Wiederholt sich Geschichte? Genauer gefragt: Lässt sich der Wagner-Putsch in die Kontinuität russischer Geschichtsschreibung einreihen? Derartige Analogien erweisen sich bei genauerem Hinsehen als historisch ungenau und politisch nicht ganz ungefährlich.

  • Robert Kindler

    Robert Kindler ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin. 2022 erschien „Robbenreich. Russland und die Grenzen der Macht am Nordpazifik“ in der Hamburger Edition. Auf Twitter findet man ihn unter @ro_kind

Wenn die Ereig­nisse Fahrt aufnehmen und keine belast­baren Aussagen über die Zukunft möglich sind, dann schlägt die Stunde der histo­ri­schen Analogie. In der jüngeren oder ferneren Vergan­gen­heit wird nach ‚vergleich­baren‘ Situa­tionen gesucht, um zu verstehen, was sich noch nicht deuten lässt. Von der Entde­ckung vermeint­li­cher Ähnlich­keiten zwischen den dyna­mi­schen Verwer­fungen der Gegen­wart und früheren Konstel­la­tionen ist der Weg zum kompe­tent klin­genden ‚hot take‘ auf Social Media nicht weit. Doch tragen solche oft impro­vi­sierten Erklä­rungs­ver­suche oft mehr zur Verwir­rung als zur Erhel­lung bei. Wer der Versu­chung allzu rascher histo­ri­scher Analo­gie­schlüsse erliegt, erhält vor allem eines: verzerrte Bilder, die vorgeben, Ordnung in unüber­sicht­liche Verhält­nisse zu bringen.

Es sind indes keines­wegs nur Analyst:innen in Zeitnot, die sich histo­ri­scher Analo­gien bedienen. Die selek­tive Indienst­nahme histo­ri­scher Ereig­nisse spielt auch in der russi­schen Propa­ganda eine zentrale Rolle, in der poli­ti­sches Handeln in der Gegen­wart mit Verweisen auf die Vergan­gen­heit legi­ti­miert wird. Auch der russi­sche Präsi­dent Vladimir Putin hat sich dieses Verfah­rens unzäh­lige Male bedient. Im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges tut der Kreml­herr­scher dies mit stei­gender Frequenz und Vehe­menz. Histo­ri­sche Analo­gien sind gera­dezu zu einem von Putins Marken­zei­chen geworden und stehen im Kern seiner Geschichts­in­stru­men­ta­li­sie­rung und Umdeu­tungs­ver­suche. Ebenso verhält es sich mit der russi­schen Propa­ganda insge­samt, die in Zeiten des Krieges zu einer gigan­ti­schen Geschichts­ver­zer­rungs­ma­schine geworden ist – und inter­na­tio­nale Beobachter:innen glei­cher­maßen in Atem hält und zur Reak­tion herausfordert.

Marsch auf Moskau

So verhielt es sich auch am 23. und 24. Juni 2023, als bewaff­nete Ange­hö­rige der Wagner-Gruppe das Heft des Handelns in die Hand nahmen: In der Millio­nen­stadt Rostow-am-Don besetzten sie zunächst das Haupt­quar­tier der russi­schen Truppen in Südruss­land und rückten dann mit einer Mili­tär­ko­lonne auf Moskau vor. Unklar war, worin die Ziele dieser Einheiten bestanden: Wollten sie tatsäch­lich nur ihre Einglie­de­rung in die regu­lären Streit­kräfte verhin­dern oder wurde die Welt Zeuge eines Mili­tär­put­sches? Alles schien denkbar in diesen turbu­lenten Stunden: Ein Bürger­krieg, das Ende des Putin-Regimes oder gar eine atomare Eska­la­tion. Dann plötz­lich die drama­ti­sche Wende: Der bela­ru­si­sche Präsi­dent Aljaksandr Lukašenka habe, so hieß es, vermit­telnd einge­griffen und den Konflikt befriedet. Wagner-Chef Evgenij Prigožin sollte unbe­hel­ligt nach Belarus ausreisen und seinen Kämp­fern wurde Straf­frei­heit zuge­si­chert. Was an diesem Tag tatsäch­lich geschah, welche Ziele die Prot­ago­nisten verfolgten, warum die Konfron­ta­tion scheinbar unver­mit­telt endete und welche Konse­quenzen sich daraus ergeben, war und ist Gegen­stand von – teils äußerst weit­rei­chenden – Speku­la­tionen und einander wider­spre­chenden Deutungen.

In dieser höchst unüber­sicht­li­chen Situa­tion suchten profes­sio­nelle Beobachter:innen und Journalist:innen, aber auch Kreml­as­tro­logen und Social-Media-Nutzer:innen ihr analy­ti­sches Heil in der russi­schen Geschichte. Denn scheinbar wies das Geschehen Paral­lelen zu vergan­genen Revolten, Revo­lu­tionen und Putsch­si­tua­tionen auf. Und auch Putin selbst griff auf bewährte Instru­mente der Einord­nung und Sinn­ge­bung zurück, als er in seiner morgend­li­chen Reak­tion den Putsch­ver­such der Wagner­truppe mit histo­ri­schen Analo­gien versah. Er verglich die Ereig­nisse mit „1917“ und sprach von einem „Stoß in den Rücken unseres Landes“.

1917 oder „smuta with nukes“?

Insbe­son­dere Verweise auf das Revo­lu­ti­ons­jahr wurden im weiteren Verlauf des Tages in sozialen Netz­werken und Nach­rich­ten­mel­dungen immer wieder heran­ge­zogen, um die Dramatik der Lage zu illus­trieren. Denn „1917“ hielt offenbar eine ganze Reihe mehr oder minder plau­si­bler Vergleichs­mög­lich­keiten bereit, die von unter­schied­lichsten Seiten ins Spiel gebracht wurden, um das unbe­greif­liche Geschehen in Moskau und in den Regionen südlich der Haupt­stadt zu kontex­tua­li­sieren. Einige verwiesen dabei auf den Okto­ber­coup der Bolsche­wiki um Lenin, während andere Stimmen eher das Ende der Zaren­herr­schaft im Februar 1917 als mögli­chen Bezugs­punkt ausmachten. Manchen Historiker:innen kam hingegen der „Kornilov-Putsch“ vom Sommer 1917 als – wenn­gleich – lose Analogie in den Sinn: Der russi­sche Ober­be­fehls­haber Lavr Kornilov marschierte mit seinen Truppen auf Petro­grad, weil er die Zukunft des Landes in Gefahr sah.  

Doch die Analo­gie­schlüsse beschränkten sich nicht auf das Epochen­jahr 1917. Wer etwa den hekti­schen Debatten auf Twitter und anderswo folgte, die den Wagner-Aufstand in Echt­zeit kommen­tierten, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Zeug:in eines bizarren Über­bie­tungs­wett­be­werbs zu werden, bei dem so ziem­lich alle Aufstände und Umsturz­ver­suche der russi­schen und sowje­ti­schen Geschichte als Erklä­rungs­mo­dell herhalten mussten. Großer Beliebt­heit erfreuten sich dabei insbe­son­dere Hinweise auf die Frühe Neuzeit. So vergli­chen einige Prigoschins Marsch auf Moskau mit der „Zeit der Wirren“ („smuta“) zwischen 1598 bis 1613, durch wech­selnde Herr­scher und rück­sichts­lose Ausein­an­der­set­zungen um die Macht geprägt war. Der Histo­riker Sergey Radchenko brachte die damit verbun­denen Gefahren in einem Tweet auf die grif­fige Formel „Smuta with nukes“.

Andere meinen in Prigožin einen Wieder­gänger des Kosa­kena­ta­manen Sten’ka Razin zu erkennen, der 1670/71 einen Aufstand anführte und eben­falls vom Süden Russ­lands aus operierte, oder ziehen Paral­lelen zum Pugačev-Aufstand in den 1770er Jahren, der sich auf eine breite Anhän­ger­schaft stützen konnte. Mit Blick auf den vorläu­figen Ausgang des Dramas und die Auswei­sung Prigožins nach Belarus verwiesen einzelne Stimmen auch auf den Aufstand der Deka­b­risten aus dem Jahr 1825, dessen Anführer hinge­richtet und zahl­reiche Anhänger nach Sibi­rien verbannt wurden.

„Russkij bunt“ und die Kultur der Niederlage

In aller Regel beschränkten sich derar­tige Analo­gie­ver­suche auf die Benen­nung scheinbar offen­kun­diger Ähnlich­keiten, ohne histo­ri­sche Kontexte auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Damit verbunden ist aller­dings stets die impli­zite Annahme, es gäbe in der russi­schen Geschichte über­zeit­liche Muster und Charak­te­ris­tika, die sich in Zeiten der Krise und des Aufstands offen­barten. Dazu gehört insbe­son­dere der Topos der „rück­sichts­losen“ und „sinn­losen“ Gewalt, die sich im „russi­schen Aufruhr“ („russkij bunt“) entlade, wie es in Anleh­nung an eine berühmte Formu­lie­rung in Alek­sandr Puškins Roman Die Haupt­manns­tochter heißt. Auch im Zusam­men­hang mit Prigožins Vormarsch auf Moskau griffen Beobachter:innen auf dieses Motiv zurück. Doch was ist damit eigent­lich gesagt, außer dass Aufstände in Russ­land oft gewaltsam und blutig verliefen? Ähnli­ches lässt sich aus allen Teilen der Welt berichten. Auch der Hinweis, die Russen würden die „Doppel­herr­schaft“ nicht schätzen, erklärt letzt­lich nichts, denn: Wann und wo hat es sich jemals anders verhalten?   

Eine weitere häufig genannte Paral­lele ist die scheinbar immer wieder­keh­rende russi­sche „Kultur der Nieder­lage“, in der auf mili­tä­ri­sche Kata­stro­phen innen­po­li­ti­sche Reformen oder Revo­lu­tionen folgten: Markante Daten sind hier etwa die Nieder­lage im Krym­krieg 1856, auf die ab Beginn der 1860er Jahre die „Großen Reformen“ folgten, der verlo­rene Krieg gegen Japan 1904/5, der in die Revo­lu­tion von 1905 mündete, die mili­tä­ri­schen Verluste im Ersten Welt­krieg, die zu den Revo­lu­tionen des Jahres 1917 führten sowie der Rückzug aus Afgha­ni­stan 1989, der eng mit dem Zerfall der Sowjet­union verbunden war. In dieser Perspek­tive wird die Aktion der Wagner-Söldner als klares Symptom für die russi­schen Nieder­lage im Krieg gegen die Ukraine und daraus resul­tie­rende Verän­de­rungen inter­pre­tiert. Viel­ver­spre­chend schien manchen Beob­ach­tern schließ­lich auch der Hinweis auf den miss­glückten Putsch­ver­such von 1991 zu sein, als Gegner von Gorbačevs Reform­po­litik die Panzer in Moskau auffahren ließen und dann kläg­lich daran schei­terten, die Macht zu über­nehmen. Insbe­son­dere das abrupte Ende der Aktion verlieh solchen Analo­gie­schlüssen zusätz­liche Plausibilität.

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Erklä­rungs­si­mu­la­tionen, Komple­xi­täts­re­duk­tion und die Welt­wahr­neh­mung der anderen

Allein anhand dieser unvoll­stän­digen Aufzäh­lung histo­ri­scher Analo­gien wird deut­lich, wie bescheiden es um ihr jewei­liges analy­ti­sches Poten­zial letzt­lich bestellt ist. Im Kern handelt es sich dabei um Erklä­rungs­si­mu­la­tionen, bei denen einzelne Aspekte aus dem Zusam­men­hang gerissen und neben­ein­ander gestellt werden. Der Philo­soph Hans Blumen­berg hat einmal ange­merkt, mit Hilfe von Analo­gie­schlüssen sei es möglich, Komple­xität zu redu­zieren und in unüber­sicht­li­chen Situa­tionen und unter Zeit­druck handlungs- und deutungs­fähig zu bleiben. Analo­gien sind also unver­zichtbar, um Kontin­genz zu bewäl­tigen. Doch mit Geschichts­wis­sen­schaft oder histo­ri­schem Denken hat dies nur wenig zu tun.

Auch belast­bare Schluss­fol­ge­rungen zur Gegen­warts­deu­tung oder gar Zukunfts­pro­gnosen kann es allein auf einer solchen Grund­lage kaum geben. Viel­mehr erschwert die inten­sive Suche nach histo­ri­schen Paral­lelen mitunter die vorur­teils­freie Analyse der Gegen­wart. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie banal: Geschichte wieder­holt sich nicht. Doch die histo­ri­sche Analogie sugge­riert eben dies: Dass aus (vermeint­lich) ähnli­chen Konstel­la­tionen auch ähnliche Folgen resul­tieren. Und weil dies stets im Bereich des Mögli­chen liegt, wird Analo­gie­schlüssen viel­fach der Status einer soliden Heuristik zuge­bil­ligt. Doch worin besteht der Nutzen histo­ri­scher Analo­gien, wenn sie die Gegen­wart nur bedingt zu erklären vermögen? Zunächst einmal kommt ihnen eine instru­men­telle Funk­tion zu; etwa, indem poli­ti­sches Handeln mit dem Verweis auf vergan­gene Ereig­nisse legi­ti­miert wird, wie es in der russi­schen Politik und Öffent­lich­keit exzessiv vorex­er­ziert wird. Dieses Denken und Spre­chen in Konti­nui­täten und „histo­ri­schen Gesetz­mä­ßig­keiten“ hat eine system­sta­bi­li­sie­rende Funk­tion: Der tenden­ziell herme­ti­sche Diskurs­raum dient der Herstel­lung vermeint­li­cher Zukunfts­si­cher­heit und der Abschot­tung gegen kontin­gente Dyna­miken glei­cher­maßen. Diese Praxis funk­tio­niert auch unter umge­kehrten Vorzei­chen in Zeiten der Krise. So lässt sich etwa Vladimir Putins Verweis auf „1917“ als Warnung vor poli­ti­scher Insta­bi­lität verstehen, mit der ein verstärkter Einsatz repres­siver Mittel gerecht­fer­tigt werden kann. Prak­tiken der Macht­si­che­rung in der Gegen­wart werden so mit vergan­genem Chaos begründet.

Histo­ri­sche Analo­gien dienen zudem der unver­hoh­lenen Straf­an­dro­hung. So etwa der Propa­gan­dist Dmitrij Kiselev, der in seiner viel­ge­se­henen TV-Show mit Blick auf Prigožin erklärte, in der russi­schen Geschichte gäbe es viele Beispiele dafür, dass „Helden der Front für began­gene Verbre­chen streng bestraft wurden“. So sei es mit Pugačev gewesen, aber auch mit dem Kosa­ken­hetman Ivan Mazepa (1639-1709) oder mit dem schlimmsten aller Verräter, dem sowje­ti­schen General Andrej Vlasov, der im Zweiten Welt­krieg auf Seiten der Deut­schen kämpfte. Kiselev ließ bei seinen Ausfüh­rungen keinen Zweifel daran, dass auch Prigožin in diese Reihe gehört.

Kurzum: Histo­ri­sche Analo­gien geben Auskunft über Denken und Auffas­sungen ihrer Urheber:innen. Sie zeigen, wie sie sich die Zukunft imagi­nieren und auf welche Weise Geschichte zur Legi­ti­ma­tion dieser Erwar­tungen instru­men­ta­li­siert werden soll. Dabei ist es voll­kommen irrele­vant, ob die behaup­teten Zusam­men­hänge ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sind. Inter­es­sant ist allein, dass sie über­haupt herge­stellt werden. Um dies noch einmal am Beispiel Putins zu illus­trieren: Sein Spre­chen über 1917 kann auch als Furcht vor den desta­bi­li­sie­renden Effekten innerer Unruhen in Zeiten des Krieges gedeutet werden. Fatale Wirkung könnte ein solcher Diskurs entfalten, wenn er – gleich einer sich selbst erfül­lenden Prophe­zeiung – als eine Art Hand­lungs­auf­for­de­rung begriffen würde. Der Histo­riker Jan C. Behrends erklärte in diesem Zusam­men­hang zurecht, Putins Vergleich sei „gefähr­lich“, da der Präsi­dent ja wisse, „wie es für den letzten Zaren endete“.

Doch auch jene, die den kurz­le­bigen Wagner-Aufstand oder andere Ereig­nisse der jüngsten russi­schen Gegen­wart an der Elle vergan­gener Ereig­nisse maßen, müssen sich fragen lassen, welche Stereo­type ihre Inter­pre­ta­tionen beein­flussten und weshalb es sich so verhielt. Denn die zahl­rei­chen Analo­gie­schlüsse deuten auf eine Essen­tia­li­sie­rung Russ­lands, auf die mehr oder minder expli­zite Exoti­sie­rung des Landes und vor allem auf ein – in anderen Kontexten längst über­wun­denes – Denken in histo­ri­schen Konti­nui­täten und „Konstanten“. Darin liegt jedoch nicht nur ein analy­ti­scher Kurz­schluss, sondern auch eine Gefahr: Unbe­wusst und ohne es zu wollen affir­miert diese Perspek­tive letzt­end­lich, was auch von den Herren im Kreml gedacht und gewollt wird. Doch diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.