Forschung drängt voran. Auch wenn in Zeiten irreversiblen ökologischen Wandels und kumulierender Krisen eine ungebrochene Fortschrittsrhetorik in Misskredit gerät, sind Zukunftsfähigkeit und Innovation doch weiterhin die Schlagworte der Wissenschaftspolitik. In der Rede der deutschen Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger zur Haushaltsdebatte 2022 jagen sich die Metaphern der Beschleunigung, des Wachstums, der Optimierung und Effizienz geradezu:
Wir machen Tempo bei Forschung und Innovation, damit wir unabhängiger werden von Rohstofflieferanten, souveräner bei den Technologien – auch für mehr Nachhaltigkeit. … Wir müssen schneller von unserer hervorragenden Grundlagenforschung zu hervorragenden neuen Produkten kommen. Deswegen schaffen wir die ‚Deutsche Agentur für Transfer und Innovation‘, für deren Start in diesem Jahr 15 Millionen Euro vorgesehen sind. Seien Sie versichert: Das wird mehr.
Die finanzielle Grundausstattung der Universitäten deckt vielerorts nicht einmal die Instandhaltung der materiellen Infrastruktur, dazu kommen inflationsbedingte Budgetreduktionen, politische Einsparauflagen und steigende Energiekosten – es muss gespart werden, aber Stillstand oder gar Rückschritt kommen nicht in Frage. Die Bildlichkeit der Steigerung und des Zuwachses prägt dabei die Forschungsdebatte insgesamt – auch geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen, die sich kritische Reflexion eher denn dynamische Progression zum Ziel setzen, gestalten Methodendebatten und Selbstbeschreibungen in einer antragsaffinen Überbietungsrhetorik und in der tendenziell triumphalistischen Begrifflichkeit von Paradigmen, turns und Umbrüchen – unermüdlich auf der Suche nach dem nächsten großen Ding.
Ein fehlgeleitetes Produktivitäts- und Wachstumsparadigma
Die Vorstellung von Wissenschaft und Forschung als Fortschrittsmotoren ist alles andere als unumstritten, aber mit Gegenbegriffen zum Vokabular der Innovationsfreude und des dynamischen Wettbewerbs tut sich die akademische Welt schwer. Ein Beispiel: Im Frühjahr 2020 rief ich zusammen mit zwei Kolleginnen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften (Andrea Geier und Paula Villa Braslavsky) dazu auf, das anstehende erste Corona-Semester in Deutschland als ‚Nicht-Semester‘ zu führen und die Maschinerie der Prüfungsordnungen, Regelstudienzeiterfassung, Befristungsberechnung und andere Zeiterfassungsmaßnahmen auszusetzen.
Der Aufruf fand in kürzester Zeit 14.000 Unterzeichner*innen und viele unserer Forderungen wurden im Laufe des Sommers umgesetzt. Der Begriff des ‚Nicht-Semesters‘ allerdings stieß routinemäßige Abwehrreaktionen selbst bei denen, die die Forderungen teilten. Schnell kursierten alternative Begriffe: Kreativsemester, Flexi-Semester, Optionalsemester, Nicht-Präsenz-Semester. Nicht-Semester erweckte den Verdacht der Fremdbestimmtheit und des Stillstands, des Innehaltens und des Aussetzens – womit ironischerweise die herausragenden Effekte der Pandemie nicht nur auf die Arbeit der Hochschulen ganz gut beschrieben wären. Der Negativität des Nichts begegnete das Bestreben, die Kontrolle über eine Situation wenigstens performativ zu behaupten.
Seit dem Sommer 2020 reiht sich Krise an Krise, man kann von einem permanenten Ausnahmezustand sprechen, also einer Verdauerung der Zustände von Unsicherheit und Ungewissheit, auf die unser Aufruf reagierte. Es ist an der Zeit, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie sich Veränderung und Wandel ohne den reflexhaften Verweis auf ein „Voran“ denken lassen. Welche Rolle spielen eigentlich Rückwärtsbewegungen für die Wissenschaft? Entschleunigung, de-growth, Nachhaltigkeit, das sind programmatische Ansagen, die sich in die Rhetorik der Optimierung einbringen lassen – aber Rückständigkeit? Welchen Sinn macht es, rückwärts zu denken?
Benjamins Engel

Paul Klee, Angelus Novus, 1920; Quelle: wikipedia.com
1940, angesichts einer hoffentlich noch größeren politischen und moralischen Krise als der gegenwärtigen, schrieb Walter Benjamin seine Thesen zum Begriff der Geschichte und evozierte dabei einen Ausnahmezustand, der „die Regel ist“. Aus dieser Einsicht, dass das vermeintlich Exzeptionelle, Intermittierende, Katastrophenhafte alles ist, was wir haben, erwuchs das eindrucksvolle Bild vom Engel der Geschichte, der sein „Antlitz der Vergangenheit zugewendet hat“, die sich ihm nicht als „Kette von Begebenheiten“ präsentiert, die in die Gegenwart und Zukunft führen, sondern als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“.
Dieser Engel der Geschichte transformiert nicht triumphalistisch Vergangenheit in Gegenwart, sondern wird von einem Sturm erfasst, der so mächtig „vom Paradiese her“ weht, dass der Engel seine Flügel nicht mehr schließen kann: „Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen,“ schließt Benjamin, „ist dieser Sturm“. Es lohnt sich, dieses vielzitierte Gleichnis noch einmal, gerade heute noch einmal, anzuschauen. Benjamins Engel schaut zurück, aber er sieht keine Kontinuität, aus der sich für die Zukunft lernen lässt, sondern Bruchstücke, Trümmer. Die uneinholbare, vielleicht fantastische Perfektion liegt am Anfang – im Paradies. Die Zukunft aber ist radikal offen und unsichtbar.
In geschichtsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Reflexionen wird dieses Gedankenbild der Rückwärtsgewandtheit oft aufgegriffen, um die Vorstellung von der Vergangenheit als Lehrstück für die Zukunft, als ‚usable past‘, zu problematisieren. Die queere Theoretikerin Heather Love verwies in ihrem Buch Feeling Backwards auf Benjamins Aufsatz und auf Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung als Schlüsseltexte einer Literatur der Rückwärtigkeit (backwardness), die die Engführung der Moderne auf eine steuerbare Vorwärtsbewegung in Frage stellen. Für Love eröffnet die Trope der Rückwärtigkeit den Blick auf Fragen eher denn Antworten, Verletzungen eher denn Therapien und auf die negativen Gefühle von Scham, Selbsthass oder Verzweiflung, die in eine queere Geschichte (auch) eingeschrieben sind. Analog dazu blicken Wissenschaftler*innen der Critical Race Studies wie Saidiya Hartman oder Christina Sharpe auf die Vergangenheit nicht als Archiv, das Lösungen für die Probleme der Zukunft anbietet, sondern als Konglomerat von unwiderruflichen Auslöschungen und Leerstellen; als Terrain, das durch die historische Annäherung als Trümmerfeld ausgelotet und markiert, nicht hergerichtet und aufgearbeitet werden sollen. Auch die kritischen Interventionen von Eco-Critics wie Amitav Ghosh oder Robin Wall Kimmerer verweisen auf die Notwendigkeit, die ökologischen und politischen Krisen der Gegenwart – Klimawandel, Pandemie, globale territoriale und ethnische Konflikte – nicht auf die Zukunft zu projizieren, sondern als Vergangenheitseffekte zu lesen, die Rückwärtsbewegungen in der Reflexion und in der Praxis erfordern.
All diese Ansätze widersetzen sich der Anmutung der intellektuellen Aufrüstung, der Beherrschung des Wissens und seiner Anwendung für die Gegenwart und Zukunft, und plädieren stattdessen für die Sichtung dessen, was von der Vergangenheit übrig ist, für ein Zurück zu Wissensbeständen, die vergessen oder verdrängt wurden, und für eine Konzeptualisierung von Wissen als einem Netzwerk, das von vielfältigen Akteuren – organisch und mechanisch, natürlich und künstlich, sozial und kosmisch – bestimmt wird, unter denen Menschen nur eine nachgeordnete Rolle spielen.
Der Charme der Backwardness
Der Begriff der Rückständigkeit eignet sich nicht für programmatische Ansagen, er ist kein Gegenbegriff zum ‚Voran!‘ der Wissenschaftspolitik. Aber vielleicht ist er genau deshalb so interessant. In seiner Negativität sperrt sich der Begriff offensichtlich gegen das Optimierungsideal der Moderne, er eröffnet – ähnlich wie Nicht-Semester – ein Gegenmodell zu der Agenda der Überwindung und zum Impuls der lösungsorientierten Vorwärtsbewegung im Sinne von technologischen und konzeptuellen fixes. Das ist sicherlich ein Grund, warum die Modi der backwardness aktuell von den wissenschaftlichen Diskursfeldern reklamiert werden, die sich im Spannungsverhältnis oder im kritischen Widerstand zum etablierten akademischen und politischen Diskurs begreifen: Critical Race Studies, Eco-Criticism, Queer Studies, Decolonial Critique. Es geht ausdrücklich nicht um einen backward turn, eine derartig programmatische Lesart der Denkfigur wäre geradezu absurd. Der Blick auf die Vergangenheit nicht als Kompendium von Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft, sondern als Trümmerfeld und Schutthalde im Sinne Walter Benjamins eröffnet die Perspektive für eine Forschung der Rückbesinnung und der Sichtung, deren Impulse nicht nur Neugier, Zuversicht und Experimentierfreude sind, sondern auch Scham und Trauer, Wut und Zweifel.
Eine solche Forschung drängt nicht voran, sondern hält inne und wägt ab, sie anerkennt, dass Wissen sich aus Scheitern ebenso wie aus Erfolgen generiert und sie bewegt sich durch die zersiedelten Landschaften der Vergangenheit nicht, um Ressourcen für eine Zukunft zu erschließen, die sich linear aus der Gegenwart ergibt. Solch ein Verständnis von Forschung entspricht allerdings so wenig unserem Zeitgeist, dass es vermutlich in den Bereich des utopischen Denkens fällt – und damit Gefahr läuft, bei aller Rückwärtsgewandtheit als futuristisch verbucht zu werden.
Technologischer Fortschritt scheint mir ein recht stabiler Vektor zivilisatorischer Entwicklung zu sein. Forschung: Themen, Richtung, Intensität, „Erfolg“ unterliegen den jeweiligen gesellschaftlichen Prioritäten, die von den Eliten v.a. in Politik und Wirtschaft unter Konkurrenzbedingungen mit je anderen Gesellschaften gesetzt werden. Backwerdness könnte unter 2 Bedingungen gelingen: 1. Es gibt eine globale Vereinbarung darüber. 2. Einzelne Zivilisationen, Staaten, Staatsgemeinschaften versprechen sich einen Konkurrenzvorteil davon. Ersteres ist grade gar nicht abzusehen. Das Zweite spielte sich im realen globalen Konkurrenzgemisch ab – mit dem Ziel eigener Dominanz über „Verlierer“. Das alte Spiel, das gerade die menschliche Zivilisation als Ganze brüchig erscheinen lässt. Backwardness kann… Mehr anzeigen »