„Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ fragte Wolfgang Thierse in einem vielbeachteten Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2021. Eine Frage, die nicht erst seitdem die deutsche Medienlandschaft umtreibt. 2022 finden sich auf LexisNexis für deutschsprachige Publikationen fast 1500 Artikel, die das Wort verwenden. Erst im März dieses Jahres rangen im SWR Demokratieforum der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller, CDU-Politikerin Julia Klöckner und die Politikwissenschaftlerin Julia Roig unter der Regie Michel Friedmans um dieselbe Frage.
Der deutschsprachige Diskurs übernimmt die wichtigste Eigenheit des US-amerikanischen: „Identitätspolitik“ machen immer die anderen. Eigentlich ging es bei der unverträglichen „Identität“ im „Demokratieforum“ um ethnische und sexuelle Minderheiten. Auch bei Thierse ging es seinerzeit darum, dass Minderheiten Fragen „ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität“ „heftiger und aggressiver“ zur Sprache bringen. Im SWR-Gespräch argumentierte Klöckner zwar, „wenn wir jetzt über ‚alte weiße Männer‘ sprechen und uns sonst aber über Diskriminierung äußern, ist das genauso so eine Art Diskriminierung, alte weiße Männer abzustempeln.“ Aber, so identitätspolitisch diese Klage auch klingen mochte, die Identität der „alten weißen Männer“ schien es nicht zu sein, die die Gruppe eigentlich zum Thema hatte.
Anzeichen einer Symptomdebatte
Die Debatte über „Identitätspolitik“ ist zumindest in Teilen eine Phantomdebatte. Anders als im Fall der „politischen Korrektheit“ (oder heutzutage der „Cancel Culture“), gibt es zwar durchaus Personen, Gruppen, und Texte, die affirmativ sagen: Wir betreiben Identitätspolitik. Welche Philosoph:innen, Politiker:innen oder Aktivist:innen allerdings unter diesem Begriff gefasst (und normalerweise kritisiert) werden, kann man trotzdem häufig nur kontextuell erschließen; ebenso variabel ist, welche Bewegungen dazugehören und welche von dieser Zuschreibung ausgenommen werden. Seltsamerweise einigermaßen konstant bleibt nur die Problembeschreibung selbst.
Das ist deshalb wichtig, weil der so unschuldig daherkommende Begriff „Identitätspolitik“ gemeinhin ein geschichtliches Narrativ impliziert. Irgendwann einmal, so vermittelt dieses Narrativ, trat die Linke geschlossen auf und war in ihren Ansprüchen universalistisch. Dann kam eine identitätspolitische Zersplitterung, die die Macht der Linken schwächte, die Gesellschaft spaltete, und die es deshalb rückgängig zu machen gilt.
Wann die angeblich fatale Weggabelung stattfand, ist in diesem Kontext natürlich äußerst wichtig. Kritiker:innen der Identitätspolitik machen deren Ursprünge in den USA aus – womit sie recht haben. Gerade in den USA aber ist die Erzählung von der Linken als Mehrstufenrakete – zuerst linker Universalismus, dann linke Identitätspolitik – einigermaßen fragwürdig. Die wichtigsten linken Befreiungsbewegungen des mid-century, insbesondere die schwarze Bürgerrechtsbewegung, basierten ganz natürlich auf Identität. Auch die großen liberalen politischen Errungenschaften der Zeit wurden von multi-ethnischen Koalitionen durchgesetzt.
Entstehung und Kritik linker identity politics
„Die“ – angeblich monolithische – Linke, die dann in einem weiteren Schritt zerfaserte, gab es in den USA rechts der Kommunisten nie. Vielmehr waren dies linke Bewegungen, die Koalitionen bildeten und zwischen einem universalistischen Pol und einer Betonung partikularer Anliegen pendelten. Es ist unbestritten, dass innerhalb der radikalen Linken im Laufe der 1970er Jahre das partikularistische Element betont wurde – unter anderem in den separatistischen Bewegungen, etwa der Black Panther Party oder lesbisch-feministischen Gruppen. Man zog sich zurück in Kommunen, WGs, manchmal auch in Sekten.
Vor diesem Hintergrund entstand das moderne Verständnis von „Identitätspolitik“. Nur eben nicht innerhalb solch separatistischer Gruppen, sondern im Kontrast zu ihnen. Im Combahee River Collective Statement vom April 1977 formulierte eine Gruppe afroamerikanischer lesbischer Frauen das so: „Wir realisierten, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konsequent an unserer Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind.“ Die Politik des Collective sei deshalb „aus der gesunden Liebe für uns selbst entstanden, aber auch für unsere Schwestern und unsere community“. Sich auf die „eigene Unterdrückung zu konzentrieren“, werde folglich am wirkungsvollsten durch das „Konzept der Identitätspolitik verkörpert“, denn die „tiefgreifendste und radikalste Politik“ komme direkt „aus unserer Identität heraus“. Gleichzeitig jedoch betonten die Autorinnen, dass ihre Position Solidarität z.B. mit „progressiven Schwarzen Männern“ bedeutete, dass ihre politische Arbeit nur „in Koalitionen mit anderen Gruppen“ vonstattengehen könne, und dass sie „die Fraktionalisierung, die jene weißen Frauen, die Separatistinnen sind, fordern,“ ablehnten.
Die separatistische Welle klang Ende der 1970er Jahre schon wieder ab. Und spätestens ab den 1980er Jahren geriet auch die Kategorie der „Identität“ stark unter Druck postmoderner Kritik. Ob Michel Foucaults Historisierung der Kategorie Sexualität, Judith Butlers „Genealogie der Kategorie ‚Frau‘,“ die Queer Theory, oder Kimberlé Crenshaws Begriff der Intersektionalität: viele Theorieansätze jener Jahre waren als Kritik von allzu simpler identitätsbasierter Politik gedacht. Seit damals war Identitätspolitik kein Wort mehr, das in der Politik der US-amerikanischen Linken noch einen eindeutigen und positiven Bezugspunkt hatte.
Paradoxerweise jedoch kam in den 1980er Jahren die Rede von der „Identitätspolitik“ überhaupt erst im öffentlichen Diskurs der USA an. Sie bezog sich jetzt plötzlich auf alles Mögliche: auf Studentenwohnheime, auf in der Cafeteria zusammensitzende Studierende, auf Diversity-Schulungen in mittelgroßen Banken… Was genau das Wort aber bezeichnete, war einigermaßen unklar. Einerseits existierte eine linke Kritik am Identitätskonzept, insbesondere innerhalb der New Left. Diese Kritiker feministischer, LGBT- und ethnischer Bewegungen meinten, die radikale Linke zerfranse in immer kleinere Interessengrüppchen und verliere so ihre Schlagkraft. Andererseits entstand damals eine viel weiter gespannte Kritik, die linke, liberale, oder anderweitig kosmopolitische Gruppen mit ethnischem Fokus, oder mit Fokus auf Geschlecht und Sexualität (ob sie nun identitätspolitisch auftraten oder nicht) als Teil einer breiteren Kultur des „Narzissmus“ behandelte. Diese Kritik kam gemeinhin nicht von der Linken, sondern war entweder implizit oder ganz offen konservativ.
Kulturkonservative Kritik
Diese kulturkonservative Kritik der Identität hatte an langhaarigen Studierenden, an psychoanalytisch fixierten Yuppies, an Celebrities und Wellness-Wahn genauso viel auszusetzen wie am Feminismus oder Black Power. Behaupteten linke Kritiker, Identitätspolitik sei strategisch falsch, meinten Autoren wie Philip Rieff, Allan Bloom und Christopher Lasch, die Betonung des Identitären stelle eine Gefahr für die US-amerikanische Gesellschaft dar. Sie wurde zu einem Teilaspekt dessen umgedeutet, was bei Lasch „die Kultur des Narzissmus“ hieß, bei Rieff „der Triumph des Therapeutischen“ und bei Bloom „die Schließung des amerikanischen Geistes.“ Gleichzeitig wurde in deren großen Büchern das Phänomen radikal entgrenzt: Rieff deutete die neue Betonung der Identität als Teil einer Pseudoreligiosität in einem irreligiösen Zeitalter; Bloom als ein Verrat am klassischen Bildungsideal; Lasch als eine spezifisch US-amerikanische Pathologie.
Der moderne Diskurs, insbesondere in der deutschen Rezeption, ist gekennzeichnet durch die wilde Vermischung dieser linken und rechten Kritiktraditionen. Manchmal ist von „Identitätspolitik“ im spezifischen Sinne ethnisch und sexuell basierter Befreiungsbewegungen die Rede, manchmal scheint es ganz generell um die politische Betonung von Identitätskategorien, des Selbst und der eigenen Position zu gehen. Oder es geht ganz einfach darum, dass eine trans Person auf Twitter etwas gesagt hat. Manchmal geht es um Aktivist:innen und ob ihr Aktivismus konstruktiv ist oder nicht. Dann geht es wieder um die narzisstische Kränkung, um die angeblichen pseudo-religiösen Dimensionen, um das manichäische Weltbild der Identitätspolitik – Ideen, die klar bei Autoren wie Lasch, Rieff und Bloom abgeschaut sind.
In zwei Punkten wirkt aber vor allem die konservative Kritik fort. Erstens: Identität scheint vor allem da ein Problem zu sein, wo sie von gesellschaftlich marginalen Gruppen betont wird. Schon Bloom schalt eigentlich einen Großteil seiner Zeitgenossen in seiner Philippika vom Niedergang des amerikanischen Geistes, thematisierte Rockmusik und Woody Allen, Campuskultur und die Business-Community; als er aber dann in Fernsehsendungen saß, ging es plötzlich vor allem um Afroamerikaner und Feministinnen. Zweitens: die tatsächliche identitätspolitische Traditionslinie wird komplett ausgeklammert. Wenn Francis Fukuyama z.B. in seinem 2018 erschienen Buch Identity davor warnt, dass westliche Demokratien an Identitätspolitik „zerbrechen“, dann erwähnt er Audre Lorde, Gloria Anzaldua oder das Combahee River Collective mit keinem Wort – Rieff, Lasch und Bloom hingegen schon.
Genau diese Sichtweise, ihres im US-Kontext offensichtlichen Neokonservatismus teilweise entledigt, kommt seit den 1990er Jahren immer wieder in Europa und gerade auch in Deutschland an. In einer ersten Welle in den 1990er Jahren handelte es sich vor allem um eine Beschreibung angeblicher Verhältnisse innerhalb der US-amerikanischer Gesellschaft (und genauer gesagt ihrer Uni-Campusse) – man denke an die Rezeption von David Mamets Oleanna oder Philip Roths Der menschliche Makel im deutschsprachigen Feuilleton. Die neue Rezeptionswelle scheint durch #MeToo und Black Lives Matter losgetreten worden zu sein.
Als Kritik bestimmter intellektueller Bestrebungen taugt eine dermaßen breit gefasste Kulturkritik nur bedingt. Alles, was irgendwie von Minderheiten ausgeht, kann mit dem Label „Identitätspolitik“ belegt werden, egal ob es als Kritik oder Gegenentwurf zu identitätspolitischen Ansätzen auftritt, egal ob es dezidiert von Links kommt, oder doch eher dem Reputation Management der Großkonzerne entspringt. Aus dem kulturpessimistischen Generalbass dieses Diskurses dürfte sich auch die Tatsache ergeben, dass die Diagnose „Identitätspolitik“ im Normalfall eher ein generelles Unwohlsein mit einer sich ändernden Gesellschaft ausdrückt, als dass sie auf spezifische politische Projekte abzielt.
Der Verdacht drängt sich auf, dass die Sorge um Identitätspolitik nie wirklich die Schiene der 1980er Jahre verlassen hat: Sie ist ein probates Sprachspiel, vermittels dessen sich eine kulturkonservative Kehre vollziehen lässt, ohne dass der Kritiker sein Selbstverständnis als Linker aufgeben müsste. Aber mehr noch, man wird das Gefühl nicht los, dass dieses ritualisierte Schimpfen auf Identität seinerseits als identitätsstiftend empfunden wird.
Anti-Identitäts-Identitätspolitik
Der Soziologe Joshua Paul hat dies 2018 als „Anti-Identitäts-Identitätspolitik“ bezeichnet: diese „geht von einer universellen Identität aus und lehnt die Anerkennung von partikularer Erfahrung entlang gesellschaftlicher Bruchlinien ab.“ Paul macht dies vor allem am Hashtag #AllLivesMatter fest, der 2020 als Totschlagentgegnung auf Black Lives Matter zirkulierte. Aber in gewisser Weise besteht diese Subjektposition spätestens seit den 1980er Jahren: eine, die jegliche partikulare Selbstbeschreibung entrüstet von sich weist, die ihre eigenen Interessen eigentlich immer als die „der Gesellschaft“ beschreibt. „Es handelt sich um eine Identitätspolitik,“ so Paul, „aber ohne ‚Gruppen‘-Ansprüche.“ Was Paul nicht sagt: Was wäre identitärer, als sich unter der Hand zum universellen Subjekt zu deklarieren?