jetzt die Lektü­re­fä­hig­keiten und -inter­essen der Mitspieler. Sie hat die Aufmerk­sam­keit wie kaum ein anderes künst­le­ri­sches Projekt auf die Verant­wor­tung von Rezep­tion gelenkt, auf das Verwech­seln von Kritik mit Verlet­zung und auf Erdoğan als zwei­hun­dert­fa­chem Kläger. Das bisher erfreu­lichste Ergebnis ist aber, dass die Bundes­re­gie­rung einge­sehen hat, dass § 103 StGB „als Straf­norm zum Schutz der persön­li­chen Ehre“ von Staats­ober­häup­tern nicht taugt bzw. als „entbehr­lich“ betrachtet werden kann. Dazu hat sie einen Gesetz­ent­wurf zu seiner Aufhe­bung vorge­legt. Offenbar musste erst durch das „Schmäh­ge­dicht“ von Böhmer­mann deut­lich werden, dass dieser Para­graph die Möglich­keit bietet, Zensur auch über den eigenen Einfluss­be­reich hinaus auszuüben.