Was ist die Aufgabe der Literatur? Wie politisch darf, ja muss sie sein? Immer wieder hört man, dass Literatur, die wirksam werden will, sich über ausserliterarische Kriterien legitimieren muss. Das gilt von der politischen Bühne bis in die Kinderzimmer hinein.

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

Anläss­lich der Inau­gu­ra­ti­ons­feier von Joe Biden und Kamala Harris trug die 22jährige Lyri­kerin Amanda Gorman ihr Gedicht The Hill We Climb“ vor. Mit ihrem Text und ihrer Perfor­mance berührte sie Millionen von Zuschauer:innen auf der ganzen Welt. Am aller­meisten viel­leicht mit diesem Satz, in dem die Bedeu­tung der Lite­ratur für die Politik zur Sprache kommt – und umgekehrt:

We, the succes­sors of a country and a time where a skinny Black girl descended from slaves and raised by a single mother can dream of beco­ming presi­dent, only to find herself reci­ting for one.

Lite­ratur ist demnach poli­tisch, weil der Kampf um poli­ti­sche Rechte und poli­ti­sche Teil­habe unmit­telbar mit dem Kampf um einen Zugang zum ästhe­ti­schen Echo- und Expe­ri­men­tier­raum der Kunst zusammenhängt.

Die Stimme erheben als poli­ti­sche Handlung

In einer Perfor­mance mit dem Titel Using your voice is a poli­tical choice“ erklärt Amanda Gorman, wie sie, die als Kind auch noch mit einer Sprech­be­ein­träch­ti­gung zu kämpfen hatte, den Mut fand, ihre Leiden­schaft für die Lite­ratur nicht nur schrei­bend auszu­leben, sondern auch spre­chend vor Publikum. Darin liege der eigent­liche poli­ti­sche Akt: „the choice to be heard is the most poli­tical act of all“. Entschei­dend sei, welche Geschichten wie erzählt werden, um andere Perspek­tiven und Erfah­rungen sichtbar zu machen als jene, die in der Lite­ratur immer schon reprä­sen­tiert sind. Es geht ihr also darum, wer spricht und wie er oder sie eine Geschichte erzählt; um die Art und Weise, wie die Figuren und die Dinge zuein­ander in Bezie­hung gesetzt sind und welche Fäden die Texte aufnehmen und weiter­spinnen. In einem Inter­view mit den New York Times erzählt Gorman, wie sie als Schü­lerin erst durch die Entde­ckung von Toni Morri­sons „The Bluest Eye“(1970) über­haupt den Zugang zu ihrer eigenen Stimme fand:

[…] I’d never seen a book with a dark-skinned, nappy-haired girl on the cover. I was enthr­alled. […] What’s more, I realized that all of the stories I read, and wrote, featured white or light-skinned charac­ters. I’d been reading books without black hero­ines, which nearly stripped me of the ability to write in my own voice, black­ness and all. Reading Morrison was almost like retea­ching myself how to write unapo­lo­ge­ti­cally in a black and femi­nist aesthetic that was my own. After that I made a promise to myself: To never stop writing, and to always repre­sent margi­na­lized figures in my work.

Das erin­nert an die Über­le­gungen des fran­zö­si­schen Philo­so­phen Jacques Rancière zur Auftei­lung des Sinn­li­chen und zum eman­zi­pierten Zuschauer. Als er den Brief­wechsel zweier Arbeiter aus den 1830er-Jahren las, in der Erwar­tung, „darin Infor­ma­tionen über die Lebens­be­din­gungen und über das Bewusst­sein der Arbeiter dieser Zeit zu erlangen», erlebte er eine Über­ra­schung. Was er vorfand, war etwas ganz anderes. Die beiden berichten einander in ihren Briefen nicht von Arbeit und Rege­ne­ra­tion, sondern von ihren Musse­stunden; von intel­lek­tu­ellen und ästhe­ti­schen Erfah­rungen mit den Künsten und in der Natur.

Der einfache Bericht ihrer Frei­zeit­be­schäf­ti­gungen zwang dazu, die etablierten Bezie­hungen zwischen Sehen, Machen und Spre­chen neu zu formu­lieren. Indem sie sich zu Zuschauern und Besu­chern machten, erschüt­terten sie die Auftei­lung des Sinn­li­chen, die verlangt, dass dieje­nigen, die arbeiten, nicht die Zeit haben, ihre Schritte und Blicke vom Zufall lenken zu lassen.

Rancière zieht daraus die Schluss­fol­ge­rung, dass Eman­zi­pa­tion genau dieses Verwi­schen der Grenze zwischen denen, die handeln, und denen, die zusehen, bedeute. Die Wirkung von Amanda Gormans Perfor­mance besteht viel­leicht gerade darin, dass sie das, was Lite­ratur im Ranciè­re­schen Sinne poli­tisch macht, auf über­zeu­gende Weise verkörpert.

Gormans Auftritt begeis­terte aber längst nicht alle. Die Kritik kam von zwei Seiten. Es wurden Stimmen laut, die monierten, das Gedicht sei zu wenig viel­schichtig in seiner auf Gegen­sätze von hell und dunkel aufbau­enden Bild­sprache, es biete nicht genü­gend Deutungs­an­ge­bote, sei zu pathe­tisch und zu ideo­lo­gisch. Andere ärgerten sich, weil der Auftritt nicht poli­tisch genug gewesen sei; eine verge­bene Chance, um konkrete Miss­stände anzuprangern.

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Man könnte hier viel über die notwen­di­ger­weise patrio­tisch gefärbte Text­sorte des Inau­gu­ra­ti­ons­ge­dichtes sagen, die in Gormans Text durchaus reflek­tiert wird, über die klug gestal­tete Bild­sprache und die Form des Gedichts, dem euphorisch-atemlos verket­teten Rhythmus. Denn in dieser Verket­tung präsen­tiert das spre­chende, das wider alle Erwar­tung zur Sprache gekom­mene Ich seine Posi­tion als ein Wir, das in grös­sere Zusam­men­hänge einge­bettet ist, als Teil eines viel­stim­migen Chores. Doch hier soll es nicht um eine Analyse des Gedichts und seiner kriti­schen Lektüren gehen, sondern um die Frage, warum Gormans Einstehen für die eman­zi­pa­to­ri­sche Kraft des ästhe­ti­schen Raumes von einer Diskus­sion um die ausser­li­te­ra­ri­sche Legi­ti­ma­tion von Lite­ratur über­la­gert wird.

Was macht die Lite­ratur mit uns?

Die Reak­tion auf Gormans Auftritt ist kein Einzel­fall. Sie verweist viel­mehr darauf, dass in der öffent­li­chen Diskus­sion über Lite­ratur und ihre gesell­schaft­liche Funk­tion eine ambi­va­lente, gera­dezu wider­sprüch­liche Haltung vorherrscht. Einer­seits wird lite­ra­ri­schen Texten jede Rele­vanz abge­spro­chen, gleich­zeitig werden wir aber vor ihrer mani­pu­la­tiven Macht gewarnt. Im Umgang mit der offenbar schwer zu ertra­genden Offen­heit und Ambi­va­lenz lite­ra­ri­scher Texte lassen sich grund­sätz­lich zwei Tendenzen beob­achten: Kritik an der poli­ti­schen Haltung, die den Texten und ihren Autor:innen unter­stellt wird, und Kontrolle der Leser:innen. In beiden Fällen richtet sich das Miss­trauen gar nicht so sehr gegen lite­ra­ri­sche Texte und ihr Poten­tial, Wider­sprüche zu gestalten, Grenzen aufzu­lösen und Fragen zu provo­zieren. Das Miss­trauen richtet sich vornehm­lich gegen das Lese­pu­blikum. Mit Argu­menten, die bereits im späten 18. Jahr­hun­dert in Anschlag gebracht wurden, um vor allem Frauen und Kinder vor einer bedroh­li­chen „Lesesucht“zu bewahren, wird versucht, den unsicht­baren, wild wuchernden, höchst indi­vi­du­ellen Prozess des Lesens zu kontrollieren.

Kriti­sche Analysen von Gormans Inau­gu­ra­ti­ons­ge­dicht kommen zum Schluss, dass dessen über­zeu­gende rheto­ri­sche Gestal­tung zu suggestiv sei; dem Publikum wird nicht zuge­traut, sich selbst eine Meinung zu bilden. Was bei dieser Betrach­tungs­weise vergessen geht, ist die Eigen­heit von Lite­ratur und Kunst über­haupt, Menschen als physi­sche, emotio­nale und intel­lek­tu­elle Wesen anzu­spre­chen. Es gibt aber auch durchaus gut gemeinte Versuche, Lite­ratur dadurch zu legi­ti­mieren, dass ihr die Ambi­va­lenz ab- und ein ganz konkreter gesell­schaft­li­cher Nutzen zuge­spro­chen wird. Ein Beispiel dafür ist das Projekt Cassandra, unter­stützt vom deut­schen Bundes­mi­nis­te­rium für Vertei­di­gung. Ein Team von Literaturwissenschaftler:innen arbeitet daran, „Lite­ra­tur­aus­wer­tung“ für Krisen­früh­erken­nung einzu­setzen, also lite­ra­ri­sche Texte als Progno­se­instru­mente im Bereich der Gewalt­prä­ven­tion nutzbar zu machen. Dabei stützen sich die Forscher vor allem auf die Themen von Romanen aus Krisen­ge­bieten und deren Rezep­tion – die manchmal nicht mehr sehr viel mit den Texten selbst zu tun hat. Auf der Home­page von Cassandra heißt es dazu:

Erste Fall­stu­dien des Projekts zum Kosovo-Serbien-Konflikt (1998/99), Nigeria und Alge­rien haben gezeigt, dass Lite­ra­tur­be­ob­ach­tung und -auswer­tung früh­zeitig aufzeigen kann, wo und wie sich Wahrnehmungs- und Deutungs­muster verschieben und wo und wie fiktio­nale Texte Einfluss nehmen auf die Inter­pre­ta­ti­ons­rahmen von Gruppen und Gesell­schaften – oft schon Jahre bevor sich diese in konkreten Hand­lungen sichtbar manifestieren.

Nun soll den Tübinger Forscher:innen nicht unter­stellt werden, dass sie der Lite­ratur grund­sätz­lich Viel­deu­tig­keit und Komple­xität abspre­chen – doch der Fokus des Projekt führt dazu, dass das, was Lite­ratur wirk­lich kann, so wie es Amanda Gorman gezeigt hat, aus dem Blick gerät.

Was wir hier vor uns haben, ist im Grunde ein Versuch, der Lite­ratur die Zähne zu ziehen. Sie soll auf eine bestimmte Art bilden und nützen, statt ihre Leser:innen in unkon­trol­lier­bare  Lektü­re­pro­zesse zu verwi­ckeln, von denen niemand sagen kann, wohin sie führen. Para­do­xer­weise lassen sich solche Bemü­hungen ausge­rechnet dort beob­achten, wo mit viel Einsatz um junge Leser:innen geworben wird. Auf den zahl­rei­chen Leseförderungs-Datenbanken, zum Beispiel bei der Stif­tung Lesen, werden Lektüren nach Alter, Ziel­gruppe und Thema empfohlen. Man könnte, nicht ganz zu Unrecht, entgegnen, dass es unmög­lich ist, mit stilis­ti­schen oder atmo­sphä­ri­schen Krite­rien zu arbeiten.

In der Diskus­sion um Lektüren für Kinder und Jugend­liche geht es aber allge­mein nur ganz am Rand um lite­ra­ri­sche Krite­rien und um die ästhe­ti­schen Räume, die solche Texte eröffnen könnten. Im Zentrum stehen Fragen nach rele­vanten und anspre­chenden Themen und Geschichten aus der Lebens­welt von Jugend­li­chen, die sie aus ihrem Alltag kennen. Nur so, heisst es, könnten sich die jungen und v.a. auch die bildungs­fernen Leser:innen mit den Texten iden­ti­fi­zieren. Die Fixie­rung aufs Thema­ti­sche wirkt sich auch auf das Angebot der Verlage aus und führt dazu, dass viele Romane für Jugend­liche als Problem­bü­cher daher­kommen. Für die pädago­gi­sche Abhand­lung von Problemen, über die Jugend­liche etwas lernen sollen, etwa Gewalt, Drogen, Social Media oder Konflikte in Patch­work­fa­mi­lien, werden über­zeu­gende Figuren und glaub­wür­dige Geschichten geop­fert. Ziel­füh­rend ist das nicht, denn wer möchte schon lang­wei­lige Bücher lesen, wenn es aufre­gende und aben­teu­er­liche gibt. Ach ja, und wie war das noch einmal mit Rancières Arbei­tern aus dem 19. Jahr­hun­dert? In ihren Briefen spra­chen sie nicht über ihren grauen Alltag, sondern von beson­deren Freuden.

Es gibt aber Verlage und Schriftsteller:innen, die sich nicht an diese Empfeh­lungen halten. Denn sämt­liche Best­steller der letzten Jahre, von Harry Potter bis zu John Greens Liebes­ro­manen, erzählen Geschichten, die mehr mit Träumen und Sehn­süchten, mit der Suche nach Freund­schaft und Liebe und nach künst­le­ri­schen Gestal­tungs­räumen zu tun haben als mit den Heraus­for­de­rungen des Schul- und Arbeitsalltags.

Auch Amanda Gorman hat ihre Stimme nicht nur deshalb entdeckt, weil sie mit Büchern in Kontakt kam, in denen die Prot­ago­nis­tinnen schwarze Mädchen und Frauen waren, die in ähnli­chen Verhält­nissen aufwuchsen wie sie. Entschei­dend war eine ästhe­ti­sche Haltung gegen­über der Welt, von der sie sich intel­lek­tuell und emotional ange­spro­chen fühlte, die sie sich zu eigen machen und trans­for­mieren konnte. Die Frage, wie poli­tisch Lite­ratur sein muss oder darf, ist falsch gestellt. Sie ist, wie die eman­zi­pa­to­ri­sche Geschichte der Lyri­kerin Amanda Gorman exem­pla­risch zeigt, immer schon politisch.