Der letztjährige Streit der italienischen Regierung mit der EU um die Höhe des Budgetdefizits wurde zwar durch einen Kompromiss gelöst. Aber der polternde Populismus der Lega und des Movimento Cinque Stelle bedrohen weiterhin nicht nur die EU, sondern auch die italienische Demokratie.

  • Paul Huber

    Paul Huber studierte Wirtschaftsgeschichte an der Universität Basel und ist als Analytiker und Berater im Finanzbereich tätig.

Ende des vergan­genen Jahres erregte der Streit zwischen der EU und der italie­ni­schen Regie­rung über das Haus­halts­de­fizit für 2019 grosses Aufsehen. Der Konflikt wurde von manchen Beob­ach­tern als Klippe betrachtet, an welcher nicht nur der Euro, sondern sogar die EU zerschellen könnten. Letzt­lich einigte man sich auf einen Kompro­miss, der von beiden Seiten als Erfolg verkauft wurde, obwohl er weder die Probleme Italiens noch die Probleme des Euro – bzw. die unge­lösten Probleme seiner poli­ti­schen und insti­tu­tio­nellen Ausge­stal­tung – lösen wird. Ein Erfolg war der Kompro­miss jedoch auf jeden Fall für die beiden italie­ni­schen Regie­rungs­par­teien, die davon profi­tierten, die EU zum Einlenken gezwungen zu haben. 

Profi­lie­rungs­po­litik

Matteo Salvini und Luigi Di Maio, die beiden Vize-Regierungschefs und Vertreter der Koalitions-Parteien Lega Nord und Movi­mento Cinque Stelle («M5S»), nutzten den Konflikt mit der EU als will­kom­mene Gele­gen­heit zur Profi­lie­rung, indem sie die Rück­wei­sung des Budgets durch die EU als Einmi­schung in die Kompe­tenzen der italie­ni­schen Regie­rung und als Verlet­zung der Souve­rä­nität Italiens darstellten. Vor allem Lega-Chef Matteo Salvini, Vize-Regierungschef und Innen­mi­nister, der schon die Flücht­lings­frage dazu genutzt hatte, sein poli­ti­sches Profil zu schärfen, nutzte auch den Budget-Konflikt, um sich im Streit mit der EU als starker Mann der Regie­rung zu profilieren. 

Die Einset­zung der EU als Sünden­bock erlaubte es den beiden Regie­rungs­par­teien zudem, ihre internen Diffe­renzen zu über­spielen. Tatsäch­lich war ihre Koali­tion keine Liebes­heirat, sondern eine Vernunft-Ehe, die zwei Parteien den Weg zur Macht ebnete, die unter­schied­liche und teils konkur­rie­rende Programme und Inter­essen vertreten. Der vorge­legte Budget-Entwurf war nicht zuletzt die Kumu­la­tion der Wahl­ver­spre­chen der beiden Parteien an ihre Klientel, ohne dass ange­sichts der begrenzten Mittel Prio­ri­täten gesetzt worden wären, deren Aushand­lung auch zu einem Bruch der insta­bilen Regie­rungs­ko­ali­tion hätte führen können – beide Parteien müssen ihrer Wähler­schaft noch einige Resul­tate liefern, d.h. einige ihrer Wahl­ver­spre­chen umsetzen, bevor sie sich den nächsten Wahlen stellen. 

Die italie­ni­sche Wachstumsschwäche

Gegen­über der Öffent­lich­keit wurde die Erhö­hung des Defi­zits natür­lich nicht als Resultat der gegen­sei­tigen Scho­nung darge­stellt, sondern als durch­dachte ökono­mi­sche Stra­tegie, als ein Programm, das die Wirt­schaft und damit das Wachstum ankur­beln werde, wodurch dank der stei­genden Steu­er­ein­nahmen letzt­lich sogar eine Reduk­tion der Staats­schuld möglich werden solle. Diese Wachs­tums­pro­gnose der Regie­rung wird jedoch nicht nur von der EU, sondern auch von den meisten anderen Beob­ach­tern Italiens ange­zwei­felt, nicht zuletzt aufgrund ähnli­cher, nie erfüllter Verspre­chungen der Vorgänger-Regierungen, einschliess­lich der Regie­rungen Berlus­conis (damals auch teil­weise mit Minderheits-Beteiligung der Lega Nord). 

BIP-Entwicklung in Europa; Quelle: Bankenverband.de

Auch in den vergan­genen Jahren hat Italien bei stei­gender Staats­ver­schul­dung (sie liegt heute bei ca. 130% des BIP) keine Verbes­se­rung der wirt­schaft­li­chen Lage erlebt. Das BIP pro Kopf lag in Italien 2018 infla­ti­ons­be­rei­nigt 0,8% über jenem von 1999, während es in Frank­reich 2018 um 16,9% und in Deutsch­land gar 28,7% höher lag als 1999 – ohne dass in diesen beiden Ländern die Staats­ver­schul­dung auf italie­ni­sches Niveau gestiegen wäre. 

Die Wachs­tums­schwäche Italiens hat konkrete soziale Auswir­kungen, die dazu beitragen, dass die popu­lis­ti­schen Parteien einen merk­li­chen Zulauf haben: Zuneh­mende Stagna­tion, ja Verar­mung des Mittel­standes, hart­nä­ckige Arbeits­lo­sig­keit, vor allem auch unter Jugend­li­chen, die sich in ihrer persön­li­chen Entwick­lung gebremst sehen, bis hin zum Zwang, auch nach Abschluss der Ausbil­dung im Eltern­haus wohnen zu bleiben und auf die Grün­dung einer Familie zu verzichten, da die finan­zi­elle Selb­stän­dig­keit uner­reichbar ist. Als einzige Alter­na­tive erscheint dann oft nur noch, auszu­wan­dern (oder in die Politik zu gehen, könnte man sarkas­tisch beifügen).

Ohne Reformen, welche die im Vergleich zum rest­li­chen Europa gerin­gere Produk­ti­vität und Effi­zienz sowohl der Wirt­schaft wie der öffent­li­chen Verwal­tung Italiens korri­gieren würden, wird die Auswei­tung der Staats­aus­gaben kaum eine besseren Zukunft herbei­führen. Die nächste Budget­krise – und damit auch die nächste Krise für den Euro und für die EU – scheint vorprogrammiert.

Die Lega Nord

Wenn die Lega Nord heute die Ehre Italiens gegen die EU zu vertei­digen vorgibt, so ist es inter­es­sant, zurück­zu­bli­cken, woher sie kommt. Gegründet von Umberto Bossi in der ersten Hälfte der 1980er Jahre als «Lega Lombarda» verband sich diese 1991 mit anderen Auto­no­mie­be­we­gungen Nord­ita­liens (aus den Regionen Veneto, Piemont, Ligu­rien, Emilia-Romagna, Toskana) und wurde zur jetzigen Partei Lega Nord. In ihren Anfängen vertrat sie die weit­ge­hende Föde­ra­li­sie­rung Italiens, wobei teil­weise auch die volle Abspal­tung des – wirt­schaft­lich besser­ge­stellten – Nord­ita­lien vom Süden Italiens gefor­dert wurde. Ihr Vorwurf lautete, dass der Norden vom Süden recht eigent­lich ausge­nommen werde, in Form der stän­digen und viel­fäl­tigen Trans­fer­zah­lungen vom Norden in den Süden, mit denen es sich die Bevöl­ke­rung im Süden bequem mache, ohne dass der Süden wirt­schaft­lich selb­ständig geworden sei. 

Innen­mi­nister Salvini auf Rete4, Quelle: twitter

In den Parla­ments­wahlen 2018 wurde die Lega im Norden Italiens die stärkste Kraft, während das M5S, vorher in ganz Italien ähnlich stark präsent, im Süden zur stärksten Kraft wurde. Para­do­xer­weise geht die Lega damit eine Koali­tion ein mit einer Partei, die (zumin­dest zurzeit) ihre grösste Macht­basis im früher geschmähten Süden hat. Salvini teilt heute sein Amt als Vize-Präsident der Regie­rung mit dem aus Neapel stam­menden Luigi Di Maio. Und das «Bürger-Grundeinkommen», welches das M5S der Lega abge­trotzt hat, wird gemäss ersten Schät­zungen vor allem Haus­halten im Süden zugu­te­kommen. Im Sinne ihrer alten Prin­zi­pien verlangte die Lega (die nicht zuletzt auch die Inter­essen der nord­ita­lie­ni­schen Klein­un­ter­nehmer vertritt) immerhin, dass das Bürger­ein­kommen nicht bedin­gungslos vergeben werde, sondern nach Bedürf­tig­keit, und dass die Anreize nicht so gestaltet werden, dass das Einkommen von der Suche nach einer Beschäf­ti­gung abhalte und die Bequem­lich­keit prämiere. Ansonsten hört man von Salvini aber wenig zum Thema wirt­schaft­liche Reformen. Seine Profi­lie­rung als starker Mann der Regie­rung dagegen scheint erfolg­reich zu sein: Salvini konnte die Wähler­basis der Lega (das «Nord» wird heute meist wegge­lassen), die in der Parla­ments­wahl stim­men­mässig hinter dem M5S zurück­ge­legen hatte, mitt­ler­weile stark vergrös­sern und scheint sogar das M5S über­holt zu haben, auch im Süden. 

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Die Lega war früher berühmt für Vorfälle an ihren Veran­stal­tungen, bei denen die italie­ni­sche Natio­nal­hymne und die italie­ni­sche Natio­nal­flagge, die Triko­lore, verun­glimpft wurden. Dieselbe Partei stellt heute den Innen­mi­nister des Landes und dieser spielt heute eher die natio­na­lis­ti­sche als die regio­na­lis­ti­sche Karte. Tatsäch­lich sind die Föde­ra­li­sie­rung und die Anfein­dung des italie­ni­schen Südens mitt­ler­weile von anderen Themen über­la­gert worden. Die Feinde, gegen die sich die Lega unter Salvini heute abgrenzt, sind mitt­ler­weile Menschen, die noch weiter aus dem Süden kommen: die Immigranten. 

Polternder Popu­lismus

Die polternde Art der Ausein­an­der­set­zung hat Salvini von seinem Vorgänger Bossi geerbt, sie scheint das Marken­zei­chen aller popu­lis­ti­schen Bewe­gungen zu sein. Dabei wird auch das Zielen unter die Gürtel­linie nicht vermieden. Berüch­tigt ist zum Beispiel Bossis Ausruf an einer Veran­stal­tung: «La Lega Nord ce l’ha duro», was man ziem­lich wört­lich über­setzen kann mit «die Lega Nord hat einen Steifen». Machismo und die Bewun­de­rung für starke Führer bezie­hungs­weise für auto­ri­täre oder gar auto­kra­ti­sche Regie­rungen gehören seit je dazu. Das übrige Europa war scho­ckiert, als Bossi während des Koso­vo­kriegs und der Nato-Bombardierung Serbiens dem serbi­schen Präsi­denten Milošević einen Besuch abstat­tete. Von hier führt eine direkte Linie zur Bewun­de­rung Salvinis für Putin. Salvini posierte in T-Shirts mit Putin-Aufdruck, er besuchte die besetzte Krim, Vertreter der Lega Nord waren neben Vertre­tern anderer rechter Parteien unter den «Wahl­be­ob­ach­tern», die auf Einla­dung Russ­lands die Wahlen auf der besetzten Krim über­wachten, und die Lega unter­zeich­nete mit der hinter Putin stehenden Partei Einiges Russ­land 2017 ein Asso­zi­ie­rungs­ab­kommen für fünf Jahre. In diesen Zusam­men­hang gehört auch, dass Salvini Viktor Orbán als sein Vorbild nennt. 

Ein Poli­tiker des M5S nach den Parla­ments­wahlen 2018 auf Rete4; Quelle

In Sachen polternder Ausein­an­der­set­zung steht der Begründer des M5S, Giuseppe Grillo, dem Lega-Gründer Bossi und dem jetzigen Lega-Chef Salvini aller­dings in nichts nach – und das M5S teilt auch Salvinis Haltung zu Russ­land und Putin. Das M5S ist viel­leicht noch schil­lernder als die Lega. Es ist entstanden aus einer gene­rellen Frus­tra­tion weiter Schichten über die Politik und das poli­ti­sche Estab­lish­ment Italiens, begleitet von einem gene­rellen Miss­trauen gegen­über Insti­tu­tionen und von einer Sympa­thie für basis­de­mo­kra­ti­sche Formen der Politik, die Online-Abstimmungen begrüsst und die Uner­fah­ren­heit frischer poli­ti­scher Talente rühmt.

Mitt­ler­weile ist die Bewe­gung in lokalen und regio­nalen Parla­menten sowie im natio­nalen Parla­ment vertreten, sie stellt die Regie­rung einiger Städte, und sie ist Partner in der natio­nalen Regie­rung. Dabei wird die Abnei­gung gegen Insti­tu­tionen und die Uner­fah­ren­heit in öffent­li­chen Ämtern oft zum Problem. Dies zeigte sich etwa im reich­lich inkom­pe­tenten Umgang der Römer Bürger­meis­terin Virginia Raggi mit den krimi­nellen Struk­turen rund um öffent­liche Dienst­leis­tungen in der Haupt­stadt oder in gewissen ihrer Perso­nal­ent­schei­dungen (wie der Ernen­nung eines der Korrup­tion ange­klagten Strip­pen­zie­hers im Immo­bi­li­en­be­reich zum Berater und Perso­nal­chef sowie dessen Bruders zum Leiter des Tourismus-Sektors). Die Uner­fah­ren­heit zeigt sich vor allem promi­nent beim Vize-Regierungschef Luigi Di Maio, der als poli­ti­sches Talent sicht­lich hinter dem beschla­genen Matteo Salvini zurück­steht, der zuvor bereits in der Mailänder Politik und im italie­ni­schen Abge­ord­ne­ten­haus sowie im Europa-Parlament Erfah­rungen gesam­melt hatte. In seinem Amt als Arbeits­mi­nister, das er neben dem Amt als Vize-Regierungschef bekleidet, ist Di Maio bisher nicht durch Initia­tiven aufge­fallen, welche die Schaf­fung von Arbeits­plätzen begüns­tigen, sondern vor allem durch die Anstren­gung zur Durch­set­zung des Bürger-Grundeinkommens für die nicht oder prekär Arbeitstätigen. 

Wohin geht Italien?

Entgegen den basis­de­mo­kra­ti­schen Bekennt­nissen des M5S erkennt man bei seinen Führern immer wieder auch eine Tendenz zum Auto­ri­tären, wobei sie sich wie alle Popu­listen gerne auf den Willen des Volkes berufen, das sie gewählt hat. Diese Haltung teilt das M5S mit der Lega. Unter Beru­fung auf ein Recht der Regie­rung, ihre Vorhaben umzu­setzen, wurden von den Koali­ti­ons­par­teien schon zahl­reiche Insti­tu­tionen oder deren gegen­wär­tige Führungs­per­sonen, die sich den Vorhaben der Regie­rung entge­gen­stellten, ange­griffen oder verun­glimpft: der Staats­prä­si­dent, die Gerichte, der staat­liche Rech­nungshof, der Leiter der italie­ni­schen Sozi­al­ver­si­che­rungs­an­stalt, neuer­dings die Banca d’Italia. Unter dem Deck­mantel der Kritik an den alten Eliten, die angeb­lich für die Probleme Italiens verant­wort­lich seien (war die Lega nicht auch selbst schon in der Regie­rungs­ver­ant­wor­tung?), wird an den Bastionen der Demo­kratie gerüttelt. 

Gut möglich, dass die Koali­tion, in deren Gebälk es immer wieder knarrt und kracht, in abseh­barer Zeit ausein­an­der­bricht, wobei im Moment eine Stär­kung der Lega bei den nächsten Wahlen wahr­schein­lich scheint. Eine Koali­tion der Lega mit Parteien der Rechten wäre dann nicht ausge­schlossen. Salvini hat keine Berüh­rungs­ängste gegen­über Gruppen der extremen Rechten, von der Partei «Fratelli d’Italia» bis zur «Casa Pound» und anderen Forma­tionen. Würde Salvini dann gemäss seinem Vorbild Orbán auch Italien in eine illi­be­rale Demo­kratie zu wandeln versu­chen? Würden die italie­ni­schen Insti­tu­tionen einem solchen Angriff stand­halten? Der EU jeden­falls würden sich damit noch ganz andere Probleme stellen als ein neuer Budget­kon­flikt und eine neue Euro-Krise. Das Erodieren der Demo­kratie in einem Land, das Grün­dungs­mit­glied der EU war, würde die Substanz des demo­kra­ti­schen Selbst­ver­ständ­nisses der EU in Frage stellen.