Als Narendra Modi im Mai 2019 durch den deutlichen Sieg der Bharatiya Janata Party („Indische Volkspartei“ – BJP) seine zweite Amtszeit als Premierminister des 1,3 Milliarden Menschen zählenden Landes antrat, prophezeiten internationale Medien wie die BBC, der Guardian und die South China Morning Post eine düstere Zukunft für Indiens Muslime. Bereits während seiner ersten Amtszeit hatten Beobachter vor der sogenannten Hindutva-Politik der BJP gewarnt, welche eine gezielte Diskriminierung der muslimischen Bevölkerung zur Folge habe. Doch die Partei, die fast ausschliesslich nicht-muslimische Kandidaten für Ämter kandidieren lässt, wies solche Vorwürfe stets zurück.

Modi feiert seinen Wahlsieg, Mai 2019; Quelle: economist.com
Indien ist das Land, das sich als grösste Demokratie der Welt bezeichnet und mit seiner säkularen Verfassung allen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte zuspricht. In dem mehrheitlich hinduistischen Land drohen die etwa 200 Millionen Musliminnen und Muslime jedoch durch die Politik der aktuellen Regierungspartei BJP immer mehr zu Bürgern zweiter Klasse degradiert zu werden. Das im Dezember 2019 verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz, welches für nicht-muslimische Flüchtlinge aus Pakistan, Afghanistan und Bangladesch eine erleichtere Einbürgerung vorsieht, ist nur eines von vielen politischen Manövern der BJP in den letzten Jahren, welche sich direkt oder indirekt gegen Muslime richten. Umbenennungen von Städtenamen, der Kaschmirkonflikt oder die öffentliche Denunzierung von Muslimen zeigen die islamophobe Seite der Politik Modis. Entsprechend befürchten heute viele Menschen, dass Indien schleichend aber stetig in einen Hindu-Staat verwandelt wird, wie ihn sich der ideologische Vater der Hindu-Nationalisten, Vinayak Damodar Savarkar, einst vorgestellt hatte.
Verschleierung als Wahlkampfstrategie
Korruption und die Herrschaft einer Familiendynastie haben dem Ansehen der Kongress Partei, die einst mit Gandhi die Unabhängigkeitsbewegung anführte und das Land so lange wie keine andere Partei prägte, arg geschadet. Bei den Parlamentswahlen 2014 musste sie eine heftige Niederlage einstecken. Indiens Bevölkerung sehnte sich mehrheitlich nach einem Wandel und einer starken Führungspersönlichkeit, welche das Entwicklungsland in die Liga der Grossmächte führt.
Narendra Modi stellte sich als der starke Mann dar, der versprach, Indien mit seiner hindu-nationalistischen BJP vorwärts zu bringen. Dabei waren der Erdrutschsieg von 2014 sowie jüngst 2019, als die Partei die absolute Mehrheit im Parlament errang, nicht einmal primär Resultat eines religiösen Populismus. Die Wahlkampagne der Partei fokussierte, nebst der Bekämpfung der noch immer grassierenden Korruption, fast ausschliesslich auf Modis wirtschaftliche Erfolge als Regierungschef des Bundesstaats Gujarats. Die saffron party (safran ist die Farbe des Hinduismus) inszenierte sich als neo-liberale Reformpartei und verschleierte zunächst ihre hindu-nationalistischen Ambitionen, um breite Wählerschichten anzusprechen.
Gewalt gegen Muslime

Tausende Menschen haben ihre Häuser oder Leben während den Ausschreitungen in Gujarat verloren; Quelle: livemint.com
Modis Rolle bei den Gujarat riots im Jahr 2002, als Muslime Ziel eines pogrommässigen Massakers waren, war dabei schon fast in Vergessenheit geraten: Als verantwortlicher Regierungschef hatte er einen tobenden Mob tagelang ohne Eingriffe durch die Ordnungskräfte gewähren lassen. Die Folge: Massenvergewaltigungen sowie 2000 Menschen, die ihr Leben, und Tausende, die ihr Hab und Gut verloren hatten. Erst drei Tage nach Beginn der Ausschreitungen hatte sich Modi in der Öffentlichkeit gemeldet, um die Geschehnisse zu kommentieren und den Gräueln ein Ende zu setzen. Seine Partei in Gujarat nutzte die Hetze gegen Muslime; bei den Wahlen im selben Jahr stieg ihr Wähleranteil.
Seit Modis Machtantritt auf der nationalen Bühne 2014 haben Gewalttaten gegen Muslime markant zugenommen, wie Statistiken zeigen. Schlagzeilen machten insbesondere die selbst ernannten Gau Rakshaks („Kuh-Retter“), welche Muslimen wegen der angeblichen Schlachtung von Kühen, die in vielen Bundesstaaten Indiens verboten ist, auflauerten, sie schikanierten und teilweise sogar zu Tode prügelten. Die rechtliche Verfolgung solcher Taten ging nur schleppend voran, oft waren lokale Polizisten als Mittäter involviert. In vielen Fällen sind die Täter, welche meist Verbindungen zu nationalistischen Organisationen wie der RSS aufwiesen, noch immer auf freiem Fuss. Die Opposition und namhafte Intellektuelle kritisierten auch hier Modis Schweigen und Tatenlosigkeit. Nachdem sich die Ereignisse häuften und der Druck auf Modi stieg, sah er sich letztendlich gezwungen, die Taten öffentlich zu verurteilen.
Doch Modi wäre nicht Modi, wenn er nicht weiterhin verschweigen würde, dass hindu-nationalistische Gruppierungen Indiens Muslime gezielt gewalttätig angreifen und diskriminieren. Statt sich mit den Opfern solcher Gewalttaten zu solidarisieren, wie er es auch 2002 hätte tun sollen, lässt er zu, dass Lokalregierungen Ministerien erschaffen, welche sich eigens um das Wohl der Kühe kümmern. Mancherorts wird mehr für die von Hindus als heilig angesehenen Kühe gesorgt als für die eigenen Bürger.
Die Umwandlung Kaschmirs
Als die BJP ihre Macht nach den Wahlen von 2019 weiter zementieren konnte, gab es allerhand besorgniserregende Ereignisse, die zeigen, dass muslimische Bürger immer mehr in Bedrängnis geraten. Die Umwandlung und Spaltung des Bundesstaates Kaschmirs – dem einzigen mit einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung – in zwei der Zentralregierung direkt unterstellte Unionsterritorien mit der Begründung, den Terrorismus in der Region bekämpfen zu wollen, ist ein solches Beispiel. Die Bevölkerung leidet hier unter der verstärkten Militärpräsenz, Ausgangssperren, dem immer noch ausgeschalteten Internet und einer eingebrochenen Wirtschaft. Politiker und Journalisten wurden unter Hausarrest gestellt.

Indische Truppen in Kashmir setzen eine Ausgangssperre durch, 2019; Quelle: ndtv.com
Viele muslimische Kaschmiris befürchten, dass sich nun vermehrt Hindus in der Region ansiedeln und sie verdrängen werden, da die Region integraler Bestandteil der hindu-nationalistischen Vision eines Hindu-Staates ist. Tatsächlich stieg bei Google die Anzahl der Sucheingaben aus anderen Bundesstaaten nach Immobilien in Kaschmir markant an. Die Kaschmirregion ist seit der Gründung der Staaten Indien und Pakistan ein ewiger Konfliktherd, in den die BJP weiter anheizt. Während die Menschen in Kaschmir in ihren Grundrechten eingeschränkt werden und kaum Informationen über die prekäre Lage nach aussen dringen, verkündete Modi gleichwohl im Oktober 2019 bei einem gemeinsamen Event mit US-Präsident Donald Trump im texanischen Houston in acht verschiedenen Sprachen, dass alles in seinem Land in Ordnung sei. Eine begeisterte indische Diaspora jubelte ihm dabei zu.
Judikative und Legislative auf Abwegen
Im November desselben Jahres eröffnete das Höchste Indische Gericht, der Supreme Court, den berüchtigten Fall der 1992 zertrümmerten Moschee in Ayodhya, auf dessen Boden angeblich der Hindu-Gott Ram geboren wurde, ein zweites Mal. Die erste Urteilsverkündung hatte vorgesehen, das Land, auf dem heute die Trümmer der von Hindu-Nationalisten zerstörten Moschee stehen, zwischen Muslimen und Hindus aufzuteilen und damit den Streit beizulegen. Die mit Spannung erwartete Neubeurteilung des Falls brachte den Hindu-Nationalisten den endgültigen Sieg in diesem seit Jahrzehnten andauernden und äusserst kontroversen Disput. Das Gericht verordnete die Errichtung eines Tempels, wo einst die Moschee stand, und die gleichzeitige Zuteilung eines neuen Grundstücks für den Bau einer Moschee. Viele kritische Stimmen bemängelten, das Gerichtsurteil würde die Zerstörung legitimieren und damit den Tätern und nicht den Opfern Recht geben. Nennenswerte Proteste von Muslimen gab es kaum, zu gross war die Angst vor Repressionen.
Das jüngst erlassene Staatsbürgerschaftsgesetz (CAA), das Flüchtlinge muslimischen Glaubens ausschliesst bestätigt, dass Modi und seine BJP es mit ihrer Hindutva-Ideologie gezielt auf Muslime abgesehen haben. Mit Pakistan, Afghanistan und Bangladesch werden nur Staaten aufgelistet, die eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung haben. So wird suggeriert, dass eine Verfolgung von Minderheiten nur in diesen Ländern existiere. Zugleich werden andere, angrenzende Länder ausgelassen, in welchen religiöse Minderheiten verfolgt werden, wie die Tamilen aus Sri Lanka, Tibeter aus China oder die Rohingya aus Myanmar. Hinzu kommt die Tatsache, dass muslimische Minderheiten auch in muslimischen Ländern nicht vor Verfolgungen geschützt sind. Vieles an dem Gesetz erscheint willkürlich.
Proteste und Repression
Modi und seine Parteigenossen argumentieren, dass man verfolgten Menschen eine Heimat bieten müsse und die Muslime in Indien von dem Gesetz nicht betroffen seien. Doch hierbei handelt es sich um mehr als nur scheinbare Nächstenliebe. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz kommen die Hindu-Nationalisten ihrer Vision eines Hindu-Staates ein Stück näher: Indien wird zur Heimat der Hindus stilisiert, das Recht auf Staatsbürgerschaft an die Religion geknüpft und indirekt suggeriert, dass Muslime ihre Heimat in Ländern wie Pakistan haben.

Protestierende gegen das Einbürgerungsgesetzt (CAA) halten Portraits von B.R. Ambedkar in die Höhe, der als Vater der säkularen Verfassung Indiens gilt. Quelle: outlookindia.com
Die Proteste gegen das Gesetz haben ganz Indien erfasst. Vor allem an den Universitäten zeigen sich ein starkes Engagement und eine grosse Solidarität mit muslimischen Mitbürgern. Und die zumeist friedlichen Demonstrationen, bei denen Millionen Menschen das Zurückziehen des Gesetzes fordern und für die säkulare Verfassung auf die Strasse gehen, können als ein Erwachen der Zivilgesellschaft gesehen werden. Es sind die ersten landesweiten Kundgebungen in diesem Ausmass während Modis Regierungszeit. Er und seine Parteigenossen reagierten entweder mit harschen Worten, indem sie die friedlichen Demonstranten als leftist goons, terrorists oder anti-nationals diffamierten, oder mit harter Repression durch die Polizei. Bisher verloren über 20 Menschen, zumeist Muslime, ihr Leben, alle in Bundesstaaten, die von der BJP regiert werden. Auch vor den Universitäten macht die Gewalt keinen Halt. Demonstranten der renommierten Jawaharlal Nehru University in Delhi wurden von Schlägertrupps heimgesucht. Trotz vieler Verletzter und dem öffentlichen Bekenntnis einer hindu-nationalistischen Gruppe hat die Polizei keine der Täter festgenommen, dafür aber einige Studierende wegen Hausfriedensbruchs angezeigt.
Die Fronten verhärten sich zusehends, was sich auch im politischen Diskurs bemerkbar macht. Die verschärfte Rhetorik vonseiten der BJP hat zu einer verstärkten „wir gegen sie“-Mentalität geführt, wobei politischen Gegnern nicht selten mit physischer Gewalt gedroht wird. Während sie den Demonstrierenden des Öfteren vorwirft, die „Sprache Pakistans“ zu sprechen und Terroristen zu sein, skandieren ranghohe Politiker öffentlich mit ihren Anhängern, „Verräter“ zu erschiessen. Erst kürzlich schoss tatsächlich ein junger Mann in eine Menge demonstrierender Studierender. Der politische Diskurs in Indien wirkt immer verrohter und bedrohlicher. Die BJP weiss diesen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie kritische Medien und Journalisten unter Druck setzt oder gezielt Falschinformationen über die sozialen Netzwerke teilt. Die grösste Demokratie der Welt steht im World Press Freedom Index seit Jahren im unteren Drittel.
Restaurationsbestrebungen
Dienten einst die europäischen Faschisten als Vorbild für die Hindu-Nationalisten, so gehört die BJP heute für westliche Rechtspopulisten zum Vorbild in ihrem Umgang mit Muslimen. Die BJP kann als Teil einer globalen Bewegung angesehen werden, deren Politik durch Islamophobie und Nationalismus geprägt ist. Doch bei den Hindu-Nationalisten wird selten eine scheinbar drohende Islamisierung heraufbeschworen; vielmehr wird ihre Politik als Rückgängigmachung eines historischen Traumas dargestellt. Tatsächlich hat Indien die weltweit zweitgrösste muslimische Bevölkerung. Ihre Kultur und Geschichte haben das Land genauso geprägt wie der Hinduismus oder die britische Kolonialzeit. Das historische Narrativ der Eroberung und Herrschaft des indischen Subkontinents durch die Muslime und der damit einhergehenden Unterwerfung der Hindus während der Mogul-Zeit hat die Hindutva-Politik massgeblich geprägt. Immer wieder taucht in der Rhetorik der Hindu-Nationalisten das Motiv der Restauration einer glorreichen, antiken Hindu-Kultur auf. Dafür müssen erst einmal die Symbole der muslimischen Vergangenheit verschwinden. Bezeichnend dafür sind die Umbenennungen von Städten, Straßen oder öffentlichen Plätzen, deren Namen auf die Mogulzeit zurückverweisen. Auch die Zerstörung der Moschee von Ayodhya ist als ein solcher Akt der Verdrängung und Wiederherstellung zu verstehen.
Wohin steuert die grösste Demokratie der Welt? Die BJP kann bis 2024 mit einer Parlamentsmehrheit weiterregieren und es scheint derzeit vieles darauf hinzudeuten, dass Indien je länger desto mehr in einen Hindu-Staat verwandelt wird. Noch nie wurde seit der Teilung Britisch-Indiens 1947 die Frage, wer zu Indien gehört und wer nicht, so kontrovers diskutiert wie heute. Mit der geplanten Durchführung eines Nationalen Bürgerregisters (NRC) steht ein weiteres Vorhaben an, welches die Zugehörigkeitsfrage auf den Prüfstand stellt und muslimische BürgerInnen unter Druck setzt. Die Gesellschaft scheint politisch so gespalten wie nie zuvor, gesellschaftlich und ebenso geographisch. In Zeiten, in denen kein Verlass auf den Rechtsstaat ist, die Gewalt gegen Minderheiten zunimmt und Dissens als anti-national und anti-hindu abgestempelt wird, kann sich nur die Zivilgesellschaft selbst für den Erhalt eines liberalen, pluralistischen und säkularen Indiens einsetzen und gegen eine schleichende Safranisierung Indiens stellen.