„Wir machen Tempo!“ Muss es eigentlich immer voran gehen, immer schneller? Plädoyer für ein neues Denken von Wandel und Wissen in Krisenzeiten

  • Ruth Mayer

    Ruth Mayer ist Professorin für Amerikanistik an der Leibniz Universität Hannover und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien.

Forschung drängt voran. Auch wenn in Zeiten irrever­si­blen ökolo­gi­schen Wandels und kumu­lie­render Krisen eine unge­bro­chene Fort­schritts­rhe­torik in Miss­kredit gerät, sind Zukunfts­fä­hig­keit und Inno­va­tion doch weiterhin die Schlag­worte der Wissen­schafts­po­litik. In der Rede der deut­schen Wissen­schafts­mi­nis­terin Bettina Stark-Watzinger zur Haus­halts­de­batte 2022 jagen sich die Meta­phern der Beschleu­ni­gung, des Wachs­tums, der Opti­mie­rung und Effi­zienz geradezu:

Wir machen Tempo bei Forschung und Inno­va­tion, damit wir unab­hän­giger werden von Rohstoff­lie­fe­ranten, souve­räner bei den Tech­no­lo­gien – auch für mehr Nach­hal­tig­keit. … Wir müssen schneller von unserer hervor­ra­genden Grund­la­gen­for­schung zu hervor­ra­genden neuen Produkten kommen. Deswegen schaffen wir die ‚Deut­sche Agentur für Transfer und Inno­va­tion‘, für deren Start in diesem Jahr 15 Millionen Euro vorge­sehen sind. Seien Sie versi­chert: Das wird mehr. 

Die finan­zi­elle Grund­aus­stat­tung der Univer­si­täten deckt vieler­orts nicht einmal die Instand­hal­tung der mate­ri­ellen Infra­struktur, dazu kommen infla­ti­ons­be­dingte Budget­re­duk­tionen, poli­ti­sche Einspar­auf­lagen und stei­gende Ener­gie­kosten – es muss gespart werden, aber Still­stand oder gar Rück­schritt kommen nicht in Frage. Die Bild­lich­keit der Stei­ge­rung und des Zuwachses prägt dabei die Forschungs­de­batte insge­samt – auch geistes- und sozi­al­wis­sen­schaft­liche Diszi­plinen, die sich kriti­sche Refle­xion eher denn dyna­mi­sche Progres­sion zum Ziel setzen, gestalten Metho­den­de­batten und Selbst­be­schrei­bungen in einer antrags­af­finen Über­bie­tungs­rhe­torik und in der tenden­ziell trium­pha­lis­ti­schen Begriff­lich­keit von Para­digmen, turns und Umbrü­chen – uner­müd­lich auf der Suche nach dem nächsten großen Ding.

Ein fehl­ge­lei­tetes Produktivitäts- und Wachstumsparadigma

Die Vorstel­lung von Wissen­schaft und Forschung als Fort­schritts­mo­toren ist alles andere als unum­stritten, aber mit Gegen­be­griffen zum Voka­bular der Inno­va­ti­ons­freude und des dyna­mi­schen Wett­be­werbs tut sich die akade­mi­sche Welt schwer. Ein Beispiel: Im Früh­jahr 2020 rief ich zusammen mit zwei Kolle­ginnen aus den Geistes- und Sozi­al­wis­sen­schaften (Andrea Geier und Paula Villa Bras­lavsky) dazu auf, das anste­hende erste Corona-Semester in Deutsch­land als ‚Nicht-Semester‘ zu führen und die Maschi­nerie der Prüfungs­ord­nungen, Regel­stu­di­en­zeit­er­fas­sung, Befris­tungs­be­rech­nung und andere Zeit­er­fas­sungs­maß­nahmen auszusetzen.

Der Aufruf fand in kürzester Zeit 14.000 Unterzeichner*innen und viele unserer Forde­rungen wurden im Laufe des Sommers umge­setzt. Der Begriff des ‚Nicht-Semesters‘ aller­dings stieß routi­ne­mä­ßige Abwehr­re­ak­tionen selbst bei denen, die die Forde­rungen teilten. Schnell kursierten alter­na­tive Begriffe: Krea­tiv­se­mester, Flexi-Semester, Optio­nal­se­mester, Nicht-Präsenz-Semester. Nicht-Semester erweckte den Verdacht der Fremd­be­stimmt­heit und des Still­stands, des Inne­hal­tens und des Ausset­zens – womit ironi­scher­weise die heraus­ra­genden Effekte der Pandemie nicht nur auf die Arbeit der Hoch­schulen ganz gut beschrieben wären. Der Nega­ti­vität des Nichts begeg­nete das Bestreben, die Kontrolle über eine Situa­tion wenigs­tens perfor­mativ zu behaupten.

Seit dem Sommer 2020 reiht sich Krise an Krise, man kann von einem perma­nenten Ausnah­me­zu­stand spre­chen, also einer Verdaue­rung der Zustände von Unsi­cher­heit und Unge­wiss­heit, auf die unser Aufruf reagierte. Es ist an der Zeit, grund­sätz­lich darüber nach­zu­denken, wie sich Verän­de­rung und Wandel ohne den reflex­haften Verweis auf ein „Voran“ denken lassen. Welche Rolle spielen eigent­lich Rück­wärts­be­we­gungen für die Wissen­schaft? Entschleu­ni­gung, de-growth, Nach­hal­tig­keit, das sind program­ma­ti­sche Ansagen, die sich in die Rhetorik der Opti­mie­rung einbringen lassen – aber Rück­stän­dig­keit? Welchen Sinn macht es, rück­wärts zu denken?

Benja­mins Engel

Paul Klee, Angelus Novus, 1920; Quelle: wikipedia.com

1940, ange­sichts einer hoffent­lich noch größeren poli­ti­schen und mora­li­schen Krise als der gegen­wär­tigen, schrieb Walter Benjamin seine Thesen zum Begriff der Geschichte und evozierte dabei einen Ausnah­me­zu­stand, der „die Regel ist“. Aus dieser Einsicht, dass das vermeint­lich Exzep­tio­nelle, Inter­mit­tie­rende, Kata­stro­phen­hafte alles ist, was wir haben, erwuchs das eindrucks­volle Bild vom Engel der Geschichte, der sein „Antlitz der Vergan­gen­heit zuge­wendet hat“, die sich ihm nicht als „Kette von Bege­ben­heiten“ präsen­tiert, die in die Gegen­wart und Zukunft führen, sondern als „eine einzige Kata­strophe, die unab­lässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“.

Dieser Engel der Geschichte trans­for­miert nicht trium­pha­lis­tisch Vergan­gen­heit in Gegen­wart, sondern wird von einem Sturm erfasst, der so mächtig „vom Para­diese her“ weht, dass der Engel seine Flügel nicht mehr schließen kann: „Der Sturm treibt ihn unauf­haltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trüm­mer­haufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fort­schritt nennen,“ schließt Benjamin, „ist dieser Sturm“. Es lohnt sich, dieses viel­zi­tierte Gleichnis noch einmal, gerade heute noch einmal, anzu­schauen. Benja­mins Engel schaut zurück, aber er sieht keine Konti­nuität, aus der sich für die Zukunft lernen lässt, sondern Bruch­stücke, Trümmer. Die unein­hol­bare, viel­leicht fantas­ti­sche Perfek­tion liegt am Anfang – im Para­dies. Die Zukunft aber ist radikal offen und unsichtbar.

In geschichts­phi­lo­so­phi­schen und wissen­schafts­theo­re­ti­schen Refle­xionen wird dieses Gedan­ken­bild der Rück­wärts­ge­wandt­heit oft aufge­griffen, um die Vorstel­lung von der Vergan­gen­heit als Lehr­stück für die Zukunft, als ‚usable past‘, zu proble­ma­ti­sieren. Die queere Theo­re­ti­kerin Heather Love verwies in ihrem Buch Feeling Back­wards auf Benja­mins Aufsatz und auf Hork­heimer und Adornos Dialektik der Aufklä­rung als Schlüs­sel­texte einer Lite­ratur der Rück­wär­tig­keit (back­ward­ness), die die Engfüh­rung der Moderne auf eine steu­er­bare Vorwärts­be­we­gung in Frage stellen. Für Love eröffnet die Trope der Rück­wär­tig­keit den Blick auf Fragen eher denn Antworten, Verlet­zungen eher denn Thera­pien und auf die nega­tiven Gefühle von Scham, Selbst­hass oder Verzweif­lung, die in eine queere Geschichte (auch) einge­schrieben sind. Analog dazu blicken Wissenschaftler*innen der Critical Race Studies wie Saidiya Hartman oder Chris­tina Sharpe auf die Vergan­gen­heit nicht als Archiv, das Lösungen für die Probleme der Zukunft anbietet, sondern als Konglo­merat von unwi­der­ruf­li­chen Auslö­schungen und Leer­stellen; als Terrain, das durch die histo­ri­sche Annä­he­rung als Trüm­mer­feld ausge­lotet und markiert, nicht herge­richtet und aufge­ar­beitet werden sollen. Auch die kriti­schen Inter­ven­tionen von Eco-Critics wie Amitav Ghosh oder Robin Wall Kimmerer verweisen auf die Notwen­dig­keit, die ökolo­gi­schen und poli­ti­schen Krisen der Gegen­wart – Klima­wandel, Pandemie, globale terri­to­riale und ethni­sche Konflikte – nicht auf die Zukunft zu proji­zieren, sondern als Vergan­gen­heits­ef­fekte zu lesen, die Rück­wärts­be­we­gungen in der Refle­xion und in der Praxis erfordern.

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All diese Ansätze wider­setzen sich der Anmu­tung der intel­lek­tu­ellen Aufrüs­tung, der Beherr­schung des Wissens und seiner Anwen­dung für die Gegen­wart und Zukunft, und plädieren statt­dessen für die Sich­tung dessen, was von der Vergan­gen­heit übrig ist, für ein Zurück zu Wissens­be­ständen, die vergessen oder verdrängt wurden, und für eine Konzep­tua­li­sie­rung von Wissen als einem Netz­werk, das von viel­fäl­tigen Akteuren – orga­nisch und mecha­nisch, natür­lich und künst­lich, sozial und kosmisch – bestimmt wird, unter denen Menschen nur eine nach­ge­ord­nete Rolle spielen.

Der Charme der Back­ward­ness

Der Begriff der Rück­stän­dig­keit eignet sich nicht für program­ma­ti­sche Ansagen, er ist kein Gegen­be­griff zum ‚Voran!‘ der Wissen­schafts­po­litik. Aber viel­leicht ist er genau deshalb so inter­es­sant. In seiner Nega­ti­vität sperrt sich der Begriff offen­sicht­lich gegen das Opti­mie­rungs­ideal der Moderne, er eröffnet – ähnlich wie Nicht-Semester – ein Gegen­mo­dell zu der Agenda der Über­win­dung und zum Impuls der lösungs­ori­en­tierten Vorwärts­be­we­gung im Sinne von tech­no­lo­gi­schen und konzep­tu­ellen fixes. Das ist sicher­lich ein Grund, warum die Modi der back­ward­ness aktuell von den wissen­schaft­li­chen Diskurs­fel­dern rekla­miert werden, die sich im Span­nungs­ver­hältnis oder im kriti­schen Wider­stand zum etablierten akade­mi­schen und poli­ti­schen Diskurs begreifen: Critical Race Studies, Eco-Criticism, Queer Studies, Deco­lo­nial Critique. Es geht ausdrück­lich nicht um einen back­ward turn, eine derartig program­ma­ti­sche Lesart der Denk­figur wäre gera­dezu absurd. Der Blick auf die Vergan­gen­heit nicht als Kompen­dium von Lösungs­mög­lich­keiten für die Zukunft, sondern als Trüm­mer­feld und Schutt­halde im Sinne Walter Benja­mins eröffnet die Perspek­tive für eine Forschung der Rück­be­sin­nung und der Sich­tung, deren Impulse nicht nur Neugier, Zuver­sicht und Expe­ri­men­tier­freude sind, sondern auch Scham und Trauer, Wut und Zweifel.

Eine solche Forschung drängt nicht voran, sondern hält inne und wägt ab, sie aner­kennt, dass Wissen sich aus Schei­tern ebenso wie aus Erfolgen gene­riert und sie bewegt sich durch die zersie­delten Land­schaften der Vergan­gen­heit nicht, um Ressourcen für eine Zukunft zu erschließen, die sich linear aus der Gegen­wart ergibt. Solch ein Verständnis von Forschung entspricht aller­dings so wenig unserem Zeit­geist, dass es vermut­lich in den Bereich des utopi­schen Denkens fällt – und damit Gefahr läuft, bei aller Rück­wärts­ge­wandt­heit als futu­ris­tisch verbucht zu werden.