Identitätspolitik – das machen immer nur die anderen. Das suggerieren zumindest die einschlägigen deutschsprachigen Feuilleton-Debatten. Es hilft daher zu wissen, woher der Begriff kommt, wofür er zu Beginn einstand und wie er zu einer konservativen Kampfvokabel wurde.

  • Adrian Daub

    Adrian Daub ist J.E. Wallace Sterling Professor in the Humanities an der Universität Stanford (Kalifornien), wo er das Clayman Institute for Gender Research leitet. Zuletzt auf Deutsch erschienen sind „Was das Valley denken nennt“ (Edition Suhrkamp, 2020) und „Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erobert“ (Edition Suhrkamp, 2022).

„Wie viel Iden­tität verträgt die Gesell­schaft?“ fragte Wolf­gang Thierse in einem viel­be­ach­teten Text in der Frank­furter Allge­meinen Zeitung 2021. Eine Frage, die nicht erst seitdem die deut­sche Medi­en­land­schaft umtreibt. 2022 finden sich auf Lexis­Nexis für deutsch­spra­chige Publi­ka­tionen fast 1500 Artikel, die das Wort verwenden. Erst im März dieses Jahres rangen im SWR Demo­kra­tie­forum der Kunst­wis­sen­schaftler Jörg Scheller, CDU-Politikerin Julia Klöckner und die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Julia Roig unter der Regie Michel Fried­mans um dieselbe Frage.

Der deutsch­spra­chige Diskurs über­nimmt die wich­tigste Eigen­heit des US-amerikanischen: „Iden­ti­täts­po­litik“ machen immer die anderen. Eigent­lich ging es bei der unver­träg­li­chen „Iden­tität“ im „Demo­kra­tie­forum“ um ethni­sche und sexu­elle Minder­heiten. Auch bei Thierse ging es seiner­zeit darum, dass Minder­heiten Fragen „ethni­scher, geschlecht­li­cher und sexu­eller Iden­tität“ „heftiger und aggres­siver“ zur Sprache bringen. Im SWR-Gespräch argu­men­tierte Klöckner zwar, „wenn wir jetzt über ‚alte weiße Männer‘ spre­chen und uns sonst aber über Diskri­mi­nie­rung äußern, ist das genauso so eine Art Diskri­mi­nie­rung, alte weiße Männer abzu­stem­peln.“ Aber, so iden­ti­täts­po­li­tisch diese Klage auch klingen mochte, die Iden­tität der „alten weißen Männer“ schien es nicht zu sein, die die Gruppe eigent­lich zum Thema hatte.

Anzei­chen einer Symptomdebatte

Die Debatte über „Iden­ti­täts­po­litik“ ist zumin­dest in Teilen eine Phan­tom­de­batte. Anders als im Fall der „poli­ti­schen Korrekt­heit“ (oder heut­zu­tage der „Cancel Culture“), gibt es zwar durchaus Personen, Gruppen, und Texte, die affir­mativ sagen: Wir betreiben Iden­ti­täts­po­litik. Welche Philosoph:innen, Politiker:innen oder Aktivist:innen aller­dings unter diesem Begriff gefasst (und norma­ler­weise kriti­siert) werden, kann man trotzdem häufig nur kontex­tuell erschließen; ebenso variabel ist, welche Bewe­gungen dazu­ge­hören und welche von dieser Zuschrei­bung ausge­nommen werden. Selt­sa­mer­weise eini­ger­maßen konstant bleibt nur die Problem­be­schrei­bung selbst.

Das ist deshalb wichtig, weil der so unschuldig daher­kom­mende Begriff „Iden­ti­täts­po­litik“ gemeinhin ein geschicht­li­ches Narrativ impli­ziert. Irgend­wann einmal, so vermit­telt dieses Narrativ, trat die Linke geschlossen auf und war in ihren Ansprü­chen univer­sa­lis­tisch. Dann kam eine iden­ti­täts­po­li­ti­sche Zersplit­te­rung, die die Macht der Linken schwächte, die Gesell­schaft spal­tete, und die es deshalb rück­gängig zu machen gilt.

Wann die angeb­lich fatale Wegga­be­lung statt­fand, ist in diesem Kontext natür­lich äußerst wichtig. Kritiker:innen der Iden­ti­täts­po­litik machen deren Ursprünge in den USA aus – womit sie recht haben. Gerade in den USA aber ist die Erzäh­lung von der Linken als Mehr­stu­fen­ra­kete – zuerst linker Univer­sa­lismus, dann linke Iden­ti­täts­po­litik – eini­ger­maßen frag­würdig. Die wich­tigsten linken Befrei­ungs­be­we­gungen des mid-century, insbe­son­dere die schwarze Bürger­rechts­be­we­gung, basierten ganz natür­lich auf Iden­tität. Auch die großen libe­ralen poli­ti­schen Errun­gen­schaften der Zeit wurden von multi-ethnischen Koali­tionen durchgesetzt.

Entste­hung und Kritik linker iden­tity politics

„Die“ – angeb­lich mono­li­thi­sche – Linke, die dann in einem weiteren Schritt zerfa­serte, gab es in den USA rechts der Kommu­nisten nie. Viel­mehr waren dies linke Bewe­gungen, die Koali­tionen bildeten und zwischen einem univer­sa­lis­ti­schen Pol und einer Beto­nung parti­ku­larer Anliegen pendelten. Es ist unbe­stritten, dass inner­halb der radi­kalen Linken im Laufe der 1970er Jahre das parti­ku­la­ris­ti­sche Element betont wurde – unter anderem in den sepa­ra­tis­ti­schen Bewe­gungen, etwa der Black Panther Party oder lesbisch-feministischen Gruppen. Man zog sich zurück in Kommunen, WGs, manchmal auch in Sekten.

Vor diesem Hinter­grund entstand das moderne Verständnis von „Iden­ti­täts­po­litik“. Nur eben nicht inner­halb solch sepa­ra­tis­ti­scher Gruppen, sondern im Kontrast zu ihnen. Im Combahee River Coll­ec­tive State­ment vom April 1977 formu­lierte eine Gruppe afro­ame­ri­ka­ni­scher lesbi­scher Frauen das so: „Wir reali­sierten, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konse­quent an unserer Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind.“ Die Politik des Coll­ec­tive sei deshalb „aus der gesunden Liebe für uns selbst entstanden, aber auch für unsere Schwes­tern und unsere commu­nity“. Sich auf die „eigene Unter­drü­ckung zu konzen­trieren“, werde folg­lich am wirkungs­vollsten durch das „Konzept der Iden­ti­täts­po­litik verkör­pert“, denn die „tief­grei­fendste und radi­kalste Politik“ komme direkt „aus unserer Iden­tität heraus“. Gleich­zeitig jedoch betonten die Autorinnen, dass ihre Posi­tion Soli­da­rität z.B. mit „progres­siven Schwarzen Männern“ bedeu­tete, dass ihre poli­ti­sche Arbeit nur „in Koali­tionen mit anderen Gruppen“ vonstat­ten­gehen könne, und dass sie „die Frak­tio­na­li­sie­rung, die jene weißen Frauen, die Sepa­ra­tis­tinnen sind, fordern,“ ablehnten.

Die sepa­ra­tis­ti­sche Welle klang Ende der 1970er Jahre schon wieder ab. Und spätes­tens ab den 1980er Jahren geriet auch die Kate­gorie der „Iden­tität“ stark unter Druck post­mo­derner Kritik. Ob Michel Foucaults Histo­ri­sie­rung der Kate­gorie Sexua­lität, Judith Butlers „Genea­logie der Kate­gorie ‚Frau‘,“ die Queer Theory, oder Kimberlé Crens­haws Begriff der Inter­sek­tio­na­lität: viele Theo­rie­an­sätze jener Jahre waren als Kritik von allzu simpler iden­ti­täts­ba­sierter Politik gedacht. Seit damals war Iden­ti­täts­po­litik kein Wort mehr, das in der Politik der US-amerikanischen Linken noch einen eindeu­tigen und posi­tiven Bezugs­punkt hatte.

Para­do­xer­weise jedoch kam in den 1980er Jahren die Rede von der „Iden­ti­täts­po­litik“ über­haupt erst im öffent­li­chen Diskurs der USA an. Sie bezog sich jetzt plötz­lich auf alles Mögliche: auf Studen­ten­wohn­heime, auf in der Cafe­teria zusam­men­sit­zende Studie­rende, auf Diversity-Schulungen in mittel­großen Banken… Was genau das Wort aber bezeich­nete, war eini­ger­maßen unklar. Einer­seits exis­tierte eine linke Kritik am Iden­ti­täts­kon­zept, insbe­son­dere inner­halb der New Left. Diese Kritiker femi­nis­ti­scher, LGBT- und ethni­scher Bewe­gungen meinten, die radi­kale Linke zerfranse in immer klei­nere Inter­es­sen­grüpp­chen und verliere so ihre Schlag­kraft. Ande­rer­seits entstand damals eine viel weiter gespannte Kritik, die linke, libe­rale, oder ander­weitig kosmo­po­li­ti­sche Gruppen mit ethni­schem Fokus, oder mit Fokus auf Geschlecht und Sexua­lität (ob sie nun iden­ti­täts­po­li­tisch auftraten oder nicht) als Teil einer brei­teren Kultur des „Narzissmus“ behan­delte. Diese Kritik kam gemeinhin nicht von der Linken, sondern war entweder implizit oder ganz offen konservativ.

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Kultur­kon­ser­va­tive Kritik

Diese kultur­kon­ser­va­tive Kritik der Iden­tität hatte an lang­haa­rigen Studie­renden, an psycho­ana­ly­tisch fixierten Yuppies, an Cele­bri­ties und Wellness-Wahn genauso viel auszu­setzen wie am Femi­nismus oder Black Power. Behaup­teten linke Kritiker, Iden­ti­täts­po­litik sei stra­te­gisch falsch, meinten Autoren wie Philip Rieff, Allan Bloom und Chris­to­pher Lasch, die Beto­nung des Iden­ti­tären stelle eine Gefahr für die US-amerikanische Gesell­schaft dar. Sie wurde zu einem Teil­aspekt dessen umge­deutet, was bei Lasch „die Kultur des Narzissmus“ hieß, bei Rieff „der Triumph des Thera­peu­ti­schen“ und bei Bloom „die Schlie­ßung des ameri­ka­ni­schen Geistes.“ Gleich­zeitig wurde in deren großen Büchern das Phänomen radikal entgrenzt: Rieff deutete die neue Beto­nung der Iden­tität als Teil einer Pseu­do­re­li­gio­sität in einem irreli­giösen Zeit­alter; Bloom als ein Verrat am klas­si­schen Bildungs­ideal; Lasch als eine spezi­fisch US-amerikanische Pathologie.

Der moderne Diskurs, insbe­son­dere in der deut­schen Rezep­tion, ist gekenn­zeichnet durch die wilde Vermi­schung dieser linken und rechten Kritik­tra­di­tionen. Manchmal ist von „Iden­ti­täts­po­litik“ im spezi­fi­schen Sinne ethnisch und sexuell basierter Befrei­ungs­be­we­gungen die Rede, manchmal scheint es ganz gene­rell um die poli­ti­sche Beto­nung von Iden­ti­täts­ka­te­go­rien, des Selbst und der eigenen Posi­tion zu gehen. Oder es geht ganz einfach darum, dass eine trans Person auf Twitter etwas gesagt hat. Manchmal geht es um Aktivist:innen und ob ihr Akti­vismus konstruktiv ist oder nicht. Dann geht es wieder um die narziss­ti­sche Krän­kung, um die angeb­li­chen pseudo-religiösen Dimen­sionen, um das manich­äi­sche Welt­bild der Iden­ti­täts­po­litik – Ideen, die klar bei Autoren wie Lasch, Rieff und Bloom abge­schaut sind.

In zwei Punkten wirkt aber vor allem die konser­va­tive Kritik fort. Erstens: Iden­tität scheint vor allem da ein Problem zu sein, wo sie von gesell­schaft­lich margi­nalen Gruppen betont wird. Schon Bloom schalt eigent­lich einen Groß­teil seiner Zeit­ge­nossen in seiner Phil­ip­pika vom Nieder­gang des ameri­ka­ni­schen Geistes, thema­ti­sierte Rock­musik und Woody Allen, Campus­kultur und die Business-Community; als er aber dann in Fern­seh­sen­dungen saß, ging es plötz­lich vor allem um Afro­ame­ri­kaner und Femi­nis­tinnen. Zwei­tens: die tatsäch­liche iden­ti­täts­po­li­ti­sche Tradi­ti­ons­linie wird komplett ausge­klam­mert. Wenn Francis Fuku­yama z.B. in seinem 2018 erschienen Buch Iden­tity davor warnt, dass west­liche Demo­kra­tien an Iden­ti­täts­po­litik „zerbre­chen“, dann erwähnt er Audre Lorde, Gloria Anzaldua oder das Combahee River Coll­ec­tive mit keinem Wort – Rieff, Lasch und Bloom hingegen schon.

Genau diese Sicht­weise, ihres im US-Kontext offen­sicht­li­chen Neokon­ser­va­tismus teil­weise entle­digt, kommt seit den 1990er Jahren immer wieder in Europa und gerade auch in Deutsch­land an. In einer ersten Welle in den 1990er Jahren handelte es sich vor allem um eine Beschrei­bung angeb­li­cher Verhält­nisse inner­halb der US-amerikanischer Gesell­schaft (und genauer gesagt ihrer Uni-Campusse) – man denke an die Rezep­tion von David Mamets Oleanna oder Philip Roths Der mensch­liche Makel im deutsch­spra­chigen Feuil­leton. Die neue Rezep­ti­ons­welle scheint durch #MeToo und Black Lives Matter losge­treten worden zu sein.

Als Kritik bestimmter intel­lek­tu­eller Bestre­bungen taugt eine dermaßen breit gefasste Kultur­kritik nur bedingt. Alles, was irgendwie von Minder­heiten ausgeht, kann mit dem Label „Iden­ti­täts­po­litik“ belegt werden, egal ob es als Kritik oder Gegen­ent­wurf zu iden­ti­täts­po­li­ti­schen Ansätzen auftritt, egal ob es dezi­diert von Links kommt, oder doch eher dem Repu­ta­tion Manage­ment der Groß­kon­zerne entspringt. Aus dem kultur­pes­si­mis­ti­schen Gene­ral­bass dieses Diskurses dürfte sich auch die Tatsache ergeben, dass die Diagnose „Iden­ti­täts­po­litik“ im Normal­fall eher ein gene­relles Unwohl­sein mit einer sich ändernden Gesell­schaft ausdrückt, als dass sie auf spezi­fi­sche poli­ti­sche Projekte abzielt.

Der Verdacht drängt sich auf, dass die Sorge um Iden­ti­täts­po­litik nie wirk­lich die Schiene der 1980er Jahre verlassen hat: Sie ist ein probates Sprach­spiel, vermit­tels dessen sich eine kultur­kon­ser­va­tive Kehre voll­ziehen lässt, ohne dass der Kritiker sein Selbst­ver­ständnis als Linker aufgeben müsste. Aber mehr noch, man wird das Gefühl nicht los, dass dieses ritua­li­sierte Schimpfen auf Iden­tität seiner­seits als iden­ti­täts­stif­tend empfunden wird.

Anti-Identitäts-Identitätspolitik

Der Sozio­loge Joshua Paul hat dies 2018 als „Anti-Identitäts-Identitätspolitik“ bezeichnet: diese „geht von einer univer­sellen Iden­tität aus und lehnt die Aner­ken­nung von parti­ku­larer Erfah­rung entlang gesell­schaft­li­cher Bruch­li­nien ab.“ Paul macht dies vor allem am Hashtag #AllLi­ve­s­Matter fest, der 2020 als Totschlag­ent­geg­nung auf Black Lives Matter zirku­lierte. Aber in gewisser Weise besteht diese Subjekt­po­si­tion spätes­tens seit den 1980er Jahren: eine, die jegliche parti­ku­lare Selbst­be­schrei­bung entrüstet von sich weist, die ihre eigenen Inter­essen eigent­lich immer als die „der Gesell­schaft“ beschreibt. „Es handelt sich um eine Iden­ti­täts­po­litik,“ so Paul, „aber ohne ‚Gruppen‘-Ansprüche.“ Was Paul nicht sagt: Was wäre iden­ti­tärer, als sich unter der Hand zum univer­sellen Subjekt zu deklarieren?