
Ein wenig ist es wie bei Deep Thought, dem Supercomputer aus Douglas Adams Science-Fiction-Roman Per Anhalter durch die Galaxis, der die Antwort auf die „Frage aller Fragen“ bestimmen soll: Da beauftragen deutsche Ministerien, Bundesbehörden, Landesparlamente und kommunale Einrichtungen seit geraumer Zeit Historiker:innenkommissionen damit, die „Belastung“ der eigenen Institution durch den Nationalsozialismus zu klären, und am Ende steht dann eine Zahl. Zuletzt war es die Universität Hannover, die als Ergebnis einer 2016 begonnenen Untersuchung verkündete, rund 70 Prozent aller zwischen 1945 und 1978 berufenen Professoren „waren Nazis“. Die Universitätsleitung und die Beteiligten der Untersuchung zeigten sich stolz über die geleistete Arbeit: Der Historiker Wolfgang Benz nannte die Studie „ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Leibniz Universität“. Rektor und Senatssprecher betonten, mit ihr habe sich die Universität Hannover der „Geschichte gestellt“, durch kritische Aufarbeitung „für Gegenwart und Zukunft gelernt“ und einen wichtigen „Beitrag zur Identität der Leibnitz-Universität Hannover“ geleistet. Anderen Universitäten sei man damit „Vorbild“.
Mit dem Aufarbeitungsprojekt aus Hannover erreicht ein Modus der Vergangenheitsbewältigung die Universitäten, der mit den Untersuchungen zur „Belastungsgeschichte“ verschiedener Bundesministerien in den letzten Jahren zum Standard institutioneller Geschichtsaufklärung geworden ist und das Zählen von „Nazis“ innerhalb des Personalbestandes nach 1945 in den Mittelpunkt stellt. Etwas spöttisch haben ihn die Historiker Frank Bajohr und Johannes Hürter als ritualisiertes Zertifizierungsunternehmen beschrieben, in dem beauftragte Historiker:innen den untersuchten Institutionen „Zertifikate für kritisch historische Selbstverständigung in die Hand“ geben. Die Größe der präsentierten Zahlen fungiert dabei als öffentlicher Ausweis der Schonungslosigkeit und des Mutes, mit dem sich die Auftraggeber der eigenen Vergangenheit stellen. Auch im Fall der Universität Hannover gab es für die „erschreckenden Zahlen“ Lob auf Twitter und in Zeitungen. Doch was genau bedeuten Zahlenwerte von 66, 70, 77 oder 80 Prozent eigentlich, die auf den ersten Blick mit so großer Präzision die „Belastung“ der untersuchten Einrichtungen zu erfassen scheinen? Sagen sie wirklich mehr als jene sprichwörtliche Zweiundvierzig, mit der Deep Thought bei seinen Auftraggebern vor allem Ratlosigkeit stiftet? Was ist mit ihnen für das Verständnis der „Belastungen“ von Ministerien, Behörden und jetzt: Universitäten gewonnen? Und lässt sich aus ihnen für „Gegenwart und Zukunft“ lernen?
NSDAP-Mitgliedschaften und Karrierewege im Nationalsozialismus
Um diese Fragen zu beantworten, muss man genauer betrachten, was hier eigentlich gezählt und was von den Zahlen erwartet wird: Institutionen wie die Universität Hannover wollen mit ihrer Selbsterforschung etwas über die „Haltung“ ihres Nachkriegspersonals im Nationalsozialismus erfahren und damit über das „Fortleben nationalsozialistischer Ideologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. Haltungen lassen sich allerdings nicht direkt zählen. Greifbar sind vor allem Mitgliedschaften in NS-Organisationen, die Personalakten, Mitgliederkarteien und das umfangreiche Schriftgut der Entnazifizierung überliefern. Diese Differenz ist wichtig, denn ob Mitgliedschaften das Fortleben von Ideologie auch nach dem Ende der entsprechenden Organisation oder Partei anzeigen, ist schon auf den ersten Blick fraglich, und zugleich stellen sich mit ihr die hohen Anteilswerte an Mitgliedern der NSDAP und anderer NS-Organisationen weit weniger überraschend dar, als es deren öffentliche Präsentation vermuten lässt.
Dies liegt nicht nur daran, dass die Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik seit Jahrzehnten gut erforscht sind und ihr beträchtliches Ausmaß unstrittig ist. Es hat vor allem damit zu tun, für welchen Personenkreis nach NS-Mitgliedschaften gesucht wird: Wie im Fall der Universität Hannover richtet sich der Blick stets auf das leitende Personal der jeweiligen Institution, das deren Handeln in den 1950er bis 1970er Jahren bestimmte. Mit Ministern, Behörden- und Abteilungsleitern, Professoren und leitenden Angestellten stehen damit Mitarbeiter mittleren bis höheren Alters im Zentrum, die bereits vor 1945 im öffentlichen Dienst gearbeitet haben – einem Sektor, der zwischen 1933 und 1945 überproportional stark in den Organisationen der NSDAP vertreten gewesen war. Gegenüber ihren Staatsdienern hatte die NS-Führung von Beginn an besonders hohe Loyalitätserwartungen formuliert, wie etwa die zahlreichen Entlassungen politisch missliebiger und jüdischer Staatsangestellter am Beginn der NS-Herrschaft demonstrierten. Zugleich wuchs aus der Bewegungspartei, die die NSDAP in der Weimarer Republik gewesen war, nach 1933 ein weitausgreifendes Netz an Herrschaftsinstanzen, das sich parallel zur staatlichen Verwaltung ausdehnte. Parteistellen und staatliche Verwaltung gingen dabei vielerlei Verflechtungen ein, die sich auch in den besonders zahlreichen Mitgliedschaften der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes in der NSDAP oder ihr zugehörigen Organisationen niederschlug.

NSDAP-Mitgliederbuch; Quelle: dutchmilitaria.com
Die hohe Zahl früherer Parteimitglieder innerhalb des leitenden Personals der jungen Bundesrepublik, die die Aufarbeitungsprojekte beziffern, verweist insofern zurück auf die Umgestaltung öffentlicher Verwaltung im Nationalsozialismus, in der Parteimitgliedschaften und -ämter zum Bestandteil von Berufslaufbahnen und Karrierehoffnungen wurden. Herrschaftliche Ansprüche und Verpflichtungen trieben dies ebenso voran wie der Opportunismus, das Karrierestreben und der Geltungsdrang einzelner Angestellter. Mitgliedschaften allein eröffnen somit nicht unbedingt und trennscharf den Blick auf politische „Haltungen“, sondern auf ein diffuses Feld karrieristischer, opportunistischer und weltanschaulicher Motivationen, das sich kaum genauer auflösen lässt, sondern vielmehr als solches als Teil nationalsozialistischer Staatlichkeit verstanden werden muss. Welche „Belastungen“ sich aus ihm nach 1945 für die Institutionen der Bundesrepublik ergaben, sagen die Zahlenwerte nicht.
Der zweifache Schatten der Entnazifizierung
Dass in den Aufarbeitungsprojekten dennoch so beständig Mitgliedschaften gezählt werden, liegt insofern nicht daran, dass diese ein besonders guter Indikator für die Frage nach dem Ausmaß der „NS-Belastung“ von Ministerien, Behörden und Universitäten sind. Es erklärt sich vor allem aus der langen Tradition, die diese Perspektive besitzt. Ihren Ursprung hat sie in den ersten Nachkriegsjahren, als die Alliierten im Rahmen der sogenannten Entnazifizierung insbesondere die Angestellten der öffentlichen Verwaltung systematisch auf ihre politische Vergangenheit überprüften. Zu den Entnazifizierungsverfahren stehen die heutigen Aufarbeitungsprojekte in einer eigentümlichen Spannung: Auf der einen Seite ist das „Scheitern der Entnazifizierung“ Antrieb für die aktuelle Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die, wie es der Autor der Hannoveraner Studie formulierte, „eine Arbeit nachholt, die hätte geleistet werden können, aber nicht geleistet wurde“. Auf der anderen Seite werden dabei eben jene Konzeption von „Belastung“ herangezogen, die die Alliierten für die Entnazifizierung entwickelt hatten. Dabei wird aber übersehen, dass dieses Konzept, das den Mitgliedschaften in NS-Organisationen zentrale Bedeutung beimaß, nicht für den Zweck entworfen wurde, für den es heute benutzt wird.
Denn ihrer Konzeption nach hatte die Entnazifizierung überhaupt keine Bewertung der NS-Vergangenheit einzelner Personen oder ihrer „Haltung“ treffen sollen. Ihr Ziel war nicht auf Individuen, sondern auf die Gesellschaft gerichtet gewesen, die vor Personen geschützt werden sollte, die den demokratischen Neuanfang bedrohten. Dafür suchte man vor allem ein praktikables Kriterium, mit dem sich potentielle Gefährder identifizieren ließen. Dass die Mitgliedschaften in NS-Organisationen hierfür nur eine sehr grobe Annäherung erlaubten, war den alliierten Planern der Entnazifizierung sehr bewusst. Aber dieses Kriterium ließ sich leicht abfragen und in ein standardisiertes Verfahren überführen, bei dem alle Personen, die etwa zu einzelnen Stichdaten Mitglieder in bestimmten NS-Organisationen gewesen waren, automatisch aus ihren leitenden Positionen in der öffentlichen Verwaltung entlassen werden konnten. Hunderttausende „belastete“ Angestellte und Beamte aus dem öffentlichen Dienst, die damit als „belastet“ eingestuft wurden, verloren so im Herbst 1945 ihren Job.
Dass sich aus diesem schematischen Vorgehen schließlich ein komplexes bürokratisches Prüfverfahren entwickelte, in dem die NS-Vergangenheiten einzelner Personen individuell geprüft und zahllose Entlassungen in Abwägung der jeweiligen Umstände des Falles wieder zurückgenommen wurden, lag, wie die Historikerin Hanne Leßau in einem neuen Buch zeigt, vor allem an den Deutschen. Für sie stand mit dem Fokus auf Mitgliedschaften nämlich etwas zur Disposition, das die anderen alliierten Maßnahmen zur Vergangenheitsbewältigung umgingen: die persönliche Rolle im Nationalsozialismus, was das Bedürfnis nach Erklärungen und Rechtfertigungen aufwarf. Schon in der Entnazifizierung trieb der Fokus auf NS-Mitgliedschaften damit die Konkretisierung der abstrakten Debatten um die nationalsozialistische Vergangenheit an und machte die Personalüberprüfung zu einem Ort, an dem intensiv über die „Haltung“ einzelner Personen zum Nationalsozialismus gestritten wurde. Gleiches galt für die folgenden Jahrzehnte, in denen der Blick auf Mitgliedschaften maßgeblich dazu beitrug, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Streit über einzelne Personen zu konkretisieren. An den Universitäten etwa war es Mitte der 1960er Jahre der Student Rolf Seeliger, der Professoren in der ganzen Bundesrepublik mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontierte und sie zur Stellungnahme zu ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus herausforderte.

Martin Kippenberger, „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken“, 1984; Quelle: glenstone.org
Zugleich trug diese Suche nach den Nazis in der bundesrepublikanischen Gegenwart aber auch ein Geschichtsbild weiter, das für „den Nationalsozialismus“ eben „die Nazis“ verantwortlich machte: Wer kein „Nazi“ gewesen war, hatte sich auch nichts vorzuwerfen. Auch apologetische Vergangenheitsdeutungen der 1950er und 1960er Jahren kreisten so um Erklärungen für Mitgliedschaften und Ämter in NS-Organisationen, mit denen sogenannt „belastete“ Personen zu versichern suchten, dass sich in ihnen keine politische „Haltung“ ausgedrückt habe. Was jemand im Nationalsozialismus konkret getan hatte, spielte demgegenüber ebenso wenig eine Rolle wie die institutionellen Verstrickungen von Behörden und anderen Organisationen.
In der aufklärerischen Suche nach „den Nationalsozialisten“ wiederholte man damit jene „Individualisierung des Faschismusproblems“, das der Historiker Lutz Niethammer bereits in den 1970er Jahren als Grundfehler der Entnazifizierung benannt hat, und die auch heute noch das Zählen von Nationalsozialisten prägt. Insofern ist es durchaus erstaunlich, dass Ministerien, Behörden und andere Einrichtungen glauben, gerade mit den Zahlen zu den NS-Mitgliedschaften ihres Personals kritisches historisches Bewusstsein zeigen zu können. Denn ganz in dieser Tradition werden „Belastungen“ ausschließlich bei einzelnen nominell „nationalsozialistischen“ Mitarbeitern, nicht aber in den Institutionen selbst festgemacht. Was sich aus einer solchen Perspektive und zu einem Zeitpunkt, da alle „belasteten“ Personen schon lange nicht mehr auf ihren Positionen arbeiten, heute für „Gegenwart und Zukunft“ etwa von Universitäten „lernen“ lassen soll, ist nicht zu erkennen.
Klügere Fragen
Dabei weiß es die historische Forschung schon lange besser, gerade durch die intensiven Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Vor ihrem Hintergrund hat der Historiker Lutz Raphael bereits vor zwei Jahrzehnten gefordert, den klassischen Interpretationsrahmen einer ideologischen Durchdringung des Wissenschaftssystems durch „die Nationalsozialisten“ zu überdenken. Stattdessen müsste die breite „Selbstmobilisierung“ der Wissenschaft und das „Engagement“ zahlloser Forscher in den Mittelpunkt gestellt werden, mit dem wissenschaftliche Forschung und politische Betätigung, so die Pointe von Raphaels Überlegungen, nicht mehr als zwei getrennte Bereiche begriffen werden können. Gerade die Verbreitung ideologischer Kategorien durch das NS-Regime, die älteren Forschungen als Beleg für die Beeinflussungen „von oben“ galt, habe tatsächlich eine umfassende Mobilisierung „von unten“, das heißt aus den Wissenschaften selbst, vorangetrieben. Die Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung habe so ein Diskussionsfeld geöffnet, mit dem wissenschaftliche Forschung aktiviert und zum Teil politischer Ideologieproduktion gemacht worden sei – unabhängig davon, welchen NS-Organisationen einzelne Wissenschaftler angehörten oder nicht.
Analoges ließe sich für andere Institutionen sagen. Der Blick auf die mobilisierende Kraft des Nationalsozialismus und auf die Selbstmobilisierung ganz unterschiedlicher Teile der deutschen Gesellschaft hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Mit ihm begreift die historische Forschung die NS-Herrschaft inzwischen als „Beteiligungsdiktatur“, die durch zahlreiche Akteure, nicht nur „Nationalsozialisten“ oder Partei- und Herrschaftsorganisationen, geprägt und geformt wurde. Vor diesem Hintergrund lassen sich „Belastungen“ nach 1945 nicht mehr sinnvoller als Anzahl der „Nazis“ im leitenden Personal der Bundesrepublik denken. Zu klären wäre vielmehr, wie sich etwa die enge Verflechtung von Forschung und Politik in der akademischen Praxis von Lehre und Forschung an den Universitäten bis 1945 niederschlug und inwieweit sich diese Praxis auch in der Bundesrepublik fortsetzte. Wo wurden Forschungsvorhaben über die Zäsur 1945 fortgesetzt? Was passierte in der Bundesrepublik mit Wissensbeständen aus dem Nationalsozialismus, die mit nun problematischen Kategorien gewonnen worden waren? Welche Kategorien galten nun als „weltanschaulich“, welche weiterhin als „wissenschaftlich“? Was fand Eingang in den Wissenskanon der jungen Bundesrepublik und wie setzten sich in ihm die Ausschlüsse fort, die etwa durch die Entlassungen jüdischer Wissenschaftler geschaffen worden waren? Wie veränderten sich Lehre und akademische Selbstorganisation in den 1950er Jahren? Und wie die Strategien der Kommunikation von Forschungsergebnissen gegenüber Politik und Öffentlichkeit?
In manchen Aufarbeitungsprojekten, die ja stets weitaus mehr Ergebnisse produziert haben als die ausgestellten Zahlenwerte, sind durchaus entsprechende Perspektiven eingeschlagen worden. Doch den Weg in die allgemeine Öffentlichkeit haben sie kaum gefunden. Dies liegt auch daran, dass Historiker:innen ihren Auftraggebern immer wieder den Gefallen getan haben, die recherchierten Zahlen selbst als „unerwartet“ zu bezeichnen. Besser wäre es, sie von Beginn an als jene unsinnige Zweiundvierzig zu betrachten, mit der Douglas Adams so bildlich beschrieb, dass sich wissenschaftliches Arbeiten nicht in exakten Ergebnissen erschöpft, sondern mindestens ebenso sehr darin besteht, die richtigen Fragen zu stellen. Um die exakte Formulierung der „Frage aller Fragen“ zu finden, müssen die Wissenschaftler im Roman einen noch besseren Supercomputer zu Rate ziehen. Die Aufarbeitungsprojekte sind hier in einer glücklicheren Position, weil Historiker:innen auch ohne fremde Hilfe klügere Fragen zur Belastungsgeschichte der jungen Bundesrepublik stellen können. Mit ihnen ließe sich vielleicht auch das öffentliche Interesse an der Aufarbeitung von Ministerien, Behörden und anderen Institutionen dazu nutzen, einen klügeren Modus der institutionellen Geschichtsaufklärung zu etablieren. Die derzeit an verschiedenen Universitäten laufenden Aufarbeitungsprojekte wären dafür eine gute Gelegenheit.