Viele Menschen sind ständig im Stress, hasten von Termin zu Termin und arbeiten sich an scheinbar endlosen To-Do-Listen ab. Da meistens zu viele Aufgaben in zu wenig Zeit erledigt werden müssen, ist Zeit eine knappe Ressource. Zugleich steht allen Menschen gleich viel Zeit zur Verfügung – so scheint es zumindest. Doch nehmen wir Zeit abhängig von unseren Tätigkeiten, Ressourcen und unserem Lebensalter ganz unterschiedlich wahr. Wie viel Zeit wir haben und wie frei wir über diese Zeit bestimmen können, hat ganz maßgeblich damit zu tun, welche Verpflichtungen und Freiheiten wir haben und um wie viele Dinge wir uns – oft auch gleichzeitig – kümmern müssen. Die höchste zeitliche Belastung und damit den größten Zeitstress haben laut Zeiterhebungsstudien Frauen, die Verantwortung für Kleinkinder haben. Zeit ist also ungerecht verteilt.
Wer wie viel Zeit zur freien Verfügung hat, hängt vom Geschlecht, aber auch von anderen Identitätskategorien, Lebenslagen und Einkommen ab. Denn wer über ein höheres Einkommen verfügt, kann sich im Alltag Zeiterleichterungen erkaufen, etwa Taxi fahren, Lieferservices für Essen und Einkäufe oder andere Dienstleistungen in Anspruch nehmen – Zeiterleichterungen, die wiederum zu einer Mehrarbeit und weniger Zeit von Menschen führt, die in solchen Niedriglohnsektoren beschäftigt sind. Insbesondere die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass unsere Gesellschaft von der Sorge für und umeinander abhängt. Gleichzeitig waren Menschen, die Sorgearbeit leisten, mehr von Zeitstress betroffen sowie ökonomisch weniger abgesichert.
Menschen hingegen, die nicht arbeiten können oder dürfen, weil sie etwa geflüchtet sind und keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben, sind wiederum dazu verpflichtet zu warten und damit der Langsamkeit von Zeit ausgeliefert.
Feministische Zeitpolitik
Mit der zeitlichen Dimension von Geschlechterungleichheit beschäftigt sich die feministische Zeitpolitik, die in den letzten Jahren vermehrt von Gewerkschaften, Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen oder auch Wissenschaftler:innen und Journalist:innen aufgegriffen wurde. Die Gründe für das Interesse an feministischer Zeitpolitik sind vielfältig.
Zum einen hat die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen und die gleichzeitige Hauptverantwortung für Haus- und Sorgearbeit zu einer enormen Doppelbelastung geführt. Zum anderen folgt die Zeit für Sorgearbeit oder auch sorgende Zeit ganz anderen Logiken als die Zeitstruktur der Lohnarbeit. Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Zeitregimen führt zu erhöhtem Stress derjenigen, die Sorgearbeiten und (andere) Lohnarbeit miteinander vereinbaren müssen. Dies betrifft sowohl die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit als auch deren professionalisierte Form in Krankenhäusern, Kitas oder Pflegeheimen. Doch woher kommt Zeitungerechtigkeit? Wie führt ungleich verteilte Sorgearbeit zu komprimiertem Zeitstress? Und wie lassen sich Sorge und Zeit umverteilen?
Zeit des Kapitals
Die gesellschaftliche Organisation von Zeit ist eng mit den jeweiligen Wirtschaftsweisen verbunden und ändert sich somit geschichtlich. Vor der Entstehung des Kapitalismus brauchte es keine Uhren, um den Lauf der Zeit zu messen und verschiedene Tätigkeiten miteinander zu synchronisieren. Weil ein Großteil der Arbeit in der Landwirtschaft verrichtet wurde, waren Arbeitszeiten abhängig von den Jahreszeiten, dem Tageslicht und dem Wetter. Im Winter waren, angepasst an den Biorhythmus, die Schlafphasen länger und die Arbeitszeiten kürzer; im Sommer umgekehrt. Durch die Industrialisierung und den Bau von Fabriken und Eisenbahnen musste Zeit nicht nur eingeteilt, sondern auch synchronisiert werden. Arbeitszeit musste gemessen und anhand der in ihr verausgabten Zeit bezahlt werden. Eine möglichst präzise Zeitmessung war dafür vonnöten. Karl Marx hat es auf die Formel gebracht, dass sich alle Ökonomie in der Ökonomie der Zeit auflöst. Damit ist zum einen gemeint, dass Zeitersparnisse beispielsweise in der Landwirtschaft zu mehr Zeit und damit zu Produktivität in anderen Sektoren führt und dass die gesellschaftliche Verteilung der Arbeitszeit auf verschiedene Tätigkeiten die Grundlage der Ökonomie bildet. Durch das quantitative Messen der Arbeitszeit wird, Marx zufolge, sowohl der Wert der Ware Arbeitskraft als auch der Tauschwert von Waren bestimmt. Der Lohn ist also die Verfügung über die Arbeitszeit der Arbeiter:innen. Die präzise Messung der Arbeitszeit wurde zum Schlüsselelement, um Gesellschaft nach kapitalistischen Wirtschaftsabläufen zu organisieren.
Zeit als Disziplin
Der Historiker E.P. Thompson hat gezeigt, dass die Uhrenzeit eingeführt wurde, um Arbeiter:innen zu disziplinieren, die vorgegebenen Arbeitszeiten einzuhalten. Zeitdisziplin wurde durch Kirche, Staat und Arbeitgeber durchgesetzt, um Arbeiter:innen unter das herrschende Zeitregime zu unterwerfen. Die Arbeiter:innen mussten sich an das Diktat der Uhrenzeit, wie beispielsweise die Stechuhr, anpassen und jeden Tag genau gleich früh aufstehen oder lange arbeiten, egal ob es morgens oder abends oder schon dunkel war.
Zeit wurde zur Ware gemacht. Fortan unterschied sich diese Zeit der Maschinen, die ein neues Zeitregime begründete, deutlich von der Lebenszeit, die nicht den immer gleichbleibenden eng getakteten Abläufen folgt, sondern die von den Zyklen der Körper und der Natur abhängt. Durch die Einführung und Durchsetzung der monochronen Uhrenzeit wurden sorgende, reproduzierende Tätigkeiten abgewertet. Was nicht bezahlt wurde, galt damit auch nicht mehr als Arbeit.
Die Durchsetzung der Uhrenzeit war zudem auch eine Herrschaftstechnik des Kolonialismus. In den ehemaligen Kolonien wurden Uhrentürme errichtet, um die westliche Standardzeit anzuzeigen und damit die Überlegenheit der Kolonialregierung symbolisch durch den Beginn der neuen Zeit zu demonstrieren. Dekoloniale Wissenschaftler:innen wie Walter Mignolo haben weiterhin darauf hingewiesen, dass die Etablierung einer linearen westlichen Zeit auch die Funktion hatte, Länder des Globalen Südens als rückständig und die des Globalen Nordens als modern und fortschrittlich zu etablieren, wie in dem Wort ‚Entwicklung‘ deutlich wird. Die Standardisierung und Kolonisierung der Zeit sowie die Festlegung von Arbeitszeiten waren jedoch auch immer wieder höchst umkämpfte Prozesse, die auf vielfältigen Widerstand gestoßen sind. Gewerkschaftliche Initiativen für die Reduzierung der Arbeitszeit schließen an diese Kämpfe an.
Sorgende Zeit
Die sorgende oder auch reproduktive Zeit unterscheidet sich fundamental von der monochronen und linearen Uhrenzeit. So kann das pünktliche Abgeben von Kindern in Kitas oder Schulen zu einer großen Herausforderung werden, da die festgelegte Anfangszeit oftmals nicht den Biorhythmen oder Interessen von Kindern entspricht. Während die warenförmige Zeit quantitativ messbar, planbar und einteilbar ist, richtet sich die sorgende Zeit nach den Bedürfnissen der Körper, nach den Zeitdynamiken von Beziehungen und unterschiedlichen Generationen. Wer viel Zeit mit Kindern, alten oder demenzkranken Menschen verbringt, weiß wie unterschiedlich Zeit dabei jeweils wahrgenommen wird und vergeht. Für mein Kind ist ein Tag in der Kita voller Abenteuer und fühlt sich wie eine Ewigkeit an, während es für mich nur ein kurzer Augenblick war, indem ich versucht habe, meine immer länger werdende To-Do-Liste abzuarbeiten und Termine wahrzunehmen. Auch die gemeinsame Zeit folgt einer anderen Logik. Sie lässt sich schwer planen und ist abhängig von Wetter, Stimmung sowie der aktuellen Intensität und Stabilität der Beziehung. Wann Hunger kommt, gegessen, geschlafen, körperliche oder emotionale Nähe gebraucht wird, folgt keinem Stundenplan. Wer versucht, mit krankem Kind zu Hause einer Lohnarbeit nachzugehen, spürt förmlich den Stress, der durch die unterschiedlichen Anforderungen dieser divergierender Zeitlichkeiten ausgelöst wird.
Die Etablierung von neoliberalen Kosten-Nutzen-Rechnungen und kleinteiligen Zeitbemessungen von Sorgetätigkeiten in Krankenhäusern oder Pflegeheimen haben ebenfalls zu einem erhöhten Zeitstress und der Senkung der Arbeitszufriedenheit in diesen Sektoren geführt. Gute Sorge braucht Zeit. Sie lässt sich nur bedingt effizienter gestalten, planen und messen. Dies führt zu einem erhöhten Kostenfaktor im Care-Sektor, der sich in prekären Arbeitsbedingungen und Niedriglohnbeschäftigung niederschlägt. Sorge wird auch außerhalb von Kranken- und Pflegeheimen kommodifiziert, zur Ware gemacht. Immer mehr Haus- und Sorgearbeiten wie einkaufen, Wäsche waschen, Essen kochen, aber auch Kinderbetreuung oder mit Hunden Gassi gehen, können käuflich, oftmals in Form von digitalisierten Angeboten erworben werden. Immer mehr Zeit wird also vermeintlich gespart, während der Stress steigt, in der gesparten Zeit andere Dinge zu erledigen. Insgesamt haben wir es mit einer Erhöhung von Zeitdruck durch die Beschleunigungsspirale des Kapitalismus zu tun. Für die Menschen, die Sorge leisten, ist dieser Zeitdruck besonders zu spüren, denn sie versuchen verschiedene Zeitlichkeiten miteinander zu vereinbaren. Zeitungerechtigkeit ist also nicht nur eine Frage der quantitativen Zeitverteilung, sondern auch der Freiheit der Einzelnen, Zeit nach menschlichen Bedürfnissen und Beziehungen gestalten zu können – darum geht es in der feministischen Zeitpolitik.
Feministische Zeitpolitik
Bisherige Strategien der feministischen Zeitpolitik setzten vor allem auf eine quantitative Erhöhung der Zeit der Sorge durch eine Reduzierung und Umverteilung von bezahlter Arbeitszeit. Frigga Haug hat beispielsweise in der Vier-in-einem-Perspektive dargelegt, wie die Bereiche Fürsorge, Politik, Lohnarbeit und die eigene Bildung und Weiterentwicklung jeweils vier Stunden eines Sechszehnstundentages ausmachen sollen.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) versteht unter einer feministischen Zeitpolitik die Aufwertung von Sorgearbeiten und setzt sich für eine Arbeitszeitverkürzung wie die derzeit stark diskutierte Vier-Tage-Woche ein. Die Vier-Tage-Woche bei gleichem Lohn genießt auch eine hohe Zustimmung unter Arbeiternehmer:innen und wurde bereits in Großbritannien als Pilotprojekt erfolgreich erprobt. So haben fast alle Unternehmen in dem Projekt die Vier-Tage-Woche beibehalten.
Weitere zeitpolitische Vorschläge zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Familie ist hier gedacht als Zusammenschluss von Menschen, die verbindlich Sorgeverantwortung füreinander übernehmen) sind das Optionszeitenmodell, das während des Arbeitslebens Zeitbudgets für Sorge, Weiterbildung und Selbstsorge zur Verfügung stellt oder das Wahlarbeitszeitgesetz, das den flexiblen Umgang mit Arbeitszeiten in unterschiedlichen Lebensphasen vorsieht. All diese Modelle sind quantitativ angelegt und sollen Zeit für Sorge ermöglichen. Weniger und freier gestaltbare Arbeitszeit ermöglicht, dass sich die Qualität der Sorge verbessert und Sorgeleistende entlastet werden – gleichzeitig tragen sie nicht den unterschiedlichen Temporalitäten Rechnung und bleiben der Logik der Lohnarbeitszeit verhaftet. Modelle zur Verringerung von Arbeitszeit werden auch von Unternehmen vorangetrieben, um die Arbeitszufriedenheit, Gesundheit und damit die Produktivität von Arbeitnehmer:innen zu erhöhen.
Um Zeitgerechtigkeit herzustellen und unsere Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Menschen statt die der Maschinen auszurichten, braucht es weitergehende Transformationen. Politik und Ökonomie müssten gleichermaßen auf die Zeitlichkeit von Sorge ausgerichtet werden. Das hieße das Abrücken von Projektplanungslogiken, Deadlines und starr festgelegten Zeitplänen für bestimmte Aufgaben. Ein Hinbewegen der Gesellschaft zu den Bedürfnisse der Sorge und Fürsorge würden Körper und Beziehungen zwischen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Solche Veränderungen können langfristig eine sozial-ökologische Transformation voranbringen. Dies wäre auch ökologisch sinnvoll, da eine feministische Zeitpolitik eine Wende von der marktwirtschaftlichen zur sorgenden Ökonomie ermöglichen würde, in der auch die Sorge um zukünftige Generationen und damit um das Ökosystem ein wichtiger Bestandteil wäre. Eine feministische Zeitpolitik ist daher relevanter denn je und vermag es, Strategien gegen die Krisen des Kapitalismus, der Gesundheit oder des Klimas zu formulieren. Darüber hinaus ist die Herstellung von Zeitgerechtigkeit insgesamt erstrebenswert, da sie zu mehr Gerechtigkeit sowie zu einem besseren, glücklicheren, gesünderen und nachhaltigeren Leben für alle Menschen führt.