„Ich habe den Eindruck, wir Deutsche sprechen immer seltener miteinander. Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier wählte durchaus ernste Worte bei seiner jüngsten Weihnachtsansprache, und fuhr in diesem Sinne fort: „Und noch seltener hören wir einander zu. Wo immer man hinschaut, erst recht in den Sozialen Medien: Da wird gegiftet, da ist Lärm und tägliche Empörung.“ Die Gesellschaft „drifte auseinander“, aber „wer gar nicht spricht und erst recht nicht zuhört“, komme „Lösungen kein Stück näher“. So sieht es auch Ueli Maurer, der neue Bundespräsident der Schweiz: In seinem Amtsjahr wolle er „den Leuten zuhören“ und „Vertrauen aufbauen“.
Steinmeier und Maurer sind nicht die einzigen, die das „Zuhören“ anmahnen und vorleben wollen. Der britische Politiker Jeremy Corbyn ließ 2015 kurz nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Labour Party verlauten, er sei überzeugt, dass „Leadership“ darin bestehe, „zuzuhören“, und dass „besseres Zuhören eine grosse verändernde Wirkung in der Politik” haben könne. Die Partei „Die Linke“ zog 2016 in Berlin mit dem Slogan „Zuhören statt Ansagen“ in den Wahlkampf, und die französische Ministerin Agnès Buzyn sagte nach den gewalttätigen Protesten der Gelbwesten im vergangenen Dezember: „Nous devons faire un effort supplémentaire pour écouter“– es brauche jetzt eine besondere Anstrengung, zuzuhören.
Doch es sind nicht nur Politiker, die so sprechen. Heute existiert eine breite Palette an Literatur zum Thema „Zuhören“, von psychologischen Fachbüchern über populäre Ratgeber bis hin zu esoterischen Angeboten. Entsprechend werben auch die Medien vielfach für das „Zuhören“ als Königsweg zur Lösung persönlicher, betrieblicher und gesellschaftlicher Konflikte: „Radio, Fernseher und Telefon ausstellen und dem, dem man zuhören möchte, das Gesicht zuwenden, um zu signalisieren: Ich nur für dich!“, heisst es in einem Artikel in der Zeitschrift Brigitte, und ein Management-Coach empfiehlt aktives Zuhören „gerade bei schwierigen Mitarbeitern“.
Konjunkturen des Zuhörens
Diese mediale Präsenz des „Zuhörens“ ist kein Zufall. Ein Blick in den Google Books Ngram Viewer, der die relative Häufigkeit von einzelnen Worten in Millionen von Büchern misst, offenbart Erstaunliches: Noch nie seit über 200 Jahren, ja seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, war im Deutschen so häufig vom „zuhören“ die Rede und war das „Zuhören“ so oft ein Thema wie heute (die Daten des Ngram Viewers reichen bis 2008).

„zuhören“ (blau), „Zuhören“ (rot), 1750-2008; Quelle: Google Books Ngram Viewer
Warum ist das so? Selbstverständlich haben Menschen einander seit jeher zugehört – oder auch nicht –, aber über das Zuhören musste man offenbar nicht immer in einem solchen Ausmaß sprechen. Die Kurven zeigen, dass im Zeitalter der Aufklärung und der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft das einander Zuhören – aber auch Zuhören in anderer Hinsicht, nämlich das Hören auf das Wort Gottes – tatsächlich ein Thema war. Welche Bedeutungen aber hat das Zuhören seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und speziell den 1960er Jahren, als der bis heute anhaltende Anstieg der Kurven einsetzte?
In der Nachkriegszeit hatten die westlichen Besatzungsmächte die „discussion“ als eine demokratische Technik propagiert, die von den Westdeutschen auch bereitwillig aufgenommen wurde. Diese neue „Diskussionslust“ (N. Verheyen) sollte den Abstand zum Nationalsozialismus markieren und das neue, das demokratische Verständnis des miteinander Sprechens betonen, was selbstredend auch eine andere Idee vom „Zuhören“ miteinschloss.
Am Ende der 1960er Jahre war jedoch mehr gefordert als nur „Diskussion“, wie sie etwa Werner Höfer in seinem berühmten „Internationalen Frühschoppen“ im Fernsehen einmal pro Woche exemplarisch vorführte. Ein prominentes Beispiel für ein neues, auf Partizipation zielendes Verständnis des Zuhörens ist Willy Brandts Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969. Brandt sagte zwar in einer Weise, die uns heute vertraut ist, die „demokratische Ordnung“ brauche „außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen“. Auf diesen Appell an die „Geduld im Zuhören“ folgte aber unmittelbar der berühmte Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“, der das „Zuhören“ in das politische Projekt einbettete, die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürgern zu stärken, konkret etwa durch die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre.
Eng verknüpft mit diesem neuen, partizipativen Verständnis des Zuhörens waren die Aufforderungen, dem „Volk“, den „Armen” oder den „kleinen Leuten“ eine Stimme zu geben, ihnen zuzuhören – und sie nicht nur immer zuhören zu lassen –, wie sie sich ebenfalls seit den späten 1960er Jahren häuften. Nur einen Monat vor Brandts Regierungserklärung sprach Papst Paul VI. zu katholischen Journalisten. Er zitierte einen „modernen Apostel und erfolgreichen Schriftsteller“ mit dem Satz „Ein armer Teufel ist, wer immer nur zuhören muss“, und erläuterte: „das heißt: der, der keine Stimme hat, der sich der Gewalt und der Übermacht dessen unterwerfen muss, der reden und sich bemerkbar machen kann und dadurch Übergewicht gewinnt.“ Der Papst forderte die Journalisten daher auf: „Seien Sie die Stimme der Armen; seien Sie immer die Stimme des Volkes!“
„Einfachen Leuten“, Kindern und Opfern zuhören

Oral History-Interview in der Geschichtswerkstatt Barmbek; Quelle: geschichtswerkstatt-barmbek.de
Der Pressereferent der christdemokratischen Konrad Adenauer Stiftung, der 1974 diese Papstrede zitierte, forderte von der katholischen Publizistik ein „Hinhorchen auf den ‚sprachlosen‘ Zeitgenossen, den ‚kleinen Mann‘“, um „das Sprachlose und den Sprachlosen zum Sprechen [zu] bringen“. In einer damit sehr vergleichbaren Weise begannen jüngere, oft linke HistorikerInnen, in Oral History-Projekten und Geschichtswerkstätten jenen vielen „kleinen Leuten”, die von der dominierenden Politikgeschichte, aber auch von den Sozialhistorikern mit all ihren Zahlen und Statistiken ‚vergessen‘ wurden, zuzuhören und ihre Erinnerungen aufzuzeichnen, um so „den Unterdrückten eine Stimme zu geben“, womit in Europa anfänglich vor allem die ArbeiterInnen, dann zunehmend die „Opfer“ von Diktaturen gemeint waren.

Carl Rogers in einer Gesprächsgruppe; Quelle: nypcrc.org
Diese neue Konjunktur des Zuhörens beschränkte sich weder auf die katholische Kirche noch auf die Geschichtswissenschaft. Ebenso wichtig war das Konzept des „active listening“, das der Psychologe Carl R. Rogers 1957 erstmals propagierte. Seit den 1970er Jahren wurde es breit rezipiert, seit den späten 1980er Jahren zählt es sogar zu den Basistechniken der Psychotherapie, des Beratungsgesprächs und des Coachings. Dieses „aktive Zuhören“ zielte allerdings nicht auf Partizipation. Für die Psychotherapeuten, die sich häufig auf Rogers bezogen, erforderte „richtiges Zuhören“ vielmehr einen Akt der „Empathie“, bei dem sich der Zuhörer die Perspektive des Sprechenden zu eigen macht und ihm dadurch in therapeutischen Absicht hilft, sich selbst besser zu verstehen und sein Problem zu lösen.
Dieses empathische Zuhören verkörperte in populärer Form niemand so sehr wie die kleine „Momo“ aus dem gleichnamigen Kinder-(und Erwachsenen-)buch von Michael Ende von 1973, das bis heute eine Auflage von weltweit sieben Millionen Exemplaren erreicht hat. Momo konnte „so zuhören, dass ratlose, unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten, dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden“. Michael Ende schrieb sogar: „Wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt […] – und er ging hin und erzählte das alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. – So konnte Momo zuhören!“
Momo sollte Kinder in die Kunst des Zuhörens einführen, im gleichen Zuge aber auch Erwachsene lehren, Kindern zuzuhören – seither ein Thema unzähliger Erziehungs- und Elternratgeber und ein Modell für das empathische Zuhören überhaupt. Dem Zuhören wurde in Momo – ebenso wie beim active listening von Rogers oder der christlichen Seelsorge – eine therapeutische Funktion und letztlich „heilende“ Wirkung zugeschrieben. Diese Mischung fand sich zunehmend in ganz verschiedenen Zusammenhängen, nicht zuletzt in Südafrika bei der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ nach dem Ende der Apartheid. Ihr Vorsitzender, Bischof Desmond Tutu, erläuterte: „Die Kommission soll jedem zuhören“; es sei notwendig, „dass jedem die Chance gegeben wird, seine oder ihre Wahrheit zu sagen, wie er oder sie sie sieht“. Dieses Aussprechen, so die Kommission an anderer Stelle, habe einen „therapeutischen Zweck, indem sie den Opfern die Möglichkeit gibt, über ihr Leiden zu sprechen, und zwar vor Menschen, die einfühlsam zuhören und ihr Leiden anerkennen“.
Die Illusion der Gemeinschaft
Seit mehreren Jahrzehnten wird also bereits vom „Zuhören“ gesprochen, werden Techniken des „Zuhörens“ entwickelt und „Zuhören“ praktiziert. Überhaupt gibt es aktive Nachbarschaftsgruppen und Bürgerforen, lauscht man im Fernsehen und im Radio den Lebensgeschichten „einfacher Leute“, und seit gut zehn Jahren bieten Soziale Medien neue Formen und Foren nicht nur für das Sprechen, sondern ebenso für das Zuhören (Politikwissenschaftler sprechen von „digital listening“). Die Forderung, verschiedensten Gruppen – man ist versucht zu sagen: ob Mensch oder Tier, ob lebendig oder tot – „eine Stimme zu geben“, damit man ihnen zuhöre, findet seit Jahrzehnten Resonanz. Inzwischen sollen nicht einmal nur die Opfer, sondern auch die Täter von Menschenrechtsverbrechen ihre Geschichten und ihre „Wahrheit“ erzählen können, selbst die Odenwaldschule hat dieses Modell 2010 übernommen. Alle sprechen heute vom „Zuhören“ – paradox ist allein, dass gleichzeitig der Eindruck vorherrscht, es würde „zu wenig“ zugehört und die Gesellschaft drohe deswegen „auseinanderzudriften“, ja zu „zerreißen“.
In diesem Paradox verbirgt sich die Logik eines „Zuhörens“, das aus dem Raum des Therapeutischen heraus in den Bereich des Politischen eingedrungen ist. Im therapeutischen Raum und im moralischen Diskurs des „Anerkennens“ gilt: Kinder fühlen sich „angenommen“, heißt es, wenn Eltern sich Zeit nehmen, ihnen zuzuhören, und generell gilt: Wem zugehört wird, der weiß, dass seine Sorgen und Leiden, aber auch seine „Wahrheit“ „gehört“ werden. Der Anspruch nun, diese therapeutische Funktion zu einem die Gesellschaft „heilenden“ Versprechen zu machen, basiert auf der Idee, man könne und solle im politischen Raum ebenso sprechen wie im persönlichen oder therapeutischen Gespräch. Das aber erzeugt die Illusion, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen sich durch „Sprechen“ und „Zuhören“ versöhnen ließen (was auch in Südafrika nicht geschah) – und legt auch nahe, dass unsere Gesellschaften in einem imaginären „Früher“ irgendwie „Zuhör-Gesellschaften“ gewesen seien. Man stelle sich vor: Bürgerliche Politiker, die den Vertretern der Arbeiterbewegung freundlich zugehört hätten, um ein „Zerreißen“ des sozialen Bandes zu verhindern. Als ob nicht mit harten Bandagen um politische und wirtschaftliche Interessen gekämpft worden wäre!
Mit anderen Worten, die Rede vom empathischen „Zuhören“ im Raum des Politischen erzeugt in erster Linie die Illusion, Gesellschaften könnten wieder „Gemeinschaften“ werden. Wenn Kitsch, wie der Philosoph Burkhardt Schmidt einmal sagte, „der schnellste Weg zur Versöhnung“ ist, dann ist „Zuhören“ der hegemoniale Polit-Kitsch unserer Tage. Es ist der Traum davon, dass die Gesellschaft, wenn man sich nur gut zuhört, wenn jeder seine Wahrheit sagen und jeder und jede „anerkannt“ würde, letztlich „ganz“, „heil“ und ohne Konflikte sein könnte. Es ist der Traum einer „Revolution des Zuhörens“.
Die Anerkennungsfalle
Es gibt aber noch andere Arten, sich die Forderung des Zuhörens zu eigen zu machen. Zum einen kann Zuhören eine politische Führungstechnik sein, die die partizipatorische Erwartung zwar aufnimmt, dabei aber eine populistische Geste bleibt und lediglich auf das Gefühl setzt, „gehört“ worden zu sein. Zum anderen kann die Forderung, „endlich zuzuhören“, auch eine Form darstellen, dem politischen Gegner bestimmte Inhalte aufzuzwingen. Pegida-Aktivist Lutz Bachmann sagte 2014 in diesem Sinne: „Pegida will einfach, dass die vom Volk gewählten Politiker endlich wieder zuhören, und zwar uns, und sich den wirklichen Problemen annehmen, die in unserer Gesellschaft herrschen.“ Marine Le Pen, die Führerin des Rassemblement national (vormals Front national) brachte dies im Hinblick auf die Proteste der Gelbwesten auf die knappe Formel: „Macron hört nicht zu – er hört nur sich selbst zu“.

Protest gegen eine Rentenreform, Paris Oktober 2010; Quelle: lejdd.fr
Eine solche Argumentation, die die Mächtigen als diejenigen denunziert, die „nicht zuhören“ – sie ist keine exklusiv „rechte“ Strategie – verfängt, wenn „zuhören“ und „verstehen“ emphatisch aufgeladen sind, das heißt ein Partizipations- und Anerkennungsversprechen darstellen. Es ist dies die Falle, in die viele tappen, ganz gleich, ob sie sich auf Seiten der Linken oder der Liberalen verorten. Die verbreitete, diffus auf Habermas gestützte „diskursethische“ Annahme, dass Politik und die Mechanismen des gesellschaftlichen Ausgleichs in diesem Sinne auf „dem Diskurs“ und auf wechselseitiger Anerkennung basieren würden, verkennt, dass die Forderung, „richtig zuzuhören“, in eine Spirale ohne Stopp-Regel führt. In einer Gesellschaft, in der der Wunsch nach Gehörtwerden und nach Anerkennung imperativ geworden ist, liegt es in der Logik des Von-sich-Sprechens, dass das Zuhören nie an ein Ende kommen darf, dass man sich nie „ganz“ verstanden fühlt und man immer noch mehr „Zuhören“ brauchen könnte.
Das ist zwar der Stoff, aus dem persönliche Beziehungen gemacht sind. Politik aber ist etwas anderes. Das politische Sprechen und Zuhören in der Demokratie, vom Diskutieren mit „den Menschen“ am Straßenstand über Parteiversammlungen bis hin zu Parlamentsdebatten, beruhen auf mehr oder weniger ritualisierten und organisierten Formen des Sprechens und sind daher viel enger strukturiert als das persönliche Gespräch; sie kennen Grenzen, Verfahren und das Delegieren des Weitersprechens an Politiker und Amtsträger. An diesem Sprechen und Zuhören mangelt es demokratischen Gesellschaften bis heute wahrlich nicht. Wenn aber das auf Anerkennung schielende „Zuhören“ zur Essenz des Politischen wird, gerät Politik in die Spirale, nie genug zuhören zu können. Sie folgt dann einem Anspruch, den sie nicht erfüllen kann, weil sie nicht mehr versucht, konfligierende Interessen zu vermitteln, sondern die vielen Einzelnen, denen sie „zuhört“, anzuerkennen. Daran kann sie nur scheitern – und produziert deshalb, geradezu panisch, diese unerfüllbare Forderung ständig selbst.