Man braucht nur den Sonntagabendkrimi einzuschalten, wenn es darum geht, sich von der Wissenschaft und ihren meist männlichen Vertretern ein griffiges Bild zu machen: der verrückte Professor mit Hang zu extravagantem Lebensstil, der sozial unverträgliche Wissenschaftler in seiner einsam bewohnten Villa (im Keller ein paar Leichen), die als karrieregeil verunglimpfte Forscherin, die zuhause ihr Kind vernachlässigt, der Universitätsdozent, der entweder sentimental oder pervers ist. Das mag im einen oder anderen Fall ganz lustig sein. Das Problem ist nur: Diese Bilder sind offenbar so attraktiv, dass manche sie für die Realität halten. Forscher, so stellt man sich vor, sitzen hoch oben in einem Turm aus Elfenbein, weltabgewandt, abgehoben von den Niederungen des Alltags. Sie beschäftigen sich mit mindestens so alltagsfernen Themen und sind am Ende noch nicht einmal in der Lage, über diese verständlich zu sprechen oder zu schreiben. Ist es nicht so?
Das Wort ‚Elfenbeinturm‘ hat verschiedene Ursprünge. Zu den frühesten Belegen zählt eine Stelle im Hohen Lied Salomons im Alten Testament (7.3): Der Hals der Geliebten wird darin als Elfenbeinturm beschrieben und gelobt. In späteren Zeiten wird gelegentlich die Reinheit Marias durch einen Elfenbeinturm symbolisiert. Die heutige, davon grundsätzlich unterschiedene Bedeutung eines abgeschiedenen Ortes, an dem Gelehrte grüblerisch und eigenwillig ihren Forschungen nachgehen, entsteht erst im 19. Jahrhundert. Einschlägig geworden ist eine mit der Elfenbeinturmvokabel unternommene zwiespältige Charakterisierung, die der Literaturkritiker Charles Augustin Sainte-Beuve gegenüber dem romantischen Schriftsteller Alfred de Vigny vornahm. Dem entspricht, dass das Wort in dem heute üblichen negativen Sinn im Französischen (‚tour d’ivoire‘) auch etwas früher bezeugt ist als im Deutschen. In beiden Sprachen setzt die Karriere allerdings, wie auch im Englischen (‚ivory tower‘), erst im Verlauf des 20. Jahrhundert richtig ein – im Deutschen mit schließlich noch nachhaltigerem Erfolg als im Französischen und Englischen bis heute.

‚Elfenbeinturm‘ gemäß Google Ngram Viewer
Dabei fällt auf, dass das Wort historisch gesehen in dem Maße populär wird, wie der Sachverhalt – dass Forscher einsam vor sich hinwirken – größtenteils unzutreffend wird (falls er überhaupt je zutreffend war): Das Wort erscheint als Platzhalter für etwas, das zumindest in institutionalisierten Kontexten, wie sie in der Industrie, der Medizin sowie an Universitäten vorausgesetzt sind, kaum existiert. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Geistes- und Kulturwissenschaften. Zwar findet in diesen ein Großteil der Forschungszeit tatsächlich in Form einsamer Lektüre und Analysearbeit statt. Muße und Geduld mögen hinkommen. Aber auch in sogenannten Orchideenfächern lebt die Wissenschaft von der Zusammenarbeit, vom Dialog, von der Kommunikation. Wo dies nicht stattfindet, versandet die Forschung. Sie tut dies dann aber nicht aufgrund ihrer zeitweiligen Abgeschiedenheit, sondern aufgrund einer fehlenden Vernetzung. Und sie tut es gründlich bereits dann, wenn wissenschaftsintern die Relevanz, die immer auch die mögliche zukünftige Relevanz einer Forschungsrichtung impliziert, unklar bleibt.
Die Rede vom Elfenbeinturm, die in der Regel als Vorwurf daherkommt, zielt hingegen aus einem Bereich auf die Wissenschaft, der sich ihr gegenüber als ‚Außen‘ begreift. Im besten Fall erinnert der Vorwurf die Wissenschaft daran, dass sie ihrerseits in einem gesellschaftlichen Kontext steht und darin eine Funktion hat. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Aber zielt die Rede vom Elfenbeinturm denn, wenn sie als Vorwurf laut wird, wirklich auf eine vonseiten der Wissenschaft bestehende mangelnde Berücksichtigung gesellschaftlicher Kontexte, Fragen und Probleme? Oder geht es nicht eher umgekehrt darum, eine ‚Einmischung‘ zu verhindern oder in Frage zu stellen?
Vom Wort ‚Elfenbeinturm‘ kann man sich diesbezüglich – leider – keinen weiteren Aufschluss erhoffen. Denn so irreführend bereits der mit ihm anscheinend so treffend beschriebene Sachverhalt ist, so morsch ist die Grundlage, auf der eine solche Beschreibung – strikt von der Wortbedeutung her – überhaupt zu leisten wäre. Warum? Weil es Elfenbeintürme, einmal ganz wörtlich genommen, nicht gibt: Oder stehen irgendwo auf der Welt tatsächlich Türme rein aus Elfenbein, die man auch noch bewohnen könnte? Es mag Türme geben, die mit Elfenbein ausgestattet sind. Aber Elfenbeintürme, so wie sie in der inzwischen üblich gewordenen Wortverwendung auftreten, sind Fantasiegebilde. Es sind reine Erfindungen, noch nicht einmal Metaphern, denn dazu bräuchten sie eine konsistentere Herkunftsbedeutung. Ihr Realitätsgehalt deckt sich, wenn man sie wirklich ernst nimmt, mit dem vom Wolkenkuckucksheim.

Zu schön, um wahr zu sein… (kleiner Elfenbeinturm von Merlon Drâs, Quelle: niarts.de)
Trotzdem – oder eben deshalb – üben Elfenbeintürme eine faszinierende Wirkung aus: Sie suggerieren eine fremdartige Welt mit Bewohnern, die sich mit kostbaren, aber nutzlosen, dem Leben entzogenen, vielleicht sogar (denkt man ans Elfenbein, an Afrika, die Elefanten…) kriminell eroberten Dingen auseinandersetzen und umgeben. Elfenbeintürme scheinen, gerade weil es sie in der Wirklichkeit nicht gibt, für die Fantasie besonders anregend zu sein. Will man sie deuten, bleibt nur eine Verständnismöglichkeit: Sie als Symptome zu lesen. Die Elfenbeinturmvokabel ist Symptom eines diffusen Begehrens, ein Figurenschauspiel (Turm und Insasse) zu imaginieren, dem gegenüber man sich selbst als realistisch vorkommen darf. Die Ironie dabei: Wer das Wort verwendet und damit einen wirklichen Sachverhalt zu erfassen glaubt, erweist sich selbst als weltfern. Die einzig sinnvolle Verwendung des Wortes scheint denn auch die offensichtlich ironische zu sein. Kaum zufällig haben Schriftsteller dies schon früh erkannt und in der Haltung subversiver Affirmation entsprechende Bücher verfasst: Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972), Siegfried Lenz, Elfenbeinturm und Barrikade (1976/1983), Josef Haslinger, Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm (1996).
Weltfern ist in der ansonsten vorherrschenden pseudoscherzhaften bis diffamierenden Verwendung des Bildes vom Elfenbeinturm und seinen Bewohnern vieles. Weltfern ist die Annahme, dass es üblich, wenn nicht die Regel ist, dass Wissenschaftler Zeit und Muße im Überfluss haben, sich mit vollkommen belanglosen Dingen auseinanderzusetzen. Zumindest wer an einer Hochschule forscht und lehrt, weiß, dass das kaum so ist. Forschung ist zeitaufwändig, ja, aber es ist selbstverständlich, dass Forschungsergebnisse fortlaufend evaluiert werden, und zwar durch jene, die dafür die fachlich nötigen Qualifikationen mitbringen. Im Umkehrschluss gilt für das einzelne Forschersubjekt: Wer glaubt, nur aufgrund seiner Begabung, Geduld oder eigenbrötlerischen Intuition vorwärtszukommen, wird scheitern. Einsame ‚Leuchten‘ gibt es nur im Comic und im Kitschroman. Das Bild vom Forscher im Turm verkennt darüber hinaus die oftmals prekären Lebensumstände von Forschenden, vor allem des akademischen Nachwuchses, und dies weltweit. Tendenz: sich verschlimmernd. Wer sich glücklich schätzen darf, eine Professur innezuhaben, blickt in der Regel auf zehn bis zwanzig oder mehr Jahre eines frappant schlecht bezahlten Forscherlebens zurück. Eine Schrebergartenhütte wäre dafür im Vergleich zu einem Elfenbeinturm das weit passendere Bild.
Noch problematischer allerdings als das sozialtypologische Vorurteil ist die im Elfenbeinturmvorwurf steckende systematische Trübsicht auf das Verhältnis von Theorie (Elfenbeinturm) und Praxis (Draußen). Weltfern ist hier die Annahme, dass es eine Praxis gibt, die durch Theorie nur folgenlos beschrieben werden kann oder die durch Theorie gar grundsätzlich verfälscht wird. Dagegen bleibt einzuwenden: Jede Praxis ist selbst bereits durch theoretische Vorannahmen bestimmt. Durch die Wissenschaft werden diese Vorannahmen sowie auch ihre praktischen Folgen bestenfalls analysiert und dabei transparent und kritisierbar gemacht. Außerdem: Wissenschaft ist selbst eine Form von Praxis – die der Erforschung, Theoriebildung, Erklärung, Kritik.
Als 1960 der Verband Deutscher Studentenschaften den Studententag und die anschließende Publikation unter das Motto „Abschied vom Elfenbeinturm“ stellte, war genau ein solches Verständnis von wissenschaftlicher Praxis der Auslöser für entsprechende Proteste gegenüber einem zu kurz greifenden Verständnis von Theorie, so wie es heute allerdings nur noch von jenen ins Feld geführt wird, die Elfenbeintürme sehen, wo Analysen und Erkenntnisse vorliegen. Damit ist nicht gesagt, dass Theoriebildung nicht auch leerlaufen, schiefgehen, scheitern kann. Auch kommt es vor, dass Forschungsergebnisse schlecht (oder gar nicht) kommuniziert werden. Darüber hinaus gibt es Elfenbeinturmkritiker, die nichts so sehr wünschen, als selbst Bewohner des Elfenbeinturms zu sein (um dann, wenn sie vielleicht doch mal noch in ihn eintreten, zu merken, dass er gar nicht existiert – welch eine Enttäuschung). Das alles kann und soll man kritisieren dürfen: Aber muss man dazu ein seinerseits derart schiefes Bild wie das von einem Elfenbeinturm verwenden?
Weltfern ist weiter die Annahme, die Praxis der Wissenschaft genüge sich selbst: als ob man genauso gut Servietten falten könnte. Richtig ist am Gedanken der Abgeschiedenheit einzig, dass wissenschaftliche Reflexion, ja Reflexion überhaupt nicht nur umfassende Kenntnis der entsprechenden Gegenstände, Dokumente oder Prozesse voraussetzt, sondern zugleich eine Distanz dazu. Ohne diese gäbe es keine Möglichkeit, passende Begriffe, weiterführende Erklärungen, alternative Szenarien, mögliche Anwendungsoptionen zu entwerfen. Die für die Forschung und Reflexion notwendige – und nie einfach gegebene, sondern grundsätzlich zu erkämpfende – Distanz ist zugleich der Grund, warum Wissenschaft unabhängig von unmittelbarem Nutzen sein muss. Wirklich überflüssig wäre Wissenschaft genau genommen erst – und gerade – dann, wenn sie mit einer ohnehin vonstatten gehenden, sich selbst reproduzierenden Praxis identisch wäre.
Also machen wir uns nichts vor: Eine Wissenschaft, die distanzlos Anwendung sein möchte, ist keine Wissenschaft. Noch dazu bliebe am Ende eine derartige Nichtwissenschaft erst recht und in einem grundsätzlicheren Sinne nutzlos: unfrei, befangen im Diktat vermeintlich naturgegebener Umstände, ohne Potential für Veränderung, zukunftslos. Das Bild von der Wissenschaft im Elfenbeinturm lenkt dagegen ab von der strukturellen Notwendigkeit der Distanz, die es braucht, damit die Wissenschaft innerhalb einer Gesellschaft ihre zentrale Aufgabe erfüllen kann: Das Wissen einer Gesellschaft über sich selbst und das, was in ihr war, ist und zukünftig möglich und wünschbar ist, zu gewinnen und zu fördern. Eine Gesellschaft, die sich ein derartiges Wissen nicht leisten will, untergräbt ihre eigenen Fundamente.