Die Bundesversammlung will Personen, die für dschihadistische Taten verurteilt wurden, auch in Staaten ausschaffen können, in denen ihnen Folter droht. Der Beschluss verstösst gegen das Folterverbot und ist ein Tiefpunkt der letzten Legislatur. Bereits 1996 beschäftigte sich die Bundesversammlung mit einer Volksinitiative, die Ähnliches forderte. Damals wurde das Vorhaben jedoch noch ganz anders beurteilt. Das zeigt einen Wandel des Verständnisses von verfassungspolitischen Grundsätzen, der zu denken gibt. Durch die Gegenüberstellung der beiden Beschlüsse ergeben sich verfassungsrechtliche Fragen, welche sich die Bundesversammlung hätte stellen müssen.
Die Vorgeschichte
Die Geschichte des Beschlusses, der als Vergleich dient, beginnt im Wahljahr 1991, als die kleine rechtsnationalistische Partei Schweizer Demokraten die Volksinitiative „für eine vernünftige Asylpolitik“ lancierte. Diese sah unter anderem vor, dass illegal eingereiste Asylbewerbende und solche, deren Gesuch rechtskräftig abgewiesen worden ist, umgehend und ohne Beschwerdemöglichkeit aus der Schweiz weggewiesen werden können. Das Initiativkomitee argumentierte ähnlich wie heutige Befürworter der Verschärfung des Asylrechts. Es brauche eine Änderung, um die Schweiz für eine angeblich zu grosse Anzahl von angeblich „unechten“ Flüchtlingen unattraktiver zu machen.
Bevor eine Volksinitiative dem Volk und den Ständen zur Abstimmung vorgelegt wird, muss die Bundesversammlung diese jeweils für gültig erklären; bei einer Ungültigerklärung kommt die Initiative gar nicht zur Abstimmung. Im Juni 1994 legte der Bundesrat dem Parlament die Initiative zur Asylpolitik vor. Er empfahl der Bundesversammlung, sie für ungültig zu erklären, weil sie gegen das Folterverbot und somit zwingendes Völkerrecht verstosse. Für eine derartige Empfehlung gab es keine geschriebene verfassungsrechtliche Grundlage. Vor der Totalrevision der Bundesverfassung 1999 waren nur die beiden formellen Ungültigkeitsgründe – Einheit der Form und Einheit der Materie – im Verfassungstext verankert. Inhaltliche Gründe, eine Volksinitiative für ungültig zu erklären, waren im Verfassungstext keine vorgesehen.
Der Bundesrat argumentierte: Die Initiative verstosse gegen eine zwingende völkerrechtliche Norm, nämlich das Folterverbot. Dieses verbietet einem Staat nicht nur, selbst zu foltern, sondern auch Personen in einen Staat wegzuweisen respektive „auszuschaffen“, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass ihnen dort Folter droht. Dieses Verbot wird als „menschenrechtliches Non-Refoulement Prinzip“ bezeichnet. Da die Initiative vorsah, illegal eingereiste Flüchtlinge umgehend und ohne jede Beschwerdemöglichkeit auszuschaffen, wäre in diesen Fällen keine Prüfung erfolgt, ob das Folterverbot womöglich verletzt wird. Damit hätte die Schweiz ihre aus dem Folterverbot entstehenden Verpflichtungen verletzt.
Eine Initiative, welche gegen völkerrechtliche Normen verstosse, müsse grundsätzlich als Auftrag verstanden werden, den Vertrag, in dem diese Norm festgehalten ist, zu kündigen oder zumindest neu auszuhandeln. Das war damals das herrschende Verständnis zum Verhältnis von Volksinitiativen und Völkerrecht. Die Initiative verstosse aber nicht nur gegen völkerrechtliche Normen, sondern gegen „zwingendes Völkerrecht“. Weil dieses eine unbedingte Geltung beanspruche, sei eine Neuaushandlung oder Kündigung nicht möglich. Die Normen des zwingenden Völkerrechts seien „für einen Rechtsstaat von derart grundlegender Bedeutung“, dass „auch dem Souverän … keine Wahlfreiheit zukommen könne.“
Eine wegweisende Handhabe
Im März 1996 behandelte die Bundesversammlung die Volksinitiative. Der CVP-Ständerat Carlo Schmid warnte während dieser Debatte: „Wenn wir heute eine Ungültigerklärung aussprechen, nehmen wir uns als Parlament das Recht heraus, ohne Abstützung auf die Bundesverfassung dem Volk zu sagen, ob es über etwas abstimmen darf oder nicht.“ Die Bundesversammlung nahm sich dieses Recht heraus: Sie erklärte die Initiative für ungültig und die Initiative wurde dem Volk und den Ständen gar nicht erst zur Abstimmung unterbreitet. Der Vorgang zeigt die hohe Bedeutung, welche die Bundesversammlung damals den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts beimass.
Das war das erste und bis jetzt einzige Mal, dass die Bundesversammlung aufgrund einer Verletzung bestimmter fundamentaler normativer Grundsätze eine Initiative dem Volk und den Ständen nicht zur Abstimmung vorlegte. Dieser Beschluss führte dazu, dass die „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ bei der Totalrevision der Verfassung 1999 als inhaltliche Schranke der Verfassungsänderung in die neue Bundesverfassung aufgenommen wurden. Seitdem beschränken sie jede Verfassungsänderung, also auch Volksinitiativen. Diese Bestimmungen verankern nun in der Bundesverfassung diejenigen verfassungspolitischen Grundsätze, die von derart hoher Bedeutung sind, dass selbst ein Entscheid der verfassungsgebenden Gewalt sie nicht aufheben kann. Seitdem muss die Bundesversammlung bei jeder Verfassungsänderung und somit jeder Volksinitiative prüfen, ob sie zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt. Bei einer Verletzung erklärt sie die vorgeschlagene Verfassungsänderung für ungültig und legt sie Volk und Ständen nicht zur Abstimmung vor.
Der Vorschlag Regazzis
Heute sieht die Sache anders aus. Das politische Klima hat sich seit diesem Beschluss gewandelt – der aufkommende Rechtspopulismus und die Angst vor dem Terrorismus haben die Selbstverständlichkeit von rechtstaatlichen Prinzipien erschüttert. Durch verschiedene Volksinitiativen der SVP wurde das Infragestellen dieser Prinzipien in der Schweiz wieder salonfähig. Vor diesem Hintergrund reichte der CVP-Nationalrat Fabio Regazzi Ende 2016 einen Vorschlag ein, um das Ausschaffungsrecht zu verschärfen und die Rolle des Völkerrechts zu hinterfragen. Er forderte eine Rechtsänderung, um die „Ausweisung von Terroristinnen und Terroristen in ihre Herkunftsländer, unabhängig davon, ob sie als sicher gelten oder nicht“ zu ermöglichen. Der eingereichte Text lautet knapp: „Der Bundesrat wird beauftragt, das Verfahren anzupassen, mit dem Dschihadistinnen und Dschihadisten, die für Taten in Zusammenhang mit dem IS verurteilt wurden, in ihr jeweiliges Land ausgewiesen werden, auch wenn diese Länder als unsichere Länder gelten. Damit würde Artikel 33 Absatz 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vor Artikel 25 Absatz 3 der Bundesverfassung gelten.“
Auf den ersten Blick scheint die Forderung lediglich eine Vorrangregelung zugunsten des internationalen Rechts (der Flüchtlingskonvention) vor der Bundesverfassung zu verlangen. Dadurch profitiert die Forderung von der legitimatorischen Ausstrahlung des humanitären Völkerrechts. In Regazzis Vorschlag wird vorgegaukelt, dass das Völkerrecht selbst hier eine Möglichkeit für eine strengere Ausschaffungspraxis bereitstelle. Die Forderung verschweigt jedoch, dass Art. 33 der Flüchtlingskonvention und Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung einen anderen Inhalt haben und somit gar nicht kollidieren können – weshalb eine Vorrangregelung sinnlos ist. Zugegebenermassen, beide Artikel verankern einen Grundsatz der Nichtzurückweisung, ein Non-Refoulement Prinzip, jedoch mit jeweils unterschiedlichem Inhalt. Es sind durchaus keine juristischen Spitzfindigkeiten, denen wir uns jetzt zuwenden müssen.
Menschenrechtliches und völkerrechtliches Nichtzurückweisungsgebot
Das eine Non-Refoulement Prinzip ergibt sich aus dem Folterverbot, das andere aus dem humanitären Völkerrecht. Das Folterverbot verbietet einem Staat, Personen in einen Staat abzuschieben, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr laufen, gefoltert zu werden. Dieses Verbot wird als „menschenrechtliches Non-Refoulement Prinzip“ bezeichnet und ist in Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung verankert. Es gilt absolut; Ausnahmen sind also nicht möglich.
Daneben besteht im Flüchtlingsrecht das „humanitäre Non-Refoulement Prinzip“. Dieses Prinzip ist in Art. 33 der Flüchtlingskonvention verankert. Es besagt, dass ein Flüchtling nicht in ein Gebiet zurückgewiesen werden darf, in welchem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Anschauungen gefährdet wäre. Im Gegensatz zum menschenrechtlichen Non-Refoulement Prinzip gilt es jedoch nicht absolut, und die Flüchtlingskonvention hält in Art. 33 Abs. 2 eine Ausnahme fest. Wenn nämlich erhebliche Gründe vorliegen, dass die Person als eine Gefahr für die Sicherheit des Aufenthaltsstaates angesehen werden muss oder wenn er eine Bedrohung für die Gemeinschaft dieses Landes bedeutet, darf ein Flüchtling ausnahmsweise trotzdem ausgeschafft werden. Das heisst allerdings nicht, dass dabei gegen das Folterverbot verstossen werden darf, das ausnahmslos gilt.
Eine Posse
Indem nun die Forderung von Regazzi verlangt, dass die Ausnahme des humanitären Non-Refoulement Prinzips auch für das menschenrechtliche Non-Refoulement Prinzip zu gelten habe, verletzt sie letzteres Prinzip, das ausnahmslos gilt. Regazzi verwischt in seiner Forderung die Unterscheidung zwischen diesen beiden Prinzipien. Als Rechtsanwalt mit langjähriger Praxiserfahrung sollte ihm ein derartiger Fehler nicht unterlaufen – es sei denn, er wollte ihn bewusst begehen.
Wie bei der Initiative von 1996 handelt es sich also um eine vorgeschlagene Rechtsänderung, welche gegen eine zwingende Bestimmung des Völkerrechts, das menschenrechtliche Non-Refoulement Prinzip, verstösst. Doch während die Bundesversammlung 1996 beschloss, das Volk nicht darüber abstimmen zu lassen und den möglichen Verfassungsänderungen eine inhaltliche Schranke setzte, gab sie 2019 genau ein solches Gesetz beim Bundesrat in Auftrag. Dieser muss die Forderung nun umsetzen.
Kritik
Die kritischen Reaktionen darauf waren zahlreich. Eine Verletzung des Folterverbots ist nicht „nur“ eine Menschenrechtsverletzung, sondern eine Verletzung einer zwingenden Bestimmung des Völkerrechts (ius cogens). Ius cogens benennt eine Kategorie von wenigen Normen im Völkerrecht, die von allen Staaten als derart wichtig anerkannt werden, dass davon nicht abgewichen werden darf. Der Entscheid der Bundesversammlung verletzt also eine Norm, bei der sich alle Staaten einig sind, dass die daraus fliessenden Verpflichtungen nicht unterlaufen werden können. Er untergräbt dadurch fundamental die humanitäre Tradition der Schweiz und den errungenen globalen minimalen Konsens über solche zwingenden Normen.
Davon abgesehen aber wirft er eine offene verfassungsrechtliche Frage auf, die weder während des Entscheidungsprozesses der Bundesversammlung noch in den darauffolgenden Reaktionen formuliert wurde. Denn die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts übernehmen in der schweizerischen Verfassungsordnung eine spezifische Funktion: Sie setzen möglichen Verfassungsänderungen eine Grenze. Der Verfassungsgeber, also Volk und Stände, hat sich in der Totalrevision der Verfassung 1999 selbst zurückgebunden und die «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» als diejenigen Normen definiert, die selbst er nicht verletzen darf.
Der Bundesrat hielt in seiner Stellungnahme lediglich fest, dass aufgrund des menschenrechtlichen Non-Refoulement Prinzips „kein Handlungsspielraum für die mit der Forderung verlangte Praxisänderung“ bestehe. Die Frage, ob die Forderung in Anbetracht der inhaltlichen Schranke der Verfassungsänderung überhaupt gültig ist, wurde gar nicht erst gestellt. Grundsätzlich überträgt die Bundesverfassung der Bundesversammlung die Verantwortung, jeweils zu prüfen, ob eine Volksinitiative die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzt. Bei Regazzis Forderung hätte sie diese Verantwortung ebenso wahrnehmen und einige Fragen stellen und beantworten müssen: Wieso soll die inhaltliche Schranke der Verfassungsänderung nicht auch für die Gesetzgebung und für hierarchisch tiefere Normen Geltung haben? Und wieso gilt die Beschränkung des Verfassungsgebers, also des Volkes und der Stände, nicht auch für die Bundesversammlung? Die Bundesverfassung sieht in der Bundesversammlung die höchste Gewalt im Bund – unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Stände. Wieso hat also die Bundesversammlung hier auf einmal eine Wahl, wo selbst „dem Souverän […] keine Wahlfreiheit“ zukommen kann?
Das spezifisch schweizerische Demokratieverständnis
Der deutsche Staatsrechtler Peter Häberle schrieb mit Blick auf die schweizerische Bundesverfassung: „Die Schweiz braucht dank ihrer im Ganzen glücklichen Verfassungsgeschichte keine positivierte Ewigkeitsklausel. Ihr kultureller Kontext, d.h. Freiheit, Demokratie, Föderalismus und Gewaltenteilung sind so vital […]. Die Widerstandsfähigkeit gegen alle Formen von totalitärer oder autoritärer Staatlichkeit ist im kollektiven Gedächtnis der ‘Willensnation Schweiz’, auch der Umgang mit ethnischen und anderen Minderheiten, so sehr Teil der politischen Kultur […].“ Häberle zieht diesen Schluss vor dem Hintergrund der sehr ungleichen Erfahrung Deutschlands. Das deutsche Grundgesetz enthält aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges inhaltliche Schranken der Verfassungsänderung, welche weiter gehen als jene in der Schweiz und die als „Ewigkeitsklausel“ bezeichnet werden.
Die Frage nach den Schranken von Verfassungsänderungen und in einem weiteren Sinne von demokratischen Entscheiden stellte sich in der Schweiz dagegen nie in einer solchen Dringlichkeit. Es ist eine Frage, die bisher umgangen werden konnte und auf welche eine klare Antwort verzichtbar schien. Vor allem ist es eine unangenehme Frage – sie verträgt sich wenig mit der in der Schweiz gelebten direkt-demokratischen Tradition. 1954 hat der Schweizer Staatsrechtler und ehemalige Rektor der Universität Zürich Zaccharia Giacometti die Demokratie als „Hüterin der Menschenrechte“ beschrieben. Die dahinterstehende Prämisse – das Volk schützt eine freiheitliche Ordnung wesensgemäss, weil jede und jeder an dieser Ordnung teilhat – ist heute noch Teil des schweizerischen Demokratieverständnisses. Dieses Verständnis der Demokratie braucht keine Antwort auf die Frage nach den Schranken eines demokratischen Entscheids. Gleichzeitig aber zeigen verschiedene Volksabstimmungen, dass dieses Verständnis der Demokratie nicht der Realität entspricht. Der Entscheid der Bundesversammlung 1996 war einer, der sich dieser Realität stellte und eine Antwort auf die Frage nach einer Schranke versuchte. Bei der Behandlung von Regazzis Forderung hat die Bundesversammlung verweigert, sich diese wichtige Frage zu stellen.