Was sind die Grundlagen eines politischen Systems? Nach dem Sturz von Saddam Hussein sollte die Teilung der Macht zwischen Schia und Sunna dem Irak Frieden und Demokratie garantieren. Doch seither dominieren Krieg und Terror.

  • Christian Wyler

    Christian Wyler studierte Neuste Geschichte und Islamwissenschaft und wurde 2022 an der Universität Bern mit einer Arbeit über die Konfessionalisierung im Irak nach 2003 promoviert. Von 2019 bis 2023 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forum Islam und Naher Osten (FINO) der Universität Bern.

Vor zwanzig Jahren, am 20. März 2003, eröff­nete eine US-amerikanisch geführte Mili­tär­ko­ali­tion den Krieg gegen den Irak. Die Bilder von Explo­sionen und Feuer­bällen zwischen den nächt­li­chen Gebäu­de­sil­hou­etten Bagdads wurden rasch verdrängt von Sieger­posen und Schul­ter­klopfen: Bereits am 1. Mai erklärte der dama­lige US-Präsident George W. Bush den Krieg für beendet und verkün­dete von einem Flug­zeug­träger aus: „Mission erfüllt“.

Doch der vermeint­lich erfolg­reiche Einmarsch entpuppte sich in den folgenden Jahren als Desaster histo­ri­schen Ausmaßes. Das Land versank in Krieg, Regie­rungs­ver­sagen und Korrup­tion. Es ist schwierig zu bezif­fern, wie viele Opfer die Gewalt im Irak seither gefor­dert hat. Das Projekt „Iraq Body Count“ geht von aktuell über 200’000 zivilen Opfern aus. Eine andere Studie sah bereits Mitte 2006 die Zahl von 600’000 Gewalt­op­fern überschritten.

Die Mär vom „tausend­jäh­rigen Krieg“

Als Grund für die Gewalt wird oft auf die beiden großen isla­mi­schen Konfes­sionen Schia und Sunna verwiesen, die im Irak einen reli­giösen Konflikt austragen würden. Dieser „reiche Jahr­tau­sende zurück“, meinte 2016 der dama­lige US-Präsident Barak Obama. Diese Erklä­rung, so oft und promi­nent sie auch ange­führt wird, ist falsch. Sie gründet auf der Vorstel­lung, dass ein Staat mit einer konfes­sio­nell und ethnisch hete­ro­genen Bevöl­ke­rung zwangs­läufig anfällig für Konflikte ist. Gemäß diesem Bild sind Menschen durch ihre Reli­gion deter­mi­niert: Ein Schiit ist in erster Linie Schiit, und diese Zuge­hö­rig­keit wird alle seine Entschei­dungen bestimmen. Doch die jüngsten Konflikte im Irak wurzeln nicht in jahr­tau­sen­de­alten Feind­schaften. Sie sind ein Produkt der Gegen­wart, des gewal­tigen poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Umbruchs, den das Land seit dem Regime­wechsel von 2003 durch­läuft. Sie sind Teil eines Aushand­lungs­pro­zesses, bei dem verschie­denste Akteure um das poli­ti­sche System ringen – darum, wie der Irak künftig als Staat ausge­staltet sein soll.

Der Irak stand nach dem Sturz Saddam Huss­eins vor einer doppelten Heraus­for­de­rung: Einen Staat neu aufzu­bauen, ohne dabei auf etablierte Struk­turen zurück­greifen zu können, und die gesell­schaft­li­chen Grund­lagen fest­zu­legen, auf die sich dieser Staat stützen sollte. Denn als nach Jahr­zehnten der Diktatur das alte Regime inner­halb kürzester Zeit zusam­men­brach, gab es im Irak keine funk­tio­nie­rende Zivil­ge­sell­schaft. Die poli­ti­schen Parteien, die aus dem Exil zurück­kehrten, waren in der Bevöl­ke­rung wenig veran­kert. Im Irak waren die global aktu­ellen Fragen um die Legi­ti­ma­tion einer Demo­kratie wie unter dem Brenn­glas zu beobachten.

Demo­kratie für den Irak – aber was für eine?

Eine Demo­kratie zu errichten war für die USA das letzte verblie­bene Argu­ment, um die Inva­sion zu recht­fer­tigen – nachdem sich weder Massen­ver­nich­tungs­waffen noch Hinweise auf Verbin­dungen des alten Regimes zum inter­na­tio­nalen Terro­rismus hatten finden lassen.

Da der Irak in den Augen der US-Verwaltung durch den „ewigen“ Krieg zwischen Schia und Sunna geprägt war, bestand für sie kein Zweifel daran, wie das neue System aufge­baut werden musste: Die poli­ti­sche Macht sollte gerecht zwischen Sunnit:innen, Schiit:innen, Kurd:innen sowie verschie­denen ethni­schen und reli­giösen Minder­heiten verteilt werden, entspre­chend ihren Anteilen in der Bevöl­ke­rung. Nur so könne ein fried­li­ches Zusam­men­leben der verschie­denen Gruppen garan­tiert werden.

Damit erhielt die Zuge­hö­rig­keit zu einer Bevöl­ke­rungs­gruppe den Vorrang vor anderen Ebenen der Reprä­sen­ta­tion – insbe­son­dere vor konkreten poli­ti­schen Inhalten. Schia und Sunna waren die bestim­menden Kate­go­rien, während poli­ti­sche Ausrich­tungen und Visionen kaum eine Rolle spielten. Dementspre­chend waren im Über­gangsrat, den die US-Verwaltung einsetzte, für die Schia am meisten Sitze reser­viert. Darauf folgten die sunnitisch-arabischen, dann die kurdi­schen Vertreter:innen und schließ­lich verschie­dene Minderheiten.

Auch die neue iraki­sche Verfas­sung, die von diesem Rat erar­beitet wurde, orien­tiert sich an diesen verschie­denen Bevöl­ke­rungs­gruppen. Der Irak wird darin als Einheit seiner verschie­denen „ethni­schen und reli­giösen Teile“ beschrieben, die alle am neuen System Anteil haben sollten. Nie zuvor war im Irak die konfes­sio­nelle oder ethni­sche Zuge­hö­rig­keit derart positiv in Wert gesetzt worden.

Es war aber nicht so, dass sich nur die US-amerikanische Verwal­tung an der Eintei­lung der iraki­schen Bevöl­ke­rung in Schia und Sunna orien­tiert und dem Irak ein entspre­chendes poli­ti­sches System aufge­zwungen hätten. Auch die schii­ti­schen Parteien waren konfes­sio­nell ausge­richtet. Sie bean­spruchten, die schii­ti­sche Bevöl­ke­rungs­mehr­heit zu reprä­sen­tieren und posi­tio­nierten sich auf diese Weise als Zentrum des neuen Systems.

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Wider­stand gegen die neue Regierung

Die US-amerikanische Besat­zung und die neue iraki­sche Regie­rung stießen umge­hend auf bewaff­neten Wider­stand. Dieser war unter anderem eine Reak­tion auf einige schwer­wie­gende stra­te­gi­sche Fehler, die die US-Verwaltung nach der Inva­sion beging. Der gravie­rendste war ihr Umgang mit Ange­hö­rigen des früheren Regimes. Die Über­gangs­ver­wal­tung hatte die iraki­sche Armee aufge­löst und damit zahl­reiche, vor allem sunni­ti­sche Soldaten und höhere Kader ihrer Exis­tenz­grund­lage beraubt. Auch die soge­nannte De-Baathifizierung, in deren Rahmen Ange­hö­rige der Baath-Partei aus dem Verwal­tungs­ap­parat entfernt wurden, erlebte die sunni­ti­sche Bevöl­ke­rung als Sieger­justiz der schii­ti­schen Parteien. Der Zulauf zu Wider­stands­gruppen und ultra­is­la­mi­schen Kampf­bünden, unter denen sich al-Qaida im Irak (AQI) bald mit beson­derer Bruta­lität hervortun sollte, war beträcht­lich. Kaum war der Krieg offi­ziell beendet, kam es im August 2003 zu den ersten großen Spreng­stoff­an­schlägen. Es war der Auftakt zum Bomben­terror der kommenden Jahre.

Aber auch längst nicht alle Schiit:innen feierten die Ameri­kaner als Befreier. So wurde etwa der junge Muqtada al-Sadr, Sohn eines 1999 vom Regime ermor­deten einfluss­rei­chen Geist­li­chen, zur prägenden Figur des schii­ti­schen Wider­stands. Er profierte von der Popu­la­rität seines Vaters und verfügte mit seiner Mahdi-Armee über eine schlag­kräf­tige para­mi­li­tä­ri­sche Einheit. Sadr war, wie bereits sein Vater, den Ameri­ka­nern gegen­über äußerst kritisch einge­stellt und propa­gierte einen konservativ-religiösen Nationalismus.

Dieser umge­hende Wider­stand von schii­ti­scher Seite zeigt, dass die Konfes­sionen zu keinem Zeit­punkt geschlos­sene Blöcke darstellten. Indem sich Sadr für einen über­kon­fes­sio­nellen iraki­schen Wider­stand gegen die Besat­zung einsetzte, posi­tio­nierte er sich explizit gegen die iran­nahen schii­ti­schen Parteien, die mit den US-Truppen zusam­men­ar­bei­teten und vom neuen, konfes­sio­nell orien­tierten System profi­tierten. Der inner­schii­ti­sche Macht­kampf zwischen den Sadristen und den schii­ti­schen Parteien prägt den Irak bis heute.

Noch schwie­riger war die Situa­tion auf sunni­ti­scher Seite. Die sunni­ti­schen Parteien hatten nur wenig Rück­halt in der Bevöl­ke­rung. Es gab weder eine explizit sunni­ti­sche Kollek­tiv­i­den­tität noch die gesamte sunni­ti­sche Bevöl­ke­rung umfas­sende Insti­tu­tionen. Die Sunna musste sich als Konfes­sion erst heraus­bilden – ein Prozess, der auch 20 Jahre nach dem Regime­wechsel noch nicht abge­schlossen ist.

Die Zeit der Betonwände

Ab den ersten Wahlen 2005 domi­nierten die schii­ti­schen Parteien die insti­tu­tio­nelle Politik, die mit dem Sturz des Baath-Regimes aus ihrem jahr­zehn­te­langen Exil zurück­ge­kehrt waren. Bald durch­drangen ihre bewaff­neten Flügel die Sicher­heits­kräfte und terro­ri­sierten die sunni­ti­sche Zivil­be­völ­ke­rung mit Verhaf­tungen, Entfüh­rungen und Folter. Sie machten die Sunniten insge­samt verant­wort­lich für die Spreng­stoff­an­schläge von al-Qaida im Irak (AQI) und anderen Kampf­bünden gegen die schii­ti­sche Zivil­be­völ­ke­rung. AQI verfolgte mit diesen Anschlägen erklär­ter­maßen die Stra­tegie, schii­ti­sche Gegen­ge­walt zu provo­zieren und so einen offenen Krieg zwischen Schia und Sunna herbeizuführen.

Dieses Ziel wurde im Februar 2006 erreicht. Der Anschlag auf den Askari-Schrein in Samarra, eine der bedeu­tendsten schii­ti­schen reli­giösen Stätten Iraks, löste eine Welle der Gewalt gegen die sunni­ti­sche Bevöl­ke­rung aus. Was folgte, wurde fortan als „konfes­sio­neller Bürger­krieg“ bezeichnet: 2006 und 2007 forderte die Gewalt jeden Monat hunderte, manchmal tausende Todes­opfer. Sie vertiefte die konfes­sio­nellen Gräben und erzeugte Hass zwischen Menschen, die sich noch wenige Jahre zuvor ihrer konfes­sio­nellen Zuge­hö­rig­keit kaum bewusst gewesen waren. Meter­hohe Beton­wände, die vor Anschlägen schützen sollten, trennten die verschie­denen Stadt­teile Bagdads und wurden zu Symbolen der Spaltung.

Die Sunnit:innen wenden sich ab

2008 ebbte die Gewalt ab. Neben einer massiven Aufsto­ckung der US-Truppen war es vor allem eine neu geschmie­dete Koali­tion aus sunni­ti­schen Stämmen, deren bewaff­nete Einheiten gegen die sunni­ti­schen Extre­misten vorgingen und so die Gewalt eindämmten.

Doch die poli­ti­sche Elite ging fahr­lässig mit der erreichten Stabi­li­sie­rung um. Im konfes­sio­nellen System waren Alli­anzen im Parla­ment kaum an gemein­same poli­ti­sche Inhalte geknüpft. So verkam die Koali­ti­ons­bil­dung nach den Parla­ments­wahlen von 2010 zum Posten­scha­cher, das poli­ti­sche System blieb mona­te­lang blockiert. Hinzu kam, dass Premier­mi­nister Nuri al-Maliki sich zudem zuse­hends auto­ritär gebär­dete. Er instru­men­ta­li­sierte die Justiz, um gegen poli­ti­sche Gegner vorzu­gehen und ließ promi­nente sunni­ti­sche Poli­tiker unter dem Vorwurf früherer Baath-Verbindungen und Terro­ris­mus­un­ter­stüt­zung verhaften.

Die Bagdader Macht­kämpfe führten zu regie­rungs­kri­ti­schen Protesten in der sunni­ti­schen Provinz Anbar. Als Sicher­heits­kräfte die Demons­tra­tionen gewaltsam unter­drückten, fühlte sich die sunni­ti­sche Bevöl­ke­rung endgültig vom neuen Irak ausge­schlossen. Bezeich­nend dafür waren die Aussagen von Demonstrant:innen, man habe kein grund­sätz­li­ches Problem mit einem schii­ti­schen Premier­mi­nister, aber man habe eines mit diesem spezi­fi­schen, Nuri al-Maliki, der die sunni­ti­sche Bevöl­ke­rung unter­drücke. Die Hoff­nung auf eine Verbes­se­rung des 2003 etablierten Systems waren bitter enttäuscht worden.

„Kalifat“ statt Irak: Der IS

Es war diese Enttäu­schung, die zahl­reiche Sunnit:innen dazu brachte, Anfang 2014 den Vormarsch des ultra­is­la­mi­schen Kampf­bundes „Isla­mi­scher Staat im Irak und der Levante“, (ISIL, später nur noch „Isla­mi­scher Staat“, IS) zu begrüßen. Der IS hatte es sich zum Ziel gesetzt, die bestehenden natio­nal­staat­li­chen Grenzen aufzu­heben und, wie es seine Propaganda-Abteilung nannte, statt­dessen ein „Kalifat“ zu errichten. Es war das bislang radi­kalste Gegen­mo­dell zum poli­ti­schen System nach 2003.

Selbst für den gewalt­ge­plagten Irak stellte das Vorgehen des IS eine neue Dimen­sion der Bruta­lität dar. Der IS insze­nierte seine Gewalt propa­gan­dis­tisch und verbrei­tete Aufnahmen von Enthaup­tungen, Kreu­zi­gungen und gar Verbren­nungen. Gegen die jesi­di­sche Bevöl­ke­rung verübten sie ein Genozid, Frauen und Mädchen gerieten zu Tausenden in die Skla­verei. Doch der Haupt­feind des IS – daran ließ seine Propa­ganda keinen Zweifel – war die Schia. Der IS war ange­treten, um die Muslime in einem welt­weiten Kalifat zu vereinen – doch seine Vorstel­lung von Einheit grün­dete auf konfes­sio­neller Gewalt.

„Volk“ gegen „Staat“

Trotz des Sieges über den IS im Dezember 2017 nahm auch in den schii­ti­schen Gebieten die Unzu­frie­den­heit mit der Regie­rung zu. Der Leis­tungs­aus­weis der schii­ti­schen Parteien in Bagdad war kata­stro­phal. Die Infra­struktur lag am Boden, beson­ders im Süden des Landes funk­tio­nierte nicht einmal mehr die Trink­was­ser­ver­sor­gung. Da die Parteien jenseits der konfes­sio­nellen Reprä­sen­ta­tion kaum Inhalte zu bieten hatten, fehlte es ihnen auch an Stra­te­gien, um mit diesen Heraus­for­de­rungen umzu­gehen. Die gras­sie­rende Korrup­tion erschwerte die Situa­tion zusätzlich.

Im Oktober 2019 begannen in Bagdad und den südli­chen Landes­teilen Massen­pro­teste, die eine grund­le­gende Verän­de­rung des poli­ti­schen Systems forderten. Insbe­son­dere die schii­ti­sche Jugend, darunter viele Frauen, gingen auf die Straße, wütend über ihre wirt­schaft­liche Misere und beruf­liche Perspek­tiv­lo­sig­keit. Die Proteste wurden in allen Landes­teilen und durch alle Bevöl­ke­rungs­schichten hindurch unter­stützt, zivil­ge­sell­schaft­liche Gruppen und einige klei­nere Parteien soli­da­ri­sierten sich mit den Demonstrant:innen und betei­ligten sich an den Protesten.

Die Protest­camps wurden zu Diskus­si­ons­foren. Poli­ti­sche Fragen, aber auch gesell­schaft­liche Themen und beson­ders die Stel­lung von Frauen in der iraki­schen Gesell­schaft, wurden in eigens dafür gedruckten Zeitungen eifrig debat­tiert. Konser­va­tive Posi­tionen waren dabei ebenso vertreten wie progres­sive. So viel­fältig ihre Ansichten auch waren, in einem waren sich die Menschen einig: Der „Konfes­sio­na­lismus“ und jegliche auf Zuge­hö­rig­keit basie­renden Quoten sollten abge­schafft werden. Der Unter­schei­dung in Schia und Sunna hielten die Demonstrant:innen die Eintei­lung in „Staat“ und „Volk“ entgegen – ein verei­nigtes „Volk“, das den Anspruch auf sein Land erhebt und den „Staat“ auf eine reine Verwal­tungs­funk­tion reduziert.

Doch die Proteste blieben ohne klare Führung und Orga­ni­sa­tion. Gleich­zeitig war die Gewalt gegen die Demons­tra­tionen massiv. Sie ging von den iran­nahen „Haschd“-Milizen aus, einem Konglo­merat aus zeit­weise über sechzig para­mi­li­tä­ri­schen Einheiten, die im Kampf gegen den IS eine bedeu­tende Rolle spielten; ihre Verbände berei­chern sich an Check­points und Grenz­über­gängen und führen gar eigene Gefäng­nisse. Durch die system­kri­ti­schen Proteste sahen die Haschd dieses Erfolgs­mo­dell bedroht, der Iran fürch­tete um seinen Einfluss. Indem sie gegen die Demons­tra­tionen vorgingen und bis heute zivil­ge­sell­schaft­liche Aktivist:innen bedrohen, entführen und ermorden, haben sie klar­ge­macht, dass sie ihre Posi­tion mit Waffen­ge­walt vertei­digen werden.

Die Krise der Reprä­sen­ta­tion und die Suche nach dem Souverän

Bis heute besteht das gemein­same Element der Debatten in der iraki­schen Öffent­lich­keit um die Grund­lagen der Staat­lich­keit darin, dass weit weniger danach gefragt wird, welche poli­ti­schen Werte und Ziele, das heißt „was“ die Grund­lagen des Staates sind, sondern „wer“ diesen reprä­sen­tiert. Umstritten ist, wie dieses „wer“, dieser Souverän, zu beschreiben sei, während „poli­ti­sche“ Inhalte im engeren Sinn und Lösungs­vor­schläge zu konkreten Problemen kaum eine Rolle spielen. Die Suche nach dem „rich­tigen“ Souverän, der „rich­tigen“ Kate­go­ri­sie­rung der Menschen im Irak, ist zum bestim­menden Element der öffent­li­chen Debatte der vergan­genen zwanzig Jahre geworden. Weder die US-amerikanische Verwal­tung noch die verschie­denen iraki­schen Akteure haben seither eine Alter­na­tive dazu gelie­fert. Die Gewalt, die Schwäche des Staates und dessen Ableh­nung in weiten Teilen der Bevöl­ke­rung zeigen: Geschei­tert ist die Idee, Politik entlang der Zuge­hö­rig­keit zu einer Bevöl­ke­rungs­gruppe zu organisieren.

Die Dynamik dieser Entwick­lungen offen­barte sich jüngst im kurdisch verwal­teten Teil des Iraks. Während die eigene Unab­hän­gig­keit jahr­zehn­te­lang als oberstes Ziel der kurdi­schen Bevöl­ke­rungs­gruppe galt, hat eine aktu­elle Umfrage Erstaun­li­ches ergeben: Eine Mehr­heit der Befragten glaubt, es würde den Menschen in Kurdi­stan besser gehen, wenn das Gebiet statt der kurdi­schen Selbst­ver­wal­tung der Regie­rung in Bagdad unter­stellt würde – derart desil­lu­sio­niert ist die Bevöl­ke­rung ange­sichts des auto­ri­tären Geba­rens und der Korrup­tion der kurdi­schen poli­ti­schen Elite. Wie auch in der rest­li­chen iraki­schen Öffent­lich­keit, hat selbst im kurdi­schen Kontext die Orien­tie­rung an ethni­scher Zuge­hö­rig­keit an Glanz verloren. Die Vorstel­lung des Staates als Reprä­sen­ta­tion einer ethnisch oder konfes­sio­nell defi­nierten Nation neigt sich ihrem Ende entgegen.

Dieser Text erscheint in Koope­ra­tion mit dem Blog der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft Mitt­lerer Osten und Isla­mi­sche Kulturen (SGMOIK).