Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa abermals mit einer Fluchtbewegung konfrontiert, die Millionen von Ukrainer:innen inner- wie außerhalb ihres Landes betrifft. Till Breyer spricht mit dem Exilforscher Alexis Nuselovici über das Verhältnis Europas zur Fluchtmigration, den Krieg und die politischen Widersprüche der Gegenwart.

  • Alexis Nuselovici

    Alexis Nuselovici ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Aix-Marseille und Inhaber des Lehrstuhls „Exil et Migrations“ am Collège d’études mondiales in Paris. 2020 erschien sein Essay Droit d’exil. Pour une politisation de la question migratoire (éditions MIX)
  • Till Breyer

    Till Breyer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum und forscht derzeit am Centre interdisciplinaire d’études littéraires d’Aix-Marseille (CIELAM) zur Kulturgeschichte des Asyls. 2019 erschien seine Dissertation Chiffren des Sozialen. Politische Ökonomie und die Literatur des Realismus (Wallstein).

Till Breyer: Der deut­sche Bundes­kanzler Olaf Scholz hat in Bezug auf den russi­schen Völker­rechts­bruch und die neue geopo­li­ti­sche Lage von einer „Zeiten­wende“ gespro­chen. Hat die aktu­elle Situa­tion auch migrations- und asyl­po­li­tisch eine „Zeiten­wende“ geschaffen?

Alexis Nuselo­vici: Das Konzept „Zeiten­wende“ ist inter­es­sant, denn es erzeugt philo­so­phi­sche Reso­nanzen. Es gehört nicht zu einem Geschichts­bild, das auf Linea­rität, auf dem Begriff des Fort­schritts beruht. Man könnte an die Philo­so­phie Nietz­sches und Walter Benja­mins denken, die die Geschichte als eine Folge von Frag­menten begriffen. Es ist bemer­kens­wert, wenn eine insti­tu­tio­nelle Figur wie die des deut­schen Bundes­kanz­lers auf dieses diskon­ti­nu­ier­liche Geschichts­denken zurückgreift.

In Bezug auf das euro­päi­sche Verhältnis zur Migra­tion gibt es aber eine andere, wich­ti­gere Zeiten­wende, die – grob gesagt – am Beginn des 21. Jahr­hun­derts liegt. Bis dahin wurde Migra­tion als eine unter­ge­ord­nete sozio-politische Gege­ben­heit betrachtet, als Neben­folge bestimmter sozialer Mecha­nismen und Notwen­dig­keiten, etwa ökono­mi­scher oder demo­gra­phi­scher Natur. Dann entstand eine neue histo­ri­sche Konfi­gu­ra­tion, die sich dadurch auszeichnet, dass die Migra­tion als solche in den Vorder­grund tritt. Das zeigt sich schon auf einer jour­na­lis­ti­schen Ebene: Als die Taliban wieder an die Macht kamen, war die Rede sofort von einer neuen „Flücht­lings­welle“, die daraus entstehe. Ebenso im Falle der Ukraine. Migra­tion ist zu einer eigen­stän­digen Kate­gorie der sozialen Realität geworden, aller­dings zu einer, über die fast ausschließ­lich im Modus der „Krise“ gespro­chen wird.

TB: Wie wäre statt­dessen darüber zu sprechen?

AN: Heute über die Welt und die Gesell­schaft nach­zu­denken bedeutet, beide einschließ­lich einer Migra­tion zu denken, die diese Welt und diese Gesell­schaft ganz grund­sätz­lich mit konsti­tu­iert. Um diesen Einschluss, diese „Inte­gra­tion“ der Migra­tion zu voll­ziehen, müssen wir sie intel­lek­tuell legi­ti­mieren. Jede Trans­for­ma­tion muss durch intel­lek­tu­elle Arbeit begründet werden, die sie in einer kultu­rellen Ordnung veran­kert. Das galt für die Errun­gen­schaften der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion, und das gilt für die neue Realität der Migra­tion. Die Aufgabe für uns als Forschende ist es, ein Prinzip zu erar­beiten, das diesen Umbruch, diese Zeiten­wende legi­ti­miert. Fehlt diese Legi­ti­mität, wird das gesell­schaft­lich Erreichte nicht von Dauer sein.

TB: Worin besteht in dieser Epoche, die Sie skiz­ziert haben und die etwa mit der Jahr­tau­send­wende beginnt, das Verhältnis zwischen der unmit­tel­baren Gegen­wart – 2022 – und dem viel­be­schwo­renen Krisen­jahr 2015, dem Jahr der so genannten „Flücht­lings­krise“?

AN: Hinsicht­lich der Ausmaße sind die beiden Situa­tionen nicht direkt vergleichbar, inso­fern man für 2015 tatsäch­lich von einer Krise spre­chen kann, gewis­ser­maßen im medi­zi­ni­schen Sinn: Der Begriff „Krise“ stammt ja aus dem medi­zi­ni­schen Wort­schatz. Die exem­pla­ri­sche Krise ist das Fieber, das anzeigt, dass etwas im Körper nicht funk­tio­niert. Das war 2015 so. Heute im Jahr 2022 hingegen funk­tio­nieren dieselben Dinge außer­or­dent­lich gut. Man hat alle Mittel bereit­stellen können, um die ukrai­ni­schen Geflüch­teten aufzu­nehmen. Das kann man nur begrüßen. 2022 gibt es also keine solche „Flücht­lings­krise“.

Diesem Bruch zwischen der Krise von 2015 und der Nicht-Krise von 2022 wurde aber poli­tisch nicht Rech­nung getragen. Andern­falls hätte die Nicht-Krise von 2022 von den Politiker:innen – wie von Ihnen jetzt – in diesem Verhältnis betrachtet werden müssen, mit der Schluss­fol­ge­rung: Wir können kein Asyl­system mit zwei unter­schied­li­chen Geschwin­dig­keiten machen.

TB: Das führt uns zu den Wider­sprü­chen der gegen­wär­tigen Konstel­la­tion. An der polnisch-belarussischen Grenze harren noch immer Hunderte Geflüch­tete aus, ange­lockt oder verschleppt von Lukaschenko, der sie als Druck­mittel einsetzt. Seit Monaten sitzen sie zwischen den Grenzen fest, die polni­sche Regie­rung lässt sie nicht einreisen…

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AN: Ja. Und während die Ukrainer:innen aufge­nommen werden, drängt Frontex in Grie­chen­land weiterhin Migrante:innen ab, die in der EU Asyl bean­tragen wollen, und im selben Moment werden arabi­sche, maghre­bi­ni­sche oder afri­ka­ni­sche Studie­rende, die sich in der Ukraine aufhielten, an den Grenzen fest­ge­halten. Daran sieht man, dass sich in der Frage der Migra­tion zwei sozio-politische Reali­täten gegen­über­stehen. Der wirk­liche Umbruch, der das ‚Im-Exil-Sein‘ (exili­ance) als grund­sätz­liche Dimen­sion der condi­tion humaine begreift, hat noch nicht stattgefunden.

TB: Dahinter steht ein Argu­ment, dass Sie in Ihrem Essay Droit d’exil entfaltet haben. Können Sie das kurz erläutern?

AN: Es geht mir darum, die euro­päi­sche Kultur auf jenes Prinzip hin zu befragen, das ich als ‚Im-Exil-Sein‘ (exili­ance) bezeichne und das dieses Im-Exil-Sein nicht als zufällig, sondern als eine grund­le­gende Form der condi­tion humaine bestimmt. Man weiß, dass die condi­tion humaine als solche nicht exis­tiert, sie exis­tiert nur in ihren konkreten histo­ri­schen Bedin­gungen – als Bedin­gung des Jüdisch-Seins, des Schwarz-Seins, des Mann- oder Frau-Seins usw. Und auch, daneben, unter der Bedin­gung des Im-Exil-Seins, als einer dieser mögli­chen Bedin­gungen. Das Konzept setzt unter­schied­liche Exil­er­fah­rungen in Bezug zuein­ander und hält zugleich daran fest, dass jede Exil­er­fah­rung spezi­fisch ist. Eine davon machen jene, die ich ‚Exilierte ohne Papiere, ohne Gesicht‘ (l’exilé-sans-visa-sans-visage) nenne, das heißt die so genannten ille­galen Einwanderer:innen.

TB: Poli­tiker wie Viktor Orban – aber nicht nur er – bringen eine alte Oppo­si­tion in Stel­lung: Die Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer seien „echte Flücht­linge“, während die Menschen an der bela­rus­si­schen Grenze und anderswo „nur Migrant:innen“ seien. Was für eine Ideo­logie steht hinter dieser Unterscheidung?

AN: Der Rassismus ist offen­kundig, der anti-Schwarze und anti-arabische Rassismus. Es lohnt sich kaum, darüber lange zu spre­chen. Letzt­end­lich wird er uns nicht erklären, warum es zwei Kate­go­rien von Migrant:innen gibt, denn diese rassis­ti­sche Drift gehört nicht zum Kern der Migra­ti­ons­frage, sie ist leider überall anzu­treffen. Sympto­ma­tisch an dieser Unter­schei­dung, wie Orban und andere sie treffen, ist viel­mehr, dass beide Konzepte – das Zuflucht-Suchen und das Einwan­dern – räum­liche, terri­to­riale Konzepte sind.

TB: Wie meinen Sie das?

AN: Man kann die Welt terri­to­rial oder nicht-territorial denken. Sie terri­to­rial zu denken, wurde ausge­hend vom West­fä­li­schen Frieden im 17. Jahr­hun­dert begründet, als die Natio­nal­staaten sich als Terri­to­rien bestimmten, mit Grenzen, mit dem Völker­recht, um diese Grenzen zu verwalten.

Die ukrai­ni­schen Geflüch­teten kommen nun aus einem Terri­to­rium, das nicht nur klar und deut­lich umrissen ist und als solches auf jeder Karte gefunden werden kann, sondern das auch mit dem Rest Europas in einem Verhältnis der Konti­nuität steht. Das terri­to­riale Denken oder, um Edouard Glis­sant zu zitieren, das „konti­nen­tale Denken“ ist ein Denken der Konti­nuität, und dieses Denken der Konti­nuität erzeugt in mir ein Gefühl der Nähe zu jenen, die mit mir in einem Verhältnis der Konti­nuität stehen.

TB: Es geht also nicht wirk­lich um die Unter­schei­dung von Geflüch­teten und Migrant:innen…

AN: Ich denke, dass die Menschen, die Orban als „Migrant:innen“ bezeichnet, aus einem Außen der konti­nen­talen Konti­nuität kommen. Man weiß bis zu einem gewissen Grad nicht, woher. Sie haben die Wüste durch­quert, das Meer durch­quert, und haben keine Papiere. Papiere sind eine Art Konti­nen­ta­lität, inso­fern sie eine Spur hinter­lassen, archi­viert und erfasst werden können. Papiere und Welt­karten folgen derselben Idee. Der Sinn davon, Migra­tion mit dem Prinzip des Im-Exil-Seins zu denken, besteht darin, dieses funda­men­tale Prinzip der Terri­to­ri­a­lität herauszufordern.

TB: Am 24. April wurde Emma­nuel Macron als Präsi­dent wieder­ge­wählt. Was bedeutet seine Präsi­dent­schaft für die euro­päi­sche Migra­ti­ons­po­litik und viel­leicht auch das Denken in Terri­to­ri­a­li­täten? Oder, um den Titel eines Essays von Alain Badiou abzu­wan­deln: Wofür steht der Name Macron?

AN: Die Präsi­dent­schafts­wahl hier in Frank­reich hat gezeigt, dass zwei Diskurse prak­tisch gleich stark sind: Ein Diskurs, den man mögli­cher­weise als „deter­ri­to­rial“ bezeichnen könnte und der jener Macrons ist, ein libe­rales, globa­li­sie­rendes Denken, das ich zwar in dieser Form poli­tisch ablehne, das aber durchaus bestrebt ist, sich vom Terri­to­rialen abzu­lösen. Das euro­päi­sche Programm Macrons hat natür­lich Hinter­ge­danken, folgt ökono­mi­schen Inter­essen, aber das ändert nichts daran, dass es die Kate­gorie des Natio­nalen über­schreitet. Auf der anderen Seite haben wir den Diskurs, der wieder einmal fast gleichauf ist – 41 % – und der ein Diskurs der Beja­hung des Terri­to­rialen ist.

Bei dem, was in der Ukraine passiert und was Putin verfolgt, handelt es sich um eine terri­to­riale Logik, die bis zum äußersten getrieben ist: ‚Dieses Terri­to­rium gehört mir, ich bean­spruche es, und also betreibe ich eine geno­zi­dale Politik‘ – ich zögere nicht, den Begriff zu benutzen – ‚um mich seiner zu bemäch­tigen.‘ Das ist ein alter, terri­to­rialer Krieg. Sein Prinzip aber erkenne ich auch in der Posi­tion der fran­zö­si­schen extremen Rechten wieder.

Wofür steht der Name Macron? Im Rahmen der Präsi­dent­schafts­wahlen steht er für ‚Nicht-Le Pen‘. Das bedeutet auch, dass Macron die Wahl nicht gewonnen hat. Es ist Le Pen, die gewonnen hat. Macron wurde gewählt, um Le Pen abzu­wehren. Das ist gut doku­men­tiert. Wir müssen uns darüber klar­werden, dass die euro­päi­schen Gesell­schaften sich in dieser rechts­extremen Drift befinden. Das ist eine neue Realität, und für uns ist sie furchtbar, weil wir dazu verur­teilt sind, stets zu reagieren…

TB: … statt poli­tisch kreativ handeln zu können?

AN: Genau. Als wären unsere Prin­zi­pien nicht stark genug, um uns zum Handeln zu treiben. Diese Prin­zi­pien sind seit – unge­fähr – vier Jahr­zehnten offenbar zu schwach, um eine bessere Gesell­schaft zu schaffen.

TB: Ist die Univer­sität ein bloßer Rück­zugsort dieser Defensive?

AN: Nicht unbe­dingt. Ich denke, die Geistes- und Sozi­al­wis­sen­schaften haben grund­sätz­lich zwei Möglich­keiten. Entweder, sie begleiten das Soziale – oder sie kriti­sieren es. Ich fürchte aller­dings, an der Univer­sität ist es heute das erstere Modell. Demge­gen­über bin ich dafür, zur Radi­ka­lität der Frank­furter Schule zurück­zu­kehren, zu Walter Benjamin, zu Adorno. Beide stehen für ein kriti­sches Verhältnis zur Gegen­wart, das auf einer histo­ri­schen reflek­tierten Posi­tion beruht. Zentral dafür ist Benja­mins Konzept der „Jetzt­zeit“. Er denkt die Vergan­gen­heit als eine Zeit der Gegen­wart, des Jetzt, und gerade im Moment der Krise treten unter­schied­liche Jetzt­zeiten in Beziehung.

TB: Ist die Krise eine Zeit, die mit sich selbst nicht iden­tisch ist?

AN: Genau so kann man es sagen. Oder: eine Gegen­wart, die sich selbst nicht gegen­wärtig ist. Dieses Denken der Jetzt­zeit besteht in der Aner­ken­nung dessen, dass die Vergan­gen­heit einmal gegen­wärtig war und dass ich deshalb mit ihr in einen Dialog eintreten kann. Ich kann sie mir – wie man auf Deutsch sagt – verge­gen­wär­tigen, um meine eigene Gegen­wart zu begreifen.

TB: Was bedeutet ein solcher Dialog für uns heute?

AN: Wir sind beide Kinder des Nach­kriegs – ich ein biss­chen mehr als Sie. Doch der Krieg in der Ukraine rückt uns mit einem Mal sehr nah an die vergan­gene Gegen­wart des Kriegs heran. Wir können uns – über eine Art Einfüh­lung oder Projek­tion – dem annä­hern, was der Krieg war.

Aber Benja­mins Konzept funk­tio­niert nicht wie ein Schema, im Sinne von: Hier, das ist der Zusam­men­hang! Es stellt uns viel­mehr vor Probleme und Entschei­dungen. Wenn es heute einen Genozid gibt – die Verbre­chen von Butscha, von Irpin –, was würde die Jetzt­zeit vor etwas mehr als einem halben Jahr­hun­dert für uns bedeuten, wenn nicht: Man muss reagieren? Gestern, am 28.April, war Jom haScho’a, der jüdi­sche Feiertag des Geden­kens an die Shoah. Gibt es nicht heute wieder einen Genozid?

TB: Würden Sie den Völker­mord an den Jüd:innen durch die Nazis wirk­lich mit den Verbre­chen in der Ukraine ineins setzen?

AN: Ich sage nicht, dass beides dasselbe ist, histo­risch. Für das Denken ist es das aber. Ich denke an Dostoevskij und Camus, die über das Nicht-Hinnehmbare, Nicht-Denkbare des Todes von Kindern spre­chen, des Todes auch nur eines einzigen Kindes.

Deshalb ist die Posi­tion Adornos so unge­mein stark, wenn er ein Handeln einfor­dert, das dafür Sorge trägt, dass die Bedin­gungen des Völker­mords sich nicht wieder­holen – nicht der Völker­mord selbst, sondern seine Bedin­gungen! Und mit „Bedin­gungen“ sind nicht unbe­dingt genau die Bedin­gungen gemeint, die histo­risch vorlagen. Die sozio-politischen Verhält­nisse können sich geän­dert haben. Aber ich fürchte, mit dem, was man als Puti­nismus bezeichnet, sind die Bedin­gungen wieder da.

TB: Mit Dostoevskij und Camus haben Sie schon das Thema Lite­ratur ange­spro­chen. Hat Lite­ratur in einer drama­ti­schen Situa­tion wie der heutigen über­haupt einen poli­ti­schen Sinn?

AN: Lite­ratur hat eine intrin­si­sche Dimen­sion der Diachronie. Lite­ratur ist ein Gedächtnis. Sie ist Verzeichnis jener Jetzt­zeit, in dem ich in der Lektüre mit der Gegen­wart in Kontakt komme, die die Autorin oder der Autor mit mir teilen wollte. Das ist eine unmit­telbar poli­ti­sche Dimen­sion. Wenn die Lite­ratur diese Macht hat, so deshalb, weil das Mate­rial der Lite­ratur die Sprache ist, das heißt jenes Medium, das unseren Alltag zu einem spezi­fisch mensch­li­chen macht.

Die zweite Funk­tion der Lite­ratur ist ihre Fähig­keit, das auszu­sagen, was wir in der normalen Ausübung der Sprache nicht sagen können. Sie kann von Momenten spre­chen, in denen es uns die Sprache plötz­lich verschlägt. Etwa dann, wenn wir völlig aus den Rahmen unseres Wissens heraus­ge­worfen werden, unseres Verste­hens, unserer Empfin­dungen. Freud spricht hier von „Verstummen“. Mit einem Mal bin ich außer­halb dessen, was meine Exis­tenz zu einer mensch­li­chen macht, das heißt zu einer sprach­li­chen. Plötz­lich bin ich ein infans, ein Kind, das noch nicht spre­chen kann. Die Lite­ratur sagt mir: Du kannst dennoch spre­chen, aber um das Risiko des Verstum­mens. Es gibt eine sehr schöne Defi­ni­tion des Gedichts bei Paul Celan, der sagt: Das Gedicht ist stets am Rande seiner selbst.

TB: Könnte man sagen: jenseits der Terri­to­ri­a­lität der Sprache?

AN: Ja, absolut. Hier sind wir bei Derrida, bei der Kraft der Schrift. Die Schrift recht­fer­tigt sich nicht durch die Präsenz dessen, der spricht. Und die Lite­ratur exis­tiert in dieser unglaub­li­chen Arbeit der Sprache, in der die Sprache sich von ihren eigenen Gebrauchs­be­din­gungen löst.

TB: Als Prodekan der Fakultät haben Sie in jüngster Zeit auch die Aufnahme von aus der Ukraine geflüch­teten Kolleg:innen orga­ni­siert. Die von Ihnen mode­rierte Gesprächs­serie „La litté­ra­ture contre la guerre“ (Die Lite­ratur gegen den Krieg) bringt nun Literaturwissenschaftler:innen der Univer­sität Aix-Marseille sowie aus der Ukraine mitein­ander ins Gespräch. Wie beein­flusst dieser Austausch Ihre Perspek­tive auf die aktu­elle Situation?

AN: Eine der ukrai­ni­schen Kolleg:innen, die zu uns gekommen ist, Oksana Shostak, die bislang an einer Kyjiver Univer­sität arbei­tete, hat uns mitge­teilt, dass in der Ukraine im Moment zahl­reiche Gedichte geschrieben werden. Ich arbeite gerade an dem über­nächsten Treffen im Rahmen dieses Semi­nars, in dem einige ukrai­ni­sche Kolleg:innen über diese neue Lyrik spre­chen werden. Ich denke dabei auch an all die histo­ri­schen Gedichte, die unter den Bedin­gungen von Bedro­hung und Verfol­gung entstanden sind, etwa an Ossip Mandel­stam, dessen Frau Nadežda seine Gedichte auswendig lernte, um sie schließ­lich über­lie­fern zu können. Das ist dieses Bewusst­sein, das ich in dem Moment, wo ich an einem Stück Lite­ratur arbeite, eine Spur hinter­lassen werde. In dieser Rich­tung wird hier gear­beitet, und es ist auch diese gemein­same Produk­ti­vität, die wir in der Fakultät aufnehmen und beher­bergen wollen.

TB: Eine letzte, natür­lich allge­meine Frage: Wenn man in den kommenden Jahr­zehnten eine Politik der Aufnahme, des legi­timen und will­kom­menen Im-Exil-Seins, der exili­ance einfor­dert – wer könnte diese Politik umsetzen?

AN: Wer sie umsetzen könnte? Da habe ich eine konkrete Antwort: Europa. Nicht die euro­päi­schen Länder. Nur Europa hat die Mittel dazu. Die Inte­gra­tion einer hohen Zahl von Geflüch­teten im gesamten Europa ist letzt­lich einfach, denn hier leben 500 Millionen Menschen. Dasselbe gilt für die finan­zi­elle Dimen­sion. Es sind die euro­päi­schen Struk­turen, die das leisten können. Und müssen. Denn Europa exis­tiert nur als ein migran­ti­sches. Europa hat sich durch interne Migra­ti­ons­pro­zesse gebildet, ebenso aus externen – das ist die Geschichte des Kolo­nia­lismus, des Impe­ria­lismus. Migra­tion ist in die DNA Europas einge­schrieben. Frontex – diese Insti­tu­tion, die mit liby­schen Milizen kolla­bo­riert – operiert auf euro­päi­schem Niveau. Warum nicht eine Struktur aufbauen, die der von Frontex vergleichbar ist – aber eine, die aufnimmt.

TB: Vielen Dank für das Gespräch!

Aus dem Fran­zö­si­schen von Till Breyer. Das Inter­view entstand im Rahmen einer Förde­rung durch die Deut­sche Forschungs­ge­mein­schaft (DFG) – 466038128