Von Pandemien, gesellschaftlichen Umbrüchen, politischen Gewaltmaßnahmen gehen physische und psychische Bedrohungen aus, die zu unvorhersehbaren Veränderungen im Zusammenleben der Betroffenen, in der Selbstwahrnehmung des Einzelnen und, zugespitzt, zu Fragen nach dem Verhalten des Menschen in Extremsituationen führen. Fragen, die, indem sie sprachlich gefasst werden, Kontur gewinnen. Dies gilt exemplarisch für Texte der Lagerliteratur des 20. Jahrhunderts, deren Verfasser und Verfasserinnen nicht nur von Zwangsarbeit, Hunger und Kälte berichten, sondern auch die Bedrohung des Menschseins als zentrales Thema behandeln.

Belomorkanal. 1931-1933. Arbeiten am Kanalbett. Jeder Häftling musste täglich eine Norm erfüllen, bei Nichterfüllung wurden die Essensrationen gekürzt. © Tomaz Kizny Collection
Wann hört der Mensch auf, Mensch zu sein? Was ist Entmenschlichung? Wie stark sind Physis und Psyche von der Zwangswelt betroffen? Mit Formulierungen wie „Nicht-Mehr-Menschsein“, „Entmenschlichung“ und „Selbstverlust“ haben Autor:innen der Gulag- und der Holocaustliteratur eine gemeinsame Topik im Erleben der – Physis und Psyche betreffenden – Entmenschlichung und Entwürdigung gefunden. Eine Stufe zur Entmenschlichung ist die Desintegration der Persönlichkeit, die Gustaw Herling-Grudziński in seinem Gulag-Bericht Die Andere Welt im folterartigen Erpressen eines Geständnisses erkennt, durch das der Häftling „gebrochen“ werden soll. Julius Margolin erlebt Entmenschlichung als Verlust seiner Identität. Mit der Bezeichnung dieses Vorgangs – „razčelovečenie“: als „Zermenschlichung“ übersetzbar – versucht er, diese das Ich betreffende Zersetzung, den Angriff auf die Selbstwahrnehmung zu fassen. Zermenschlichung, die Leitvokabel in seinem großen Lagerbericht Reise in das Land der Lager, könnte als Überbegriff für alle Lagertexte gelten.
Das Verschwinden in der Welt des Lagers
In Lagertexten wird bereits das Verschwinden in der Lagerwelt als Bruch mit der Zivilisation, mit dem Menschlichen beschrieben, als Beginn von etwas Unvorstellbarem, als Ende alles Bisherigen und als Erfahrung, die aus der Konfrontation mit einer Alternativwelt entsteht, in der die vertraute Welt und ihre Tradition kein Gewicht mehr haben. Der Eintritt ins Lager wird wie eine Verwandlung erfahren, die an der eigenen Person ebenso wie an den Mitgefangenen als eine Metamorphose wahrgenommen wird. Die Verwandlung tritt nahezu abrupt ein. Varlam Schalamov konstatiert in einer seiner Erzählungen aus Kolyma:
Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.
Die autobiographischen Erzähler und Erzählerinnen nähern sich dem Phänomen der Verwandlung – dieser absolut präzedenzlosen Lagererfahrung – mit nüchterner Beschreibung, grundsätzlicher Reflexion oder mit Abscheu und grenzenlosem Erstaunen. Dinge geschehen, die nicht in den Horizont der Lager-Neuankömmlinge passen. Sie zwingen zu einer anderen Wahrnehmung von Handlungsabläufen, Kommunikation, Personen. So eröffnet sich eine dem Begrifflichen entzogene Welt, die erst in der Beschreibung eine gewisse Kontur gewinnt. Evgenia Ginsburg schreibt in Gratwanderung vom Staunen („izumlenie“) und Margarete Buber-Neumann in Gefangene unter Stalin und Hitler von „Entgeisterung“. In beidem ist Bestürzung mitzulesen. Aus dem, was sie bestürzt, versuchen beide Autorinnen durch ein Verfahren des Wegschiebens einen Rückzug anzutreten, der ihnen ermöglicht, die Geschehnisse in ihrer Fremdheit zu taxieren und sich selbst letztlich wieder urteilsfähig zu machen. Wanda Brońska-Pampuch hat diese Distanz in ihrem 1993 als Roman verfasstem Bericht Ohne Maß und Ende durch Fiktionalisierung umgesetzt und so Selbsterlebtes als Fremdes dargestellt.
Deformierte Beobachter
Die Einstellung auf den Beobachtenden war ausschlaggebend für eine kritische Darstellung des Geschehens. Auch Margolin verfolgt die Wandlungsprozesse, die sich aus dem Entzug der Normalität ergeben, in seiner Schilderung verstörter Wahrnehmung, macht aber auch auf die gleichzeitige Deformation des Beobachters aufmerksam:
Im Lager waren ausnahmslos alle Menschen und Dinge entstellt. Dieselben russischen Wörter, die auch in der Freiheit gebraucht wurden, hatten hier einen anderen Sinn. Der furchtbare Einfluss der Lagerverhältnisse deformiert jeden. Niemand bewahrt seine ursprüngliche Gestalt. Die Schwierigkeit der Beobachtung liegt darin, dass auch der Beobachter selbst deformiert ist.“
Als wen erfährt sich der nackte, verschmutzte, mit Furunkeln und Beulen behaftete Mensch, der an Typhus leidet? Schalamovs Typhusbarackenbericht ist peinvoll detailliert. Primo Levi klagt über die „obszöne Plage und eine unauslöschliche Schande“ des nächtlichen Wasserlassens. Solschenizyn überwindet Scham und Ekel in der Beschreibung von Gestank, Schmutz, kottriefendem Schuhwerk, der völligen Verwahrlosung durch einen sarkastischen Tonfall. Inhaftierte erfahren sich in den verordneten Entkleidungsszenen (Abgabe der Kleidung zur Desinfektion) erstmals als nackt unter Nackten. Erinnert wird eine mit Selbstverachtung gepaarte Scham, die den sich Schämenden zum Objekt macht, eine Abspaltung des Ich von dem Anderen (im Ich), der Schwäche zeigt, an Typhus leidet, stiehlt, charakterlich verwerflich ist.

Belomorkanal. 1931-1933. Arbeiten am Kanalbett. © Tomaz Kizny Collection
Die physische und psychische Selbstaufgabe, die kampflose Hingabe an den Untergang führt den Zustand des Nicht-Mehr-Menschseins herbei. Jemand, der diesen Zustand erreicht hat, wird im Lagerjargon dochodjaga genannt. Das Verb dochodit’ meint bis an eine Grenze kommen, den äußersten Punkt erreichen. Der dochodjaga führt die den drohenden Untergang anzeigende Verwandlung, diese Schwundstufe des Menschseins, für alle Mithäftlinge sichtbar vor; er repräsentiert das Äußerste des Lagerzustands. Das russische dochodjaga gehört in dasselbe Bedeutungsfeld wie der in Holocausttexten benutzte Begriff „Muselmann“. Die Beschreibungen dieses ‚Phänomens‘ in Gulag- und Holocausttexten scheinen nahezu identisch. Margolins Schilderung des auf den Abgrund Zugehenden gilt denselben zwei Momenten, die auch in Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ benannt werden: dem psychischen und dem physischen. Angesprochen ist hier die Verwandlung eines ‚heilen‘ Menschen in ein Wrack, dessen physischer Verfall aus der Unfähigkeit zur Adaptation, aus seinem schwindenden Lebenswillen, einer psychischen Schwäche also, resultiert. Auch die Metaphorik, die Gulag- und Holocausttexte hier einsetzen, ist dieselbe: „auf Grund gehen“. Dochodjaga und Muselmann gehen beide zugrunde.
Giorgio Agamben hat in seiner Interpretation von Levis Auschwitz-Schriften das Phänomen des „Muselmann“ zu einem anthropologischen Konzept entwickelt, das so keine Parallele in der den Gulag-Texten gewidmeten Diskussion hat. Das Aussehen des Muselmanns zwingt zum Wegsehen: Er ist dem, was als Mensch galt, unähnlich geworden. Diese Entähnlichung macht ihn allen fremd und verhindert, dass er mitleidend wahrgenommen wird. Es ist ihm nicht mehr zu helfen, „er wohnt jenseits der Hilfe“. An den Anblick von Leichenbergen seien die Lagerinsassen gewöhnt gewesen, bemerkt Agamben: Aber der Anblick der Muselmänner ist ein ganz neues Szenario, unerträglich für menschliche Augen.
Daran schließt er die thanatologische These an, dass der Tod, den die Muselmänner sterben, würdelos sei, ihr Sterben den Tod selbst erniedrige. Herling-Grudzińskis Beschreibung der „Verlöschenden“ lässt keinen Zweifel daran, dass die russischen Untergeher sich von denjenigen in den KZs nicht unterschieden, sie wurden – Fast-schon-Skelette – als Abfall, Dreck bezeichnet. Auch Margolin schreibt:
wenn man ihnen sehr nahe kam, spürte man den Leichengeruch. Tatsächlich waren sie tief unglückliche, hoffnungslos kaputte Menschen, aber ihre Zerstörung hatte sich nach innen gewandt […], von ihnen ging Fäulnisgeruch aus, das Gift der Zersetzung. Alles war vergiftet, bis zur extremen Selbstverachtung der Vernunft, ›Humanität‹ war für diese Unglücklichen fast ein Schimpfwort.
Primo Levi selbst hat auf die Parallelen des Phänomens in deutschen und sowjetischen Lagern in Die Untergegangenen und die Geretteten hingewiesen:
im Archipel der deutschen Konzentrationslager hatte sich eine spezifische Sprache herausgebildet, der Lagerjargon. Es ist nicht überraschend, daß er Parallelen zum Jargon der sowjetischen Arbeitslager aufweist, aus dem Solschenizyn einige Beispiele anführt. In allen Lagern war der Begriff Muselmann verbreitet, mit dem man die hoffnungslos erschöpften, ausgehungerten Häftlinge bezeichnete, die dem Tod nahe waren. Dieser Begriff spiegelt sich, auch in seiner zynischen Ironie, haargenau im russischen dochodjaga wider, was wörtlich übersetzt ‚am Ende sein‘, ‚fertig sein‘ bedeutet.
Die Verwandlung eines Menschen in einen ‚Unmenschen‘ meint aber auch jene, die aller Moralvorstellungen ledig, äußerste Brutalität und niederste Gemeinheit an den Tag legen: die Kriminellen. Es war Schalamov, der auf die Rolle der Kriminellen im Lager besonderes Gewicht legte. Ohne Verständnis der Kriminellen-Welt könne man das Lager nicht verstehen. Das Gift der Ganovenwelt sei unvorstellbar scheußlich. Die Infektion mit diesem Gift führe zur Zerstörung alles Menschlichen im Menschen.
Die erträgliche Form
Die Überlebenden, die zu Schreibenden geworden sind, zu Beobachtern der Wandlungsvorgänge und auch gelegentlich von ihnen erfasst, haben auf ihrem Ich beharren können. Ihr Schreiben ist ein Um-Schreiben, das das Gesehene, Gehörte, Gefühlte aus seiner äußeren, direkt erlebten Realität in die innere Realität der Erzählung, Beschreibung, Analyse transformiert. Als Lesende nehmen wir sie als diejenigen wahr, die dem Nicht-Mehr-Menschsein entgegengetreten sind und ihre Würde zurückgewonnen haben. Aber wir erfahren auch, dass die Befreiungstat des Schreibens über menschliche Verrohung ein Wiedererleben dieser Qual nicht verhindern kann. Schalamov klagt:
Wer durchgehalten, das Ende der Haftzeit erlebt hatte, der war zu neuen Wanderschaften verdammt, zu neuen unendlichen Qualen.
In den anthropologischen Feststellungen der Lagerliteratur erscheint Entmenschlichung als das Äußerste, Extreme. Im Schreiben darüber kann die Grenze, die das Extreme markiert, nie erreicht werden. Das Extreme ist Exzess, außerhalb der Ordnung der Dinge. Es ist unvergleichlich. Die Unvergleichbarkeit mit allem Bekannten macht den Schreibenden zu schaffen. Es geht aber nicht nur um die Frage, ob die Erfahrung des „in extremis“ sagbar, aussprechbar ist, sondern auch darum, ob man sie aussprechen darf. Mit Blick auf das Geschehene sagt Schalamov: „Der Mensch soll es nicht kennen, soll nicht einmal davon hören.“
Herling-Grudziński spricht von Dingen, die man weder sehen noch davon wissen dürfe. Etwas, das entzogen bleiben muss, dem sich keine Sprache nähern sollte. Das Unsagbare (das anonyme Grauen) erscheint als kryptisch. Die sich ans Schreiben wagen, überschreiten stets eine Grenze. Sie verletzen den Bereich des ineffabile und geben es denen preis, die nicht „dort“ waren.

Belomorkanal. 1931-1933. Arbeiten am Kanalbett. Jeder Häftling musste täglich eine Norm erfüllen, bei Nichterfüllung wurden die Essensrationen gekürzt. © Tomaz Kizny Collection
Das Schreiben und Sprechen über die eigene Erfahrung wird so als ein Vergehen an denen betrachtet, die das Ende erlebt haben, den Toten (gewissermaßen ein Schreibverbot, das sich die Schreibenden selber geben, um es ständig zu übertreten). Levi und Solschenizyn haben das – jeder für sich – so formuliert: nur die Umgekommenen hätten das Recht gehabt zu sprechen. Schreibskrupel vs. Schreibgebot wirkt wie die moralische Version des Unsagbarkeitsparadox. Die Berichte machen deutlich, dass diese Erkenntnis über das Menschsein den Lesenden nicht vermittelt werden kann. Über allem liegt die Last der „Unverständlichkeit des Lagers“. Die Lagerrealität kommt einer Sinnverweigerung gleich. Levi schreibt:
Die Welt, in die man hineinstürzte, war nicht nur grauenvoll, sondern darüber hinaus auch noch unentzifferbar. Diese Welt entsprach keinem der bekannten Modelle.
Unverständlichkeit entzieht sich nicht nur der Logik, sondern vor allem der Sprache. Für viele Schreibende stellt sich dabei die Frage: Literatur oder Nicht-Literatur. Das Ungeformte und Unverständliche der Erfahrung muss in klärende Form gebracht werden. Nur in der Umsetzung in ein erzählerisches Kontinuum scheint die Bändigung der Affekte möglich – ebenso wie ein die Affekte betreffender Dialog zwischen Schreibenden und Lesenden, der den Verstehensbruch überwindet. Form erhält so einen doppelten Index von ästhetisch und von ethisch.
Schalamovs Ablehnung einer „Ästhetisierung des Schreckens“, seine Konzeption der Faktologie und die Kritik an der stilistischen „Bereicherung“ der Sprache, die das Authentische einschränke, bedeutet deshalb keineswegs die Aufgabe der Form:
Eine zeitgenössische neue Prosa kann nur von Leuten geschaffen werden, die ihr Material perfekt kennen, für die die Beherrschung des Materials, seine Umwandlung in Kunst keine rein literarische Aufgabe ist, sondern eine Pflicht, ein sittlicher Imperativ.
Schalamov geht es hier um die Transposition in eine erträgliche Form, um die Bändigung ausufernder Erfahrung, aber auch um den Versuch, ein Wissen über den Menschen aufzudecken, das die Lagererfahrung ‚offenbart‘ hat. Dazu gehört auch, den Schock über die Erkenntnis zu vermitteln, dass das, was als menschlich galt, in eine Vorlagerzeit gehört (oder womöglich niemals dem Humanwesen entsprochen hat). So gesehen lassen sich die Autobiographien auch als ‚Anthropographien‘ lesen.