Wenn die Ereignisse Fahrt aufnehmen und keine belastbaren Aussagen über die Zukunft möglich sind, dann schlägt die Stunde der historischen Analogie. In der jüngeren oder ferneren Vergangenheit wird nach ‚vergleichbaren‘ Situationen gesucht, um zu verstehen, was sich noch nicht deuten lässt. Von der Entdeckung vermeintlicher Ähnlichkeiten zwischen den dynamischen Verwerfungen der Gegenwart und früheren Konstellationen ist der Weg zum kompetent klingenden ‚hot take‘ auf Social Media nicht weit. Doch tragen solche oft improvisierten Erklärungsversuche oft mehr zur Verwirrung als zur Erhellung bei. Wer der Versuchung allzu rascher historischer Analogieschlüsse erliegt, erhält vor allem eines: verzerrte Bilder, die vorgeben, Ordnung in unübersichtliche Verhältnisse zu bringen.
Es sind indes keineswegs nur Analyst:innen in Zeitnot, die sich historischer Analogien bedienen. Die selektive Indienstnahme historischer Ereignisse spielt auch in der russischen Propaganda eine zentrale Rolle, in der politisches Handeln in der Gegenwart mit Verweisen auf die Vergangenheit legitimiert wird. Auch der russische Präsident Vladimir Putin hat sich dieses Verfahrens unzählige Male bedient. Im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges tut der Kremlherrscher dies mit steigender Frequenz und Vehemenz. Historische Analogien sind geradezu zu einem von Putins Markenzeichen geworden und stehen im Kern seiner Geschichtsinstrumentalisierung und Umdeutungsversuche. Ebenso verhält es sich mit der russischen Propaganda insgesamt, die in Zeiten des Krieges zu einer gigantischen Geschichtsverzerrungsmaschine geworden ist – und internationale Beobachter:innen gleichermaßen in Atem hält und zur Reaktion herausfordert.
Marsch auf Moskau
So verhielt es sich auch am 23. und 24. Juni 2023, als bewaffnete Angehörige der Wagner-Gruppe das Heft des Handelns in die Hand nahmen: In der Millionenstadt Rostow-am-Don besetzten sie zunächst das Hauptquartier der russischen Truppen in Südrussland und rückten dann mit einer Militärkolonne auf Moskau vor. Unklar war, worin die Ziele dieser Einheiten bestanden: Wollten sie tatsächlich nur ihre Eingliederung in die regulären Streitkräfte verhindern oder wurde die Welt Zeuge eines Militärputsches? Alles schien denkbar in diesen turbulenten Stunden: Ein Bürgerkrieg, das Ende des Putin-Regimes oder gar eine atomare Eskalation. Dann plötzlich die dramatische Wende: Der belarusische Präsident Aljaksandr Lukašenka habe, so hieß es, vermittelnd eingegriffen und den Konflikt befriedet. Wagner-Chef Evgenij Prigožin sollte unbehelligt nach Belarus ausreisen und seinen Kämpfern wurde Straffreiheit zugesichert. Was an diesem Tag tatsächlich geschah, welche Ziele die Protagonisten verfolgten, warum die Konfrontation scheinbar unvermittelt endete und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, war und ist Gegenstand von – teils äußerst weitreichenden – Spekulationen und einander widersprechenden Deutungen.
In dieser höchst unübersichtlichen Situation suchten professionelle Beobachter:innen und Journalist:innen, aber auch Kremlastrologen und Social-Media-Nutzer:innen ihr analytisches Heil in der russischen Geschichte. Denn scheinbar wies das Geschehen Parallelen zu vergangenen Revolten, Revolutionen und Putschsituationen auf. Und auch Putin selbst griff auf bewährte Instrumente der Einordnung und Sinngebung zurück, als er in seiner morgendlichen Reaktion den Putschversuch der Wagnertruppe mit historischen Analogien versah. Er verglich die Ereignisse mit „1917“ und sprach von einem „Stoß in den Rücken unseres Landes“.
1917 oder „smuta with nukes“?
Insbesondere Verweise auf das Revolutionsjahr wurden im weiteren Verlauf des Tages in sozialen Netzwerken und Nachrichtenmeldungen immer wieder herangezogen, um die Dramatik der Lage zu illustrieren. Denn „1917“ hielt offenbar eine ganze Reihe mehr oder minder plausibler Vergleichsmöglichkeiten bereit, die von unterschiedlichsten Seiten ins Spiel gebracht wurden, um das unbegreifliche Geschehen in Moskau und in den Regionen südlich der Hauptstadt zu kontextualisieren. Einige verwiesen dabei auf den Oktobercoup der Bolschewiki um Lenin, während andere Stimmen eher das Ende der Zarenherrschaft im Februar 1917 als möglichen Bezugspunkt ausmachten. Manchen Historiker:innen kam hingegen der „Kornilov-Putsch“ vom Sommer 1917 als – wenngleich – lose Analogie in den Sinn: Der russische Oberbefehlshaber Lavr Kornilov marschierte mit seinen Truppen auf Petrograd, weil er die Zukunft des Landes in Gefahr sah.
Doch die Analogieschlüsse beschränkten sich nicht auf das Epochenjahr 1917. Wer etwa den hektischen Debatten auf Twitter und anderswo folgte, die den Wagner-Aufstand in Echtzeit kommentierten, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Zeug:in eines bizarren Überbietungswettbewerbs zu werden, bei dem so ziemlich alle Aufstände und Umsturzversuche der russischen und sowjetischen Geschichte als Erklärungsmodell herhalten mussten. Großer Beliebtheit erfreuten sich dabei insbesondere Hinweise auf die Frühe Neuzeit. So verglichen einige Prigoschins Marsch auf Moskau mit der „Zeit der Wirren“ („smuta“) zwischen 1598 bis 1613, durch wechselnde Herrscher und rücksichtslose Auseinandersetzungen um die Macht geprägt war. Der Historiker Sergey Radchenko brachte die damit verbundenen Gefahren in einem Tweet auf die griffige Formel „Smuta with nukes“.
Andere meinen in Prigožin einen Wiedergänger des Kosakenatamanen Sten’ka Razin zu erkennen, der 1670/71 einen Aufstand anführte und ebenfalls vom Süden Russlands aus operierte, oder ziehen Parallelen zum Pugačev-Aufstand in den 1770er Jahren, der sich auf eine breite Anhängerschaft stützen konnte. Mit Blick auf den vorläufigen Ausgang des Dramas und die Ausweisung Prigožins nach Belarus verwiesen einzelne Stimmen auch auf den Aufstand der Dekabristen aus dem Jahr 1825, dessen Anführer hingerichtet und zahlreiche Anhänger nach Sibirien verbannt wurden.
„Russkij bunt“ und die Kultur der Niederlage
In aller Regel beschränkten sich derartige Analogieversuche auf die Benennung scheinbar offenkundiger Ähnlichkeiten, ohne historische Kontexte auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Damit verbunden ist allerdings stets die implizite Annahme, es gäbe in der russischen Geschichte überzeitliche Muster und Charakteristika, die sich in Zeiten der Krise und des Aufstands offenbarten. Dazu gehört insbesondere der Topos der „rücksichtslosen“ und „sinnlosen“ Gewalt, die sich im „russischen Aufruhr“ („russkij bunt“) entlade, wie es in Anlehnung an eine berühmte Formulierung in Aleksandr Puškins Roman Die Hauptmannstochter heißt. Auch im Zusammenhang mit Prigožins Vormarsch auf Moskau griffen Beobachter:innen auf dieses Motiv zurück. Doch was ist damit eigentlich gesagt, außer dass Aufstände in Russland oft gewaltsam und blutig verliefen? Ähnliches lässt sich aus allen Teilen der Welt berichten. Auch der Hinweis, die Russen würden die „Doppelherrschaft“ nicht schätzen, erklärt letztlich nichts, denn: Wann und wo hat es sich jemals anders verhalten?
Eine weitere häufig genannte Parallele ist die scheinbar immer wiederkehrende russische „Kultur der Niederlage“, in der auf militärische Katastrophen innenpolitische Reformen oder Revolutionen folgten: Markante Daten sind hier etwa die Niederlage im Krymkrieg 1856, auf die ab Beginn der 1860er Jahre die „Großen Reformen“ folgten, der verlorene Krieg gegen Japan 1904/5, der in die Revolution von 1905 mündete, die militärischen Verluste im Ersten Weltkrieg, die zu den Revolutionen des Jahres 1917 führten sowie der Rückzug aus Afghanistan 1989, der eng mit dem Zerfall der Sowjetunion verbunden war. In dieser Perspektive wird die Aktion der Wagner-Söldner als klares Symptom für die russischen Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und daraus resultierende Veränderungen interpretiert. Vielversprechend schien manchen Beobachtern schließlich auch der Hinweis auf den missglückten Putschversuch von 1991 zu sein, als Gegner von Gorbačevs Reformpolitik die Panzer in Moskau auffahren ließen und dann kläglich daran scheiterten, die Macht zu übernehmen. Insbesondere das abrupte Ende der Aktion verlieh solchen Analogieschlüssen zusätzliche Plausibilität.
Erklärungssimulationen, Komplexitätsreduktion und die Weltwahrnehmung der anderen
Allein anhand dieser unvollständigen Aufzählung historischer Analogien wird deutlich, wie bescheiden es um ihr jeweiliges analytisches Potenzial letztlich bestellt ist. Im Kern handelt es sich dabei um Erklärungssimulationen, bei denen einzelne Aspekte aus dem Zusammenhang gerissen und nebeneinander gestellt werden. Der Philosoph Hans Blumenberg hat einmal angemerkt, mit Hilfe von Analogieschlüssen sei es möglich, Komplexität zu reduzieren und in unübersichtlichen Situationen und unter Zeitdruck handlungs- und deutungsfähig zu bleiben. Analogien sind also unverzichtbar, um Kontingenz zu bewältigen. Doch mit Geschichtswissenschaft oder historischem Denken hat dies nur wenig zu tun.
Auch belastbare Schlussfolgerungen zur Gegenwartsdeutung oder gar Zukunftsprognosen kann es allein auf einer solchen Grundlage kaum geben. Vielmehr erschwert die intensive Suche nach historischen Parallelen mitunter die vorurteilsfreie Analyse der Gegenwart. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie banal: Geschichte wiederholt sich nicht. Doch die historische Analogie suggeriert eben dies: Dass aus (vermeintlich) ähnlichen Konstellationen auch ähnliche Folgen resultieren. Und weil dies stets im Bereich des Möglichen liegt, wird Analogieschlüssen vielfach der Status einer soliden Heuristik zugebilligt. Doch worin besteht der Nutzen historischer Analogien, wenn sie die Gegenwart nur bedingt zu erklären vermögen? Zunächst einmal kommt ihnen eine instrumentelle Funktion zu; etwa, indem politisches Handeln mit dem Verweis auf vergangene Ereignisse legitimiert wird, wie es in der russischen Politik und Öffentlichkeit exzessiv vorexerziert wird. Dieses Denken und Sprechen in Kontinuitäten und „historischen Gesetzmäßigkeiten“ hat eine systemstabilisierende Funktion: Der tendenziell hermetische Diskursraum dient der Herstellung vermeintlicher Zukunftssicherheit und der Abschottung gegen kontingente Dynamiken gleichermaßen. Diese Praxis funktioniert auch unter umgekehrten Vorzeichen in Zeiten der Krise. So lässt sich etwa Vladimir Putins Verweis auf „1917“ als Warnung vor politischer Instabilität verstehen, mit der ein verstärkter Einsatz repressiver Mittel gerechtfertigt werden kann. Praktiken der Machtsicherung in der Gegenwart werden so mit vergangenem Chaos begründet.
Historische Analogien dienen zudem der unverhohlenen Strafandrohung. So etwa der Propagandist Dmitrij Kiselev, der in seiner vielgesehenen TV-Show mit Blick auf Prigožin erklärte, in der russischen Geschichte gäbe es viele Beispiele dafür, dass „Helden der Front für begangene Verbrechen streng bestraft wurden“. So sei es mit Pugačev gewesen, aber auch mit dem Kosakenhetman Ivan Mazepa (1639-1709) oder mit dem schlimmsten aller Verräter, dem sowjetischen General Andrej Vlasov, der im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen kämpfte. Kiselev ließ bei seinen Ausführungen keinen Zweifel daran, dass auch Prigožin in diese Reihe gehört.
Kurzum: Historische Analogien geben Auskunft über Denken und Auffassungen ihrer Urheber:innen. Sie zeigen, wie sie sich die Zukunft imaginieren und auf welche Weise Geschichte zur Legitimation dieser Erwartungen instrumentalisiert werden soll. Dabei ist es vollkommen irrelevant, ob die behaupteten Zusammenhänge ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sind. Interessant ist allein, dass sie überhaupt hergestellt werden. Um dies noch einmal am Beispiel Putins zu illustrieren: Sein Sprechen über 1917 kann auch als Furcht vor den destabilisierenden Effekten innerer Unruhen in Zeiten des Krieges gedeutet werden. Fatale Wirkung könnte ein solcher Diskurs entfalten, wenn er – gleich einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – als eine Art Handlungsaufforderung begriffen würde. Der Historiker Jan C. Behrends erklärte in diesem Zusammenhang zurecht, Putins Vergleich sei „gefährlich“, da der Präsident ja wisse, „wie es für den letzten Zaren endete“.
Doch auch jene, die den kurzlebigen Wagner-Aufstand oder andere Ereignisse der jüngsten russischen Gegenwart an der Elle vergangener Ereignisse maßen, müssen sich fragen lassen, welche Stereotype ihre Interpretationen beeinflussten und weshalb es sich so verhielt. Denn die zahlreichen Analogieschlüsse deuten auf eine Essentialisierung Russlands, auf die mehr oder minder explizite Exotisierung des Landes und vor allem auf ein – in anderen Kontexten längst überwundenes – Denken in historischen Kontinuitäten und „Konstanten“. Darin liegt jedoch nicht nur ein analytischer Kurzschluss, sondern auch eine Gefahr: Unbewusst und ohne es zu wollen affirmiert diese Perspektive letztendlich, was auch von den Herren im Kreml gedacht und gewollt wird. Doch diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.
Auch wenn ich mittlerweile festgestellt habe, dass Kommentare unbeantwortet bleiben, nutze ich diese Fuktion auch weiterhin ab und zu. Und stelle dieses Mal schlicht die Frage: wer ist denn „wir“ im letzten Satz?