
Briefe sind ein geschütztes Gut – und das nicht etwa, weil sie eine Kulturtechnik sind, die vom Aussterben bedroht wäre. Fremde Briefe unerlaubt zu lesen, steht in Deutschland und vielen anderen demokratischen Staaten unter Strafe. Das Briefgeheimnis sichert sie vor den Augen Dritter, öffnen darf sie rechtmäßig nur derjenige, an den sie adressiert sind. Für die verfassungsrechtliche Verankerung des Briefgeheimnisses war das demokratische Prinzip der Volkssouveränität maßgebend. Auch heute noch zeigt sich an den Diskussionen zu Datenschutz und staatlichen Zugriffsrechten, welchen Anteil die Unverletzlichkeit privater Mitteilungen an der Wahrung der Demokratie hat. Was bedeuten vor diesem Hintergrund dann aber Offene Briefe? Warum werden Briefe persönlich adressiert, um sie zugleich in aller Öffentlichkeit offenzulegen?
In der aktuellen öffentlichen Debatte um den Krieg gegen die Ukraine sind in den letzten Wochen in Deutschland gleich mehrere Offene Briefe erschienen. Zunächst ist da der Brief, der von 28 deutschen „Intellektuellen“ und Kulturschaffenden am 29. April unterzeichnet und auf der Webseite der Zeitschrift Emma veröffentlicht worden ist. Darin sprechen sich die Briefschreiber:innen dagegen aus, Kriegswaffen aus Deutschland an die Ukraine zu liefern, und plädieren dafür, die Regierung in Kyjiv zu einer Beendigung der militärischen Verteidigung zu bewegen.
Gerichtet ist die Warnung vor einer Eskalation des Kriegs an den mächtigsten Amtsträger Deutschlands persönlich, den derzeitigen Bundeskanzler Olaf Scholz. Zu den Erstunterzeichner:innen zählen u.a. Alice Schwarzer, Juli Zeh, Martin Walser, Alexander Kluge und Siegfried Zielinski – durchweg Personen des öffentlichen Lebens, die bis auf wenige Ausnahmen nicht parteipolitisch aktiv waren und sich auf dem Gebiet der Wissenschaften oder der Kunst und Kultur einen Namen gemacht haben.
Ein Offener Brief unter vielen
Die Reaktionen auf den Offenen Brief – in FAZ und Hamburger Abendblatt bereits geschichtsträchtig zum „Brief der 28“ verkürzt – kamen prompt und auf allen medialen Kanälen. Am 4. Mai erscheint in der Zeit als Replik auf den ersten ein zweiter Offener Brief an den Bundeskanzler. Seine 57 Unterzeichner:innen sind wiederum Prominente, die überwiegend aus dem Wissenschafts-, Kunst- und Kulturbetrieb stammen, wie Herta Müller, Maxim Biller, Daniel Kehlmann, Sascha Lobo und Armin Nassehi. Weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhielt dagegen noch der Offene Brief, in dem Wolf Biermann am 4. Februar 2014 dem heutigen Kyjiver Bürgermeister Vitali Klitschko seine Solidarität anlässlich der russischen Annexion der Krim ausdrückte und den mehr als zweihundert Prominente unterschrieben. Mit der Unerträglichkeit des Angriffskriegs, der so viele Menschenleben kostet, nimmt auch das öffentliche Interesse in Deutschland zu – und die Emotionalität der Offenen Briefe.
Biermann, der nach seiner Ausbürgerung aus der DDR 1976 selbst Gegenstand des wohl bekanntesten Offenen Briefs der DDR-Geschichte wurde, hatte Anfang Februar, acht Jahre nach der russischen Eskalation zum Angriffskrieg, zusammen mit seiner Frau Pamela Biermann, den Reigen der Offenen Briefe eröffnet. Der von den Biermanns initiierte Appell fand über 350 Unterzeichner:innen und richtete sich neben den höchsten Vertreter:innen der Politik nur noch an die Presse, also nicht unmittelbar an die Öffentlichkeit.
Während an der hohen Dringlichkeit des Gegenstands aktuell kein Zweifel mehr besteht, ruft das Format manches Erstaunen und gewisse Irritation hervor. Der Offene Brief scheint auf eine Art überholt und aus der Zeit gefallen, zurück in eine graue Vorzeit, in der es weder Internet noch Social Media gab und in der die Brisanz einer Nachricht nicht sekundenschnell unter einer Welle weiterer neuer Nachrichten und Reaktionen, in Posts, Tweets und Retweets, verloren ging. Und doch beweisen die Reaktionen, dass die Erinnerung daran, was einen Brief formal ausmacht, noch wach ist – persönliche Anrede, Schlussformel und Unterschrift – und sehr viel mehr Text, als einer E-Mail guttäte.
Intellektuelle als moralische Instanz
Genauso überrascht die konsequente Geschlossenheit, mit der die jeweiligen Unterzeichner:innen das Bild der moralisch integren Intellektuellen heraufbeschwören. Als diejenigen, die sich in ihrer Beschäftigung mit ideellen und schöngeistigen Dingen gegenüber materiellem Gewinn unverdächtig wähnen, weil sie nicht direkten gesellschaftspolitischen Sachzwängen unterworfen sind, legitimieren die Unterzeichner:innen ihre Position der öffentlichen Instanz. Im Gegensatz zu den verschiedenen Expertenmeinungen, etwa von Fachleuten für Osteuropa oder gar aus der Ukraine, die mit dem praktisch orientierten Handeln in einer konkreten Situation der Gegenwart assoziiert werden, speist sich die kritische Haltung der Intellektuellen aus der Annahme, sie gründe in der notwendigen vernünftigen Distanz zum politischen Geschehen und einem Geschichtsbewusstsein. Es ist die Rede von einer „Lösung“, „die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat“ oder im gegnerischen Fall von einer Entscheidung, die „keiner besonderen Militärexpertise“ bedürfe.
Die Idee der moralischen Überlegenheit der politischen Einmischung der Intellektuellen ist schon in der Antike angelegt. Bei Platon argumentiert die Figur des Sokrates ganz ähnlich, wenn sie den Philosophen zum einzig wahren Herrscher erhebt, da dieser seinen Machtanspruch allein aus der Kompetenz beziehe, vernunftgeleitet auf „Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes“ zu achten.
Legt sich die erste Verwunderung über das etwas antiquierte Genre, ist den kürzlich erschienenen Offenen Briefen anzumerken, dass sich ihre Unterzeichner:innen auf eine lange Tradition berufen. Sie stehen ganz am Ende einer neuzeitlichen Reihe, die von Émile Zolas J’accuse in der Dreyfus-Affäre über Thomas Manns öffentlicher Lossagung von Nazi-Deutschland 1936 bis hin zur Protesterklärung der dreizehn DDR-Künstler:innen gegen Biermanns Ausbürgerung angeführt wird.
Nicht immer erfüllen diese Briefe alle formalen Merkmale ihrer Gattung. Wie bei Privatbriefen auch gibt es mitunter leichte Abweichungen von der Konvention, die sich aber kaum durch die Impulsivität eines zwanglosen Schreibens an jemanden Vertrauten erklären lassen. Die Unterschiede zum typischen Privatbrief, wie eine zusätzliche Überschrift in Manns Brief oder die fehlende Anredezeile im Protestschreiben für Biermann, sind vielmehr häufig der Einbindung des Briefs im Massenmedium geschuldet. Unter den heutigen medialen Bedingungen ist es sogar denkbar, dass sie eine neue Form des Offenen Briefes hervorbringen, die – wie z. B. die sieben Forderungen der Umweltaktivist:innen um Greta Thunberg – nur noch entfernt dem traditionellen Genre ähnelt.
Unabhängig davon, ob die Anrede explizit vorhanden ist, fehlt dem Offenen Brief allerdings niemals die charakteristische zweifache Adressierung: einmal der persönliche Appell an die politisch einflussreiche Person, zum anderen die indirekte Ansprache des Lesepublikums, das öffentlich in den Zeugenstand gerufen wird. „Und bis zum Grunde meines Gewissens bin ich dessen sicher, dass ich vor Mit- und Nachwelt recht getan“, endet Thomas Mann seinen Offenen Brief.
Von der Bittschrift zur Petition
Offensichtlicher als im Printmedium rückt der Offene Brief des digitalen Zeitalters in die Nähe der Petition und macht die Grenzziehung zwischen beiden Gattungen noch schwieriger. So trägt der „Brief der 28“ auch online zwar alle Züge seiner prominenten Vorgänger, sein Umzug auf die Website change.org offenbart aber seine formale Neuausrichtung und Wandlungsfähigkeit hin zu einer behördlichen Eingabe, wie sie im deutschen Grundgesetz festgeschrieben ist. Der öffentliche Appell der Erstunterzeichner:innen, ihre politischen Forderungen mit einer Online-Signatur zu unterstützen, ist ein verbreitetes Instrument demokratischer Einflussnahme, dessen Erfolg sich genau messen und in Echtzeit mitverfolgen lässt.
Bereits im Mittelalter waren Bittgesuche an den Landesherren gängige Praxis. Das Gnadengesuch oder die Supplik, die sich nicht umsonst ganz bildhaft von supplex, dem Kniefall, ableitet, wurde in allen gesellschaftlichen Ständen verfasst, meist um eine Entschädigung für ein erlittenes Unrecht, Schutz vor dem Einfluss höher gestellter Personen oder gesellschaftliche Privilegien zu erbitten. Gemeinsam ist allen Suppliken indessen das eindeutige Machtgefälle zwischen Verfasser:in und Adressat:in. Seit der Französischen Revolution und mit der Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse hin zur Demokratie wurde die Supplik schließlich von der Petition abgelöst, die sich laut Grimm’schem Wörterbuch von ihrem Vorläufer vor allem insofern unterscheidet, als Letztere „devot und servil war“.
Das Grundprinzip der wahrhaftigen Rede
Die besondere Eindringlichkeit und Legitimation, mit der ein Offener Brief auch heute noch operiert, geht auf einen etwas anders gelagerten geschichtlichen Kontext zurück. Auch hier wird bei genauerem Hinsehen ein unerträglicher persönlicher Umstand angeführt, der aber zugleich mit einem Entscheidungsmoment von öffentlicher Tragweite verknüpft wird. Die Sorge um das Allgemeinwohl bemächtigt sich der öffentlich auftretenden Person beinahe zwangsläufig körperlich, sie steht auf und schweigt nicht länger: Der Topos „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist der persönlichen Existenzbedrohung geschuldet, die angeblich schon Luther als rhetorischen Kunstgriff zu nutzen wusste, als er für die Veröffentlichung seiner 95 Ablassthesen staatlich verfolgt wurde.
Das Grundprinzip des Offenen Briefs und seine Entstehungsgeschichte gehen allerdings viel weiter zurück. Seine doppelte Ausrichtung – persönlich an bestimmte Entscheidungsträger und zum Mitlesen für die Öffentlichkeit – hat ihren Ursprung in den Anfängen der Demokratie und ist entscheidend für seine eindringliche Wirkung.
Der erste Hinweis auf der Spurensuche in der Demokratiegeschichte findet sich hinter der weiteren, abstrakteren Bedeutung des Adjektivs „offen“. In der Forschung zum Offenen Brief herrscht Einigkeit darüber, dass sich seine öffentliche Brisanz aus der eigentümlichen, eigentlich paradoxen Situation ergibt, offen in der Bedeutung von „unverschlossen“, also ohne Umschlag öffentlich zugänglich, und gleichzeitig offen im Sinn von freimütig geäußerter Kritik zu sein, die eigentlich dem privaten Gespräch auf Augenhöhe vorbehalten ist.
Das Recht dazu, überhaupt öffentlich Kritik zu üben und politisch mitzubestimmen, zeichnete im antiken Griechenland bis etwa zur Mitte des 5. Jahrhunderts v. u. Z. den Bürger als solchen aus, also genaugenommen alle männlichen Personen ab 18 Jahren, die keine Sklaven waren und aus Athen stammten. Was heute das Recht auf Redefreiheit bedeutet, nannte sich in der attischen Demokratie Parrhesie. Je nachdem, wie es gerade um die eben nicht geradlinige Entwicklung der demokratischen Staatsform stand und ob aus Sicht des politisch engagierten Bürgers oder der des kritisierten Herrschers, schwankte die Bedeutung der Parrhesie zwischen der militanten Forderung des Rechts auf Redefreiheit, dem Einlösen einer bürgerlichen Pflicht bis hin zum Vorwurf der frechen Rede.
In den unsicheren Anfängen der Volkssouveränität ist die öffentliche kritische Äußerung des Bürgers daher immer auch mit dem Mut verbunden, aus Sorge um das Allgemeinwohl unbequeme Wahrheiten auszusprechen, wie sie sonst nur im Schutz des Privaten unter Gleichgesinnten zur Sprache kommen. In der Öffentlichkeit könnten sie hingegen Nachteile oder eine echte Bedrohung für das eigene Leben mit sich bringen, wenn der Mächtige und Adressat der „frechen“ Rede einen Gesichtsverlust fürchtet und Strafen verhängt.
Je größer allerdings das Risiko für den freimütigen Sprecher, desto glaubwürdiger, wahrhaftiger und authentischer wirkt seine kritische Stimme. Das zeigt sich bei den großen „Parrhesiasten“ der Geschichte – Michel Foucault nennt in seiner letzten Vorlesungsreihe Der Mut zur Wahrheit 1984 an erster Stelle Sokrates, der für seine Überzeugung den Schierlingsbecher austrinkt – als auch bei den Unterzeichner:innen des Protestschreibens für Biermann, die in der Folge unter dem DDR-Regime Repressalien bis hin zu Verhaftungen erleiden mussten.
Redefreiheit und Rede für die Freiheit
Wenn heute in Deutschland das Gefühl der Irritation aufkommt, sich selbst der Offene-Brief-Forscher Rolf-Bernhard Essig auf Bayern 2 erstaunt zeigt, dass diese eigentlich anachronistische Gattung gerade Konjunktur hat, beweist das einmal mehr, wie mächtig die Geste der freimütigen Rede noch immer ist. Schließlich fand sie bereits in der antiken Rhetoriklehre ihre künstliche Entsprechung in der rhetorischen Figur der licentia. Schon in der Rhetorica ad Herennium, dem ältesten vollständig erhaltenen Rhetorikhandbuch lateinischer Sprache, wird ihre Anwendung und affektvolle Wirkung beim Publikum erklärt, die vor allem durch „ein verstelltes Sich-Annähern“ überzeugt, „weil es die Freimütigkeit nachahmt“.
In Russland spielt es aktuell keine Rolle, wenn ein Offener Brief, der Kritik an der dortigen Regierung und der von ihr zu verantwortenden Zustände übt, rhetorisch kalkuliert ist. Die Gefahr, in der sich seine Unterzeichner:innen begeben würden, ließe keinerlei Verdacht zu, dass es sich bei ihrem Engagement für das Allgemeinwohl um eine bloß künstliche Nachahmung der freimütigen Rede handle. Wo die Petition verboten und der mediale Zugang eingeschränkt ist, wird der Offene Brief zum identifikatorischen Akt der Freiheit. Für die deutschen Verfasser:innen der Offenen Briefe stellt sich die Sache schon anders dar. Der Vorwurf des bloßen Lippenbekenntnisses könnte hier bereits in der Wahl des Formats begründet sein.