Arbeit, Kinder, Stress… Die Verbindung von Lohn- und Sorgearbeit führt zu Stress und ungerechter Verteilung von Erholung und Muse. Kann eine feministische Zeitpolitik das Verhältnis von Arbeit und Sorge neu denken?

  • Friederike Beier

    Friederike Beier beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit queer-feministischen, materialistischen und dekolonialen Theorien zu Zeit, Geschlecht und Arbeit. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Gender & Diversity am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin. Im Unrast Verlag hat sie 2023 den Band „Materialistischer Queerfeminismus“ herausgegeben.

Viele Menschen sind ständig im Stress, hasten von Termin zu Termin und arbeiten sich an scheinbar endlosen To-Do-Listen ab. Da meis­tens zu viele Aufgaben in zu wenig Zeit erle­digt werden müssen, ist Zeit eine knappe Ressource. Zugleich steht allen Menschen gleich viel Zeit zur Verfü­gung – so scheint es zumin­dest. Doch nehmen wir Zeit abhängig von unseren Tätig­keiten, Ressourcen und unserem Lebens­alter ganz unter­schied­lich wahr. Wie viel Zeit wir haben und wie frei wir über diese Zeit bestimmen können, hat ganz maßgeb­lich damit zu tun, welche Verpflich­tungen und Frei­heiten wir haben und um wie viele Dinge wir uns – oft auch gleich­zeitig – kümmern müssen. Die höchste zeit­liche Belas­tung und damit den größten Zeit­stress haben laut Zeit­er­he­bungs­stu­dien Frauen, die Verant­wor­tung für Klein­kinder haben. Zeit ist also unge­recht verteilt. 

Wer wie viel Zeit zur freien Verfü­gung hat, hängt vom Geschlecht, aber auch von anderen Iden­ti­täts­ka­te­go­rien, Lebens­lagen und Einkommen ab. Denn wer über ein höheres Einkommen verfügt, kann sich im Alltag Zeit­er­leich­te­rungen erkaufen, etwa Taxi fahren, Liefer­ser­vices für Essen und Einkäufe oder andere Dienst­leis­tungen in Anspruch nehmen – Zeit­er­leich­te­rungen, die wiederum zu einer Mehr­ar­beit und weniger Zeit von Menschen führt, die in solchen Nied­rig­lohn­sek­toren beschäf­tigt sind. Insbe­son­dere die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass unsere Gesell­schaft von der Sorge für und umein­ander abhängt. Gleich­zeitig waren Menschen, die Sorge­ar­beit leisten, mehr von Zeit­stress betroffen sowie ökono­misch weniger abgesichert. 

Menschen hingegen, die nicht arbeiten können oder dürfen, weil sie etwa geflüchtet sind und keinen sicheren Aufent­halts­status haben, sind wiederum dazu verpflichtet zu warten und damit der Lang­sam­keit von Zeit ausgeliefert.

Femi­nis­ti­sche Zeitpolitik

Mit der zeit­li­chen Dimen­sion von Geschlech­ter­un­gleich­heit beschäf­tigt sich die femi­nis­ti­sche Zeit­po­litik, die in den letzten Jahren vermehrt von Gewerk­schaften, Parteien, zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tionen oder auch Wissenschaftler:innen und Journalist:innen aufge­griffen wurde. Die Gründe für das Inter­esse an femi­nis­ti­scher Zeit­po­litik sind vielfältig.

Zum einen hat die zuneh­mende Erwerbs­be­tei­li­gung von Frauen und die gleich­zei­tige Haupt­ver­ant­wor­tung für Haus- und Sorge­ar­beit zu einer enormen Doppel­be­las­tung geführt. Zum anderen folgt die Zeit für Sorge­ar­beit oder auch sorgende Zeit ganz anderen Logiken als die Zeit­struktur der Lohn­ar­beit. Dieser Konflikt zwischen verschie­denen Zeit­re­gimen führt zu erhöhtem Stress derje­nigen, die Sorge­ar­beiten und (andere) Lohn­ar­beit mitein­ander verein­baren müssen. Dies betrifft sowohl die unbe­zahlte Haus- und Sorge­ar­beit als auch deren profes­sio­na­li­sierte Form in Kran­ken­häu­sern, Kitas oder Pfle­ge­heimen. Doch woher kommt Zeit­un­ge­rech­tig­keit? Wie führt ungleich verteilte Sorge­ar­beit zu kompri­miertem Zeit­stress? Und wie lassen sich Sorge und Zeit umverteilen?

Zeit des Kapitals

Die gesell­schaft­liche Orga­ni­sa­tion von Zeit ist eng mit den jewei­ligen Wirt­schafts­weisen verbunden und ändert sich somit geschicht­lich. Vor der Entste­hung des Kapi­ta­lismus brauchte es keine Uhren, um den Lauf der Zeit zu messen und verschie­dene Tätig­keiten mitein­ander zu synchro­ni­sieren. Weil ein Groß­teil der Arbeit in der Land­wirt­schaft verrichtet wurde, waren Arbeits­zeiten abhängig von den Jahres­zeiten, dem Tages­licht und dem Wetter. Im Winter waren, ange­passt an den Biorhythmus, die Schlaf­phasen länger und die Arbeits­zeiten kürzer; im Sommer umge­kehrt. Durch die Indus­tria­li­sie­rung und den Bau von Fabriken und Eisen­bahnen musste Zeit nicht nur einge­teilt, sondern auch synchro­ni­siert werden. Arbeits­zeit musste gemessen und anhand der in ihr veraus­gabten Zeit bezahlt werden. Eine möglichst präzise Zeit­mes­sung war dafür vonnöten. Karl Marx hat es auf die Formel gebracht, dass sich alle Ökonomie in der Ökonomie der Zeit auflöst. Damit ist zum einen gemeint, dass Zeit­er­spar­nisse beispiels­weise in der Land­wirt­schaft zu mehr Zeit und damit zu Produk­ti­vität in anderen Sektoren führt und dass die gesell­schaft­liche Vertei­lung der Arbeits­zeit auf verschie­dene Tätig­keiten die Grund­lage der Ökonomie bildet. Durch das quan­ti­ta­tive Messen der Arbeits­zeit wird, Marx zufolge, sowohl der Wert der Ware Arbeits­kraft als auch der Tausch­wert von Waren bestimmt. Der Lohn ist also die Verfü­gung über die Arbeits­zeit der Arbeiter:innen. Die präzise Messung der Arbeits­zeit wurde zum Schlüs­sel­ele­ment, um Gesell­schaft nach kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­ab­läufen zu organisieren. 

Zeit als Disziplin

Der Histo­riker E.P. Thompson hat gezeigt, dass die Uhren­zeit einge­führt wurde, um Arbeiter:innen zu diszi­pli­nieren, die vorge­ge­benen Arbeits­zeiten einzu­halten. Zeit­dis­zi­plin wurde durch Kirche, Staat und Arbeit­geber durch­ge­setzt, um Arbeiter:innen unter das herr­schende Zeit­re­gime zu unter­werfen. Die Arbeiter:innen mussten sich an das Diktat der Uhren­zeit, wie beispiels­weise die Stechuhr, anpassen und jeden Tag genau gleich früh aufstehen oder lange arbeiten, egal ob es morgens oder abends oder schon dunkel war.

Zeit wurde zur Ware gemacht. Fortan unter­schied sich diese Zeit der Maschinen, die ein neues Zeit­re­gime begrün­dete, deut­lich von der Lebens­zeit, die nicht den immer gleich­blei­benden eng getak­teten Abläufen folgt, sondern die von den Zyklen der Körper und der Natur abhängt. Durch die Einfüh­rung und Durch­set­zung der mono­chronen Uhren­zeit wurden sorgende, repro­du­zie­rende Tätig­keiten abge­wertet. Was nicht bezahlt wurde, galt damit auch nicht mehr als Arbeit.

Die Durch­set­zung der Uhren­zeit war zudem auch eine Herr­schafts­technik des Kolo­nia­lismus. In den ehema­ligen Kolo­nien wurden Uhren­türme errichtet, um die west­liche Stan­dard­zeit anzu­zeigen und damit die Über­le­gen­heit der Kolo­ni­al­re­gie­rung symbo­lisch durch den Beginn der neuen Zeit zu demons­trieren. Deko­lo­niale Wissenschaftler:innen wie Walter Mignolo haben weiterhin darauf hinge­wiesen, dass die Etablie­rung einer linearen west­li­chen Zeit auch die Funk­tion hatte, Länder des Globalen Südens als rück­ständig und die des Globalen Nordens als modern und fort­schritt­lich zu etablieren, wie in dem Wort ‚Entwick­lung‘ deut­lich wird. Die Stan­dar­di­sie­rung und Kolo­ni­sie­rung der Zeit sowie die Fest­le­gung von Arbeits­zeiten waren jedoch auch immer wieder höchst umkämpfte Prozesse, die auf viel­fäl­tigen Wider­stand gestoßen sind. Gewerk­schaft­liche Initia­tiven für die Redu­zie­rung der Arbeits­zeit schließen an diese Kämpfe an.

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Sorgende Zeit

Die sorgende oder auch repro­duk­tive Zeit unter­scheidet sich funda­mental von der mono­chronen und linearen Uhren­zeit. So kann das pünkt­liche Abgeben von Kindern in Kitas oder Schulen zu einer großen Heraus­for­de­rung werden, da die fest­ge­legte Anfangs­zeit oftmals nicht den Biorhythmen oder Inter­essen von Kindern entspricht. Während die waren­för­mige Zeit quan­ti­tativ messbar, planbar und einteilbar ist, richtet sich die sorgende Zeit nach den Bedürf­nissen der Körper, nach den Zeit­dy­na­miken von Bezie­hungen und unter­schied­li­chen Gene­ra­tionen. Wer viel Zeit mit Kindern, alten oder demenz­kranken Menschen verbringt, weiß wie unter­schied­lich Zeit dabei jeweils wahr­ge­nommen wird und vergeht. Für mein Kind ist ein Tag in der Kita voller Aben­teuer und fühlt sich wie eine Ewig­keit an, während es für mich nur ein kurzer Augen­blick war, indem ich versucht habe, meine immer länger werdende To-Do-Liste abzu­ar­beiten und Termine wahr­zu­nehmen. Auch die gemein­same Zeit folgt einer anderen Logik. Sie lässt sich schwer planen und ist abhängig von Wetter, Stim­mung sowie der aktu­ellen Inten­sität und Stabi­lität der Bezie­hung. Wann Hunger kommt, gegessen, geschlafen, körper­liche oder emotio­nale Nähe gebraucht wird, folgt keinem Stun­den­plan. Wer versucht, mit krankem Kind zu Hause einer Lohn­ar­beit nach­zu­gehen, spürt förm­lich den Stress, der durch die unter­schied­li­chen Anfor­de­rungen dieser diver­gie­render Zeit­lich­keiten ausge­löst wird.

Die Etablie­rung von neoli­be­ralen Kosten-Nutzen-Rechnungen und klein­tei­ligen Zeit­be­mes­sungen von Sorge­tä­tig­keiten in Kran­ken­häu­sern oder Pfle­ge­heimen haben eben­falls zu einem erhöhten Zeit­stress und der Senkung der Arbeits­zu­frie­den­heit in diesen Sektoren geführt. Gute Sorge braucht Zeit. Sie lässt sich nur bedingt effi­zi­enter gestalten, planen und messen. Dies führt zu einem erhöhten Kosten­faktor im Care-Sektor, der sich in prekären Arbeits­be­din­gungen und Nied­rig­lohn­be­schäf­ti­gung nieder­schlägt. Sorge wird auch außer­halb von Kranken- und Pfle­ge­heimen kommo­di­fi­ziert, zur Ware gemacht. Immer mehr Haus- und Sorge­ar­beiten wie einkaufen, Wäsche waschen, Essen kochen, aber auch Kinder­be­treuung oder mit Hunden Gassi gehen, können käuf­lich, oftmals in Form von digi­ta­li­sierten Ange­boten erworben werden. Immer mehr Zeit wird also vermeint­lich gespart, während der Stress steigt, in der gesparten Zeit andere Dinge zu erle­digen. Insge­samt haben wir es mit einer Erhö­hung von Zeit­druck durch die Beschleu­ni­gungs­spi­rale des Kapi­ta­lismus zu tun. Für die Menschen, die Sorge leisten, ist dieser Zeit­druck beson­ders zu spüren, denn sie versu­chen verschie­dene Zeit­lich­keiten mitein­ander zu verein­baren. Zeit­un­ge­rech­tig­keit ist also nicht nur eine Frage der quan­ti­ta­tiven Zeit­ver­tei­lung, sondern auch der Frei­heit der Einzelnen, Zeit nach mensch­li­chen Bedürf­nissen und Bezie­hungen gestalten zu können – darum geht es in der femi­nis­ti­schen Zeitpolitik.

Femi­nis­ti­sche Zeitpolitik

Bishe­rige Stra­te­gien der femi­nis­ti­schen Zeit­po­litik setzten vor allem auf eine quan­ti­ta­tive Erhö­hung der Zeit der Sorge durch eine Redu­zie­rung und Umver­tei­lung von bezahlter Arbeits­zeit. Frigga Haug hat beispiels­weise in der Vier-in-einem-Perspektive darge­legt, wie die Bereiche Fürsorge, Politik, Lohn­ar­beit und die eigene Bildung und Weiter­ent­wick­lung jeweils vier Stunden eines Sechs­zehn­stun­den­tages ausma­chen sollen. 

Die Gewerk­schaft Erzie­hung und Wissen­schaft (GEW) versteht unter einer femi­nis­ti­schen Zeit­po­litik die Aufwer­tung von Sorge­ar­beiten und setzt sich für eine Arbeits­zeit­ver­kür­zung wie die derzeit stark disku­tierte Vier-Tage-Woche ein. Die Vier-Tage-Woche bei glei­chem Lohn genießt auch eine hohe Zustim­mung unter Arbei­ter­nehmer:innen und wurde bereits in Groß­bri­tan­nien als Pilot­pro­jekt erfolg­reich erprobt. So haben fast alle Unter­nehmen in dem Projekt die Vier-Tage-Woche beibehalten.

Weitere zeit­po­li­ti­sche Vorschläge zur Verbes­se­rung der Verein­bar­keit von Beruf und Familie (Familie ist hier gedacht als Zusam­men­schluss von Menschen, die verbind­lich Sorge­ver­ant­wor­tung fürein­ander über­nehmen) sind das Opti­ons­zei­ten­mo­dell, das während des Arbeits­le­bens Zeit­bud­gets für Sorge, Weiter­bil­dung und Selbst­sorge zur Verfü­gung stellt oder das Wahl­ar­beits­zeit­ge­setz, das den flexi­blen Umgang mit Arbeits­zeiten in unter­schied­li­chen Lebens­phasen vorsieht. All diese Modelle sind quan­ti­tativ ange­legt und sollen Zeit für Sorge ermög­li­chen. Weniger und freier gestalt­bare Arbeits­zeit ermög­licht, dass sich die Qualität der Sorge verbes­sert und Sorge­leis­tende entlastet werden – gleich­zeitig tragen sie nicht den unter­schied­li­chen Tempo­ra­li­täten Rech­nung und bleiben der Logik der Lohn­ar­beits­zeit verhaftet. Modelle zur Verrin­ge­rung von Arbeits­zeit werden auch von Unter­nehmen voran­ge­trieben, um die Arbeits­zu­frie­den­heit, Gesund­heit und damit die Produk­ti­vität von Arbeitnehmer:innen zu erhöhen.

Um Zeit­ge­rech­tig­keit herzu­stellen und unsere Gesell­schaft auf die Bedürf­nisse der Menschen statt die der Maschinen auszu­richten, braucht es weiter­ge­hende Trans­for­ma­tionen. Politik und Ökonomie müssten glei­cher­maßen auf die Zeit­lich­keit von Sorge ausge­richtet werden. Das hieße das Abrü­cken von Projekt­pla­nungs­lo­giken, Dead­lines und starr fest­ge­legten Zeit­plänen für bestimmte Aufgaben. Ein Hinbe­wegen der Gesell­schaft zu den Bedürf­nisse der Sorge und Fürsorge würden Körper und Bezie­hungen zwischen Menschen in den Mittel­punkt stellen. Solche Verän­de­rungen können lang­fristig eine sozial-ökologische Trans­for­ma­tion voran­bringen. Dies wäre auch ökolo­gisch sinn­voll, da eine femi­nis­ti­sche Zeit­po­litik eine Wende von der markt­wirt­schaft­li­chen zur sorgenden Ökonomie ermög­li­chen würde, in der auch die Sorge um zukünf­tige Gene­ra­tionen und damit um das Ökosystem ein wich­tiger Bestand­teil wäre. Eine femi­nis­ti­sche Zeit­po­litik ist daher rele­vanter denn je und vermag es, Stra­te­gien gegen die Krisen des Kapi­ta­lismus, der Gesund­heit oder des Klimas zu formu­lieren. Darüber hinaus ist die Herstel­lung von Zeit­ge­rech­tig­keit insge­samt erstre­bens­wert, da sie zu mehr Gerech­tig­keit sowie zu einem besseren, glück­li­cheren, gesün­deren und nach­hal­ti­geren Leben für alle Menschen führt.