Erzwungene Migration betrifft weltweit eine ganze Reihe von Akademiker:innen und ihre Forschung. Die Soziologin Olena Strelnyk und die Kulturwissenschaftlerin Mariya Shcherbyna richten ihren Blick auf die eigene Vertreibung aus der Ukraine, die der russische Angriffskrieg verursacht.

  • Olena Strelnyk

    Olena Strelnyk habilitierte sich 2018 in Soziologie an der Taras Shevchenko Kyiv National University, Ukraine. Sie ist die Autorin von “Childcare as work. A sociological perspective on mothering” (2017). Seit April 2022 ist sie Visiting Scholar an der Technischen Universität München. Derzeit untersucht sie verschiedene Aspekte der Auswirkungen des Krieges auf die Geschlechterrollen sowie auf die Situation und die Rechte der Frauen in der Ukraine.
  • Mariya Shcherbyna

    Mariya Shcherbyna (Maria Shcherbina) ist promovierte Kulturphilosophin und außerordentliche Professorin an der Ostukrainischen Nationalen Universität V. Dahl. Sie forscht zu Gender und Antidiskriminierung, war Mitglied der Antidiskriminierungskommission des ukrainischen Bildungsministeriums. Nachdem sie mit ihrem Sohn und ihrem großen Hund aus Charkiv geflohen ist, ist sie derzeit Gastwissenschaftlerin am Politecnico di Torino, Fellow der Akademie der Wissenschaften von Turin.

Wissenschaftler:innen, die durch Kriege, huma­ni­täre Kata­stro­phen oder aus poli­ti­schen Gründen vertrieben wurden, stehen vor den glei­chen Heraus­for­de­rungen, die durch erzwun­gene Migra­tion entstehen. Vorlie­genden Daten zufolge waren Frauen bisher in der Regel eine Minder­heit unter den vertrie­benen Wissenschaftler:innen. Nach Angaben des Council for At Risk Acade­mics (CARA), einer in London ansäs­sigen Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tion, die Akademiker:innen hilft, ihre Arbeit an einer von 124 Part­ner­uni­ver­si­täten und -insti­tu­tionen im Verei­nigten König­reich oder an einem anderen sicheren Ort fort­zu­setzen, lag das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den Programmteilnehmer:innen im November 2021 bei 6:1. Dies lässt sich zum Teil durch den geringen Anteil von Wissen­schaft­le­rinnen in Ländern erklären, aus denen Wissenschaftler:innen aus huma­ni­tären oder poli­ti­schen Gründen ausge­reist sind (z.B. Syrien oder Afgha­ni­stan). Der Haupt­un­ter­schied zwischen der Vertrei­bungs­welle aus der Ukraine infolge der russi­schen Inva­sion im Jahr 2022 und den voran­ge­gan­genen Flücht­lings­wellen in die EU-Länder besteht darin, dass sie deut­lich geschlechts­spe­zi­fi­scher ist.

Die Situa­tion von vertrie­benen Wissenschaftler:innen ist im Vergleich zu der von „durch­schnitt­li­chen“ Vertrie­benen besser. Wissenschaftler:innen verfügen über ein höheres Maß an sozialem und kultu­rellem Kapital, z. B. Fremd­spra­chen­kennt­nisse und Erfah­rung mit Reisen/Arbeiten im Ausland, sie können in Netz­werke gegen­sei­tiger Hilfe einge­bunden werden (z. B. Univer­si­täts­ge­mein­schaften). Darüber hinaus kam ein großer Teil von ihnen auf Einla­dung von Univer­si­täten zurück­greifen, die verschie­dene Programme für gefähr­dete Wissenschaftler:innen anboten.

In der Ukraine ist es nach Kriegs­recht den meisten Männern zwischen 18 und 60 Jahren unter­sagt, die Ukraine während des Krieges zu verlassen. Dementspre­chend machen Frauen mindes­tens 85 % der Zwangs­ver­trie­benen aus. Diese Situa­tion der aus der Ukraine vertrie­benen Wissen­schaft­le­rinnen stellt eine neue Heraus­for­de­rung dar und ist zu einer geschlechts­spe­zi­fi­schen Frage geworden. Frauen, die oft von Kindern und/oder anderen Fami­li­en­mit­glie­dern begleitet werden, müssen viele Heraus­for­de­rungen gleich­zeitig bewäl­tigen: sich an das Leben in einem neuen Land anpassen, sich oft allein um nahe­ste­hende Menschen kümmern, schwie­rige Entschei­dungen treffen, Frei­wil­li­gen­ar­beit leisten, arbeiten und sich in die wissen­schaft­liche Gemein­schaft der EU integrieren.

Dieser Artikel ist als auto­eth­no­gra­phi­sche Studie entstanden, da die Autorinnen gewaltsam vertrie­bene Wissen­schaft­le­rinnen sind (eine Sozio­login, die derzeit in Deutsch­land lebt, und eine Kultur­wis­sen­schaft­lerin, die in Italien lebt), und basiert auf einer Reihe von Pilot­in­ter­views und Konsul­ta­tionen mit Kolleg:innen aus der Ukraine, die nach Deutsch­land und Italien vertrieben wurden. Der Beitrag ist Teil eines laufenden Projekts, das die geschlechts­spe­zi­fi­schen Heraus­for­de­rungen für akade­mi­sche Karrieren und die Iden­ti­täten von vertrie­benen Wissen­schaft­le­rinnen analy­sieren soll. Dabei konzen­trieren wir uns auf drei Themen: das Alltags­leben und seine Heraus­for­de­rungen, die Heraus­for­de­rungen für die Forschungs­ar­beit, die Inte­gra­tion in ein neues akademisches/berufliches Umfeld und die Frage der Identität.

„Ich habe keine andere Wahl“: Müdig­keit, Unsi­cher­heit und Über­las­tung im Alltag

So lautet die Geschichte der Zwangs­um­sied­lung einer der Mitau­torinnen dieses Arti­kels, Mariya Shcher­byna, die im März 2022 die Stadt Charkiv, eine Metro­pole im Osten der Ukraine, unter Bomben- und Grana­ten­be­schuss verließ:

„Meine eigene Version der so genannten akade­mi­schen Mobi­lität aus Charkiv sah so aus, was im Vergleich zu anderen ein Privileg war: ein kleines Auto, in das gerade mal zwei Frauen, ich und eine Kollegin von mir, zwei unserer Kinder im Teen­ager­alter und zwei Hunde, darunter unser Hund Nero, mit einem Gewicht von 60 Kilo (er hat unter­wegs wegen des Stresses 5 kg abge­nommen), hinein­passten. Wir hatten genau so viel Zeug dabei, wie im Wagen Platz hatte, und im Koffer­raum befanden sich Benzin­ka­nister, Lebens­mittel, Medi­ka­mente und Hundefutter.“

Zwei Frauen, zwei Teen­ager, zwei Hunde (der kleine, 20 kg, sitzt auf dem Schoß seiner Besit­zerin, der größere, in diesem Moment 60 kg, liegt auf Mariya und ihrem Sohn). Teil des Flucht­wegs aus Charkiw, 2022, persön­li­ches Archiv

Wie sieht der Alltag unserer Befragten, die gewaltsam vertrie­bene Stipendiat:innen sind, aus? Eine kurze Beschrei­bung ist Arbeits­be­las­tung, Arbeits­be­las­tung und noch­mals Arbeits­be­las­tung. Für Vertrie­bene mit Kindern klingt der klas­si­sche Zwei­schicht­be­trieb mit bezahlter und unbe­zahlter сare-Arbeit wie ein Traum. Als wir unsere Kolle­ginnen und Kollegen fragten, wie sie das alles schaffen, lauteten die häufigsten Antworten: „Ich schaffe es nicht, irgend­etwas zu tun“, „Ich habe keine Zeit für irgend­etwas“ und „Ich habe keine Wahl“.

Im Alltag von vertrie­benen Akademiker:innen gibt es Heraus­for­de­rungen, die allen Kriegs­flücht­lingen gemeinsam sind, wie z. B. Sprach­bar­rieren, finan­zi­elle Unsi­cher­heit, Wohnungs­suche, Konfron­ta­tion mit einer fremden Kultur und Büro­kratie und ein neuer Flücht­lings­status, der oft mit Einschrän­kungen einiger Rechte verbunden ist, Anpas­sung an neue Lebens­be­din­gungen, fehlende Kontrolle über das Leben und mangelndes Selbst­ver­trauen, soziale Isola­tion, Gefühle der Macht­lo­sig­keit, Störung grund­le­gender sozialer Bindungen, psychi­sche Probleme und kriegs­be­dingte Trau­mata, „Schuld­ge­fühle der Über­le­benden“ und andere Probleme.

Für vertrie­bene Wissenschaftler:innen aus der Ukraine gibt es einige beson­dere Heraus­for­de­rungen: Sie müssen weiter­ar­beiten und forschen und sich um neue Stellen oder Stipen­dien bemühen, da die meisten ihrer akade­mi­schen Stellen befristet und unsi­cher sind. Gleich­zeitig enga­gieren sie sich in verschie­denen Formen der Frei­wil­li­gen­ar­beit: regel­mä­ßige finan­zi­elle Hilfe für Stif­tungen, die die Armee unter­stützen, oder für bestimmte mili­tä­ri­sche und zivile Personen, die sie kennen, oder Bemü­hungen um das Sammeln von Spenden, Hilfe bei Über­set­zungen für verwun­dete Soldaten in Reha­bi­li­ta­ti­ons­pro­grammen und für andere aus der Ukraine Geflüch­tete, Betei­li­gung an Schulen und Projekten der ukrai­ni­schen Diaspora usw.

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Die größte Heraus­for­de­rung besteht darin, dass viele von ihnen mit Ange­hö­rigen vertrieben werden, die ihre Fürsorge und Unter­stüt­zung benötigen.

Betreu­ungs­ar­beit ist eine beson­dere Herausforderung

Olena Strelnyk mit ukrai­ni­schen Kolle­ginnen auf dem 41. Kongress der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­logie o (Biele­feld, Deutsch­land, 28. September 2022), persön­li­ches Archiv

Die meisten vertrie­benen Wissen­schaft­le­rinnen mit Kindern sind zwangs­weise allein­er­zie­hend, da ihre Partner in der Ukraine bleiben mussten. Das bedeutet, dass die Frauen die Haupt- und oft auch die allei­nige Verant­wor­tung für das Fami­li­en­leben, für die Kinder und oft auch für die älteren Fami­li­en­mit­glieder tragen, und dass die Belas­tung durch die Betreu­ungs­ar­beit sowohl quan­ti­tativ als auch in Bezug auf die Inten­sität erheb­lich zunimmt. Gleich­zeitig sind die Ressourcen, auf die die Frauen zurück­greifen können, äußerst begrenzt: Es ist oft schwierig, Plätze in Kinder­gärten und Schulen zu finden, die alltäg­liche Logistik der Betreuung ist äußerst kompli­ziert, wenn man die lokale Sprache nicht beherrscht und die übli­chen Unter­stüt­zungs­netze (Verwandte und Freunde) fehlen. Ein einfa­ches Unter­nehmen wie ein Arzt­be­such kann zu einem zeit­rau­benden Problem werden:

„Um einen Haus­arzt kontak­tieren zu dürfen, muss man sich zunächst bei einer büro­kra­ti­schen Einrich­tung anmelden, deren Mitarbeiter:innen kein Englisch spre­chen. Meine Kolleg:innen sind oft beschäf­tigt, und ich möchte sie nicht stören, denn die Warte­schlangen sind lang. Meine persön­liche „quest“ hat 4 Stunden gedauert, aber es ist immer noch schneller, als eine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung bei der Polizei zu bekommen“ (Maria, Italien).

Wenn eine Frau mit Kindern und älteren Verwandten vertrieben wird, erhöht sich die Zahl solcher Heraus­for­de­rungen noch.

Auch die emotio­nale Arbeit nimmt zu. Dazu gehören die psycho­lo­gi­sche Betreuung von Fami­li­en­mit­glie­dern, vor allem Kindern und Jugend­li­chen, die Orga­ni­sa­tion von Psychologen- und Arzt­be­su­chen. Gleich­zeitig benö­tigen die Frauen selbst psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung aufgrund der Tren­nung der Fami­lien durch Krieg und Flucht, der durch Stress verur­sachten fami­liären Probleme und des zuneh­menden Drucks auf die Mütter, der zusätz­lich auch durch die stän­dige Notwen­dig­keit, unter unsi­cheren Bedin­gungen lebens­wich­tige Entschei­dungen zu treffen, entsteht. In einer solchen Situa­tion verlieren die Frauen den Kontakt zu ihrem eigenen Körper und zu ihrem eigenen psychi­schen Wohlbefinden.

All diese Heraus­for­de­rungen können zu einem Konflikt zwischen beruf­li­chen und fami­liären Aufgaben führen und sich negativ auf die Produk­ti­vität und Leis­tung von Wissenschaftler:innen sowie auf die Suche nach neuen Stellen auswirken. Darüber hinaus schränken der Status als Allein­ver­die­nerin und die Belas­tung durch die Betreu­ungs­ar­beit die Teil­nahme an aktiven Netz­werken ein, was zusätz­liche Hinder­nisse für ihre Produk­ti­vität und Sicht­bar­keit in der lokalen und inter­na­tio­nalen Wissen­schaft schafft.

Inte­gra­tion in ein neues berufliches/akademisches Umfeld: von der alten prekären Posi­tion zur neuen

Der Anteil der Frauen unter den Forscher:innen in der Ukraine liegt bei 46,3 % und ist damit relativ hoch im Vergleich z. B. zu den Nieder­landen (26,4 %), der Tsche­chi­schen Repu­blik (26,6 %), Deutsch­land (27,9 %), Luxem­burg (28,1 %) und Frank­reich (28,3 %) (UNESCO, 2019).  Die Schwan­kungen des Frau­en­an­teils unter den Wissenschaftler:innen und Forscher:innen in der Welt hängen von der Höhe der Löhne in der Wissen­schaft, den Beson­der­heiten des Aufbaus einer akade­mi­schen Karriere, der Einstel­lung und der akade­mi­schen Mobi­lität, der Möglich­keit, Karriere und Kinder­be­treuung zu verein­baren, den Geschlech­ter­ste­reo­typen über Frauen in der Wissen­schaft und den verschie­denen Forschungs­be­rei­chen ab.

Der hohe Anteil von Frauen in der Wissen­schaft in der Ukraine wird oft auf neoli­be­rale Weise als Beweis für den „großen Erfolg von Frauen in einer Gesell­schaft“ und ihre „indi­vi­du­elle Wahl“ inter­pre­tiert. Der typi­sche Diskurs über Frauen in der Wissen­schaft besteht haupt­säch­lich aus „Erfolgs­ge­schichten“ und weniger aus Diskus­sionen über die Heraus­for­de­rungen für Frauen beim Aufbau einer akade­mi­schen Lauf­bahn.  Struk­tu­relle Gründe liegen oft jenseits dieser Diskurse: Der hohe Anteil von Frauen in der Wissen­schaft weist auf den nied­rigen Status von Wissen­schaft und Forschungs­tä­tig­keit in der Gesell­schaft hin. Geringe Bezah­lung, oft erzwun­gene Teil­zeit­be­schäf­ti­gung aufgrund von Mittel­kür­zungen, befris­tete Verträge, Eigen­fi­nan­zie­rung wissen­schaft­li­cher Projekte, Reisen zu Konfe­renzen und Veröf­fent­li­chungen, fehlender Zugang zu guten Biblio­theken, über­mä­ßige Arbeits­be­las­tung in Lehre und Verwal­tung, geringes Ansehen von Wissen­schaft und wissen­schaft­li­cher Arbeit: all dies sind Bestand­teile der Realität der Forschungs­tä­tig­keit in der Ukraine, die sich mit dem Beginn des Krieges in vollem Umfang verschärft hat.

Nach dem Beginn des Angriffs­krieges gegen die Ukraine kamen viele ukrai­ni­sche Wissenschaftler:innen auf Einla­dung lokaler Univer­si­täten und Stif­tungen als „Scho­lars at Risk“ in die EU und andere Länder. Für viele von ihnen ist dies eine Chance auf ein menschen­wür­diges Leben und auf die Fort­set­zung ihrer Forschung. Viele Frauen werden jedoch früher oder später vor der Heraus­for­de­rung stehen, sich in den lokalen akade­mi­schen Markt zu inte­grieren und eine akade­mi­sche Lauf­bahn in einem anderen Kontext und mit meist nied­ri­geren Einstiegs­po­si­tionen zu verfolgen, da ihre Möglich­keiten, in der Ukraine zu forschen, sehr begrenzt waren.

Mariya Shcher­byna spricht auf einer Konfe­renz in Italien über die Geschichte der ukrai­ni­schen Frauen, persön­li­ches Archiv

Der akade­mi­sche Markt ist in vielen Ländern äußerst wett­be­werbs­in­tensiv, und oft werden die Karrie­re­chancen nicht nur und nicht einmal so sehr durch formale Indi­ka­toren (wie die Anzahl guter Veröf­fent­li­chungen und Zitate) bestimmt, sondern durch die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimmten akade­mi­schen Gemein­schaft, einem Netz­werk und allge­mein durch die „Sicht­bar­keit“ von Wissenschaftler:innen in der akade­mi­schen Welt. In der Regel verfügen ukrai­ni­sche vertrie­bene Wissenschaftler:innen nicht über diese Ressourcen oder sie sind begrenzt, selbst bei denje­nigen, die ein recht „wett­be­werbs­fä­higes“ akade­mi­sches Port­folio haben. Auch begrenzte zeit­liche Ressourcen aufgrund von Über­las­tung mit Betreu­ungs­ar­beit, chro­ni­schem Stress und Angst sowie Unsi­cher­heit über die Zukunft verrin­gern die Produk­ti­vität der wissen­schaft­li­chen Arbeit erheblich.

Viele ukrai­ni­sche Wissenschaftler:innen, die an Univer­si­täten und Forschungs­in­sti­tuten tätig waren, standen vor der Wahl, zu kündigen oder in die Ukraine zurück­zu­kehren, einige behielten jedoch ihre Posi­tionen als Dozent:innen und Professor:innen mit der Möglich­keit der Fern­lehre. Viele von ihnen halten ihre Verbin­dungen zu ukrai­ni­schen Univer­si­täten und Akade­mien aufrecht, weil sie über ihre weiteren Rück­kehr­pläne im Unklaren sind, in einer allge­mein unsi­cheren Posi­tion sind und es für sie wichtig ist, die Verbin­dungen zu ihrem Heimat­land und der ukrai­ni­schen akade­mi­schen Gemein­schaft aufrecht­zu­er­halten. Natalia unter­rich­tete beispiels­weise lange Zeit unent­gelt­lich an einer ukrai­ni­schen Univer­sität im Fern­stu­dium, weil während der langen Phase der akade­mi­schen Mobi­lität das Gehalt am Haupt­ar­beitsort nicht erhalten bleibt, und die Lehr­tä­tig­keit wurde für sie zu einer Möglich­keit, die Verbin­dung zur Ukraine aufrecht­zu­er­halten und zur Arbeit im Land beizu­tragen. Tamara arbeitet auf Voll­zeit­basis an einer ukrai­ni­schen Univer­sität und ist gleich­zeitig an einer deut­schen Univer­sität tätig.

Die meisten Wissenschaftler:innen, die wir kennen, blicken mit Sorge in die Zukunft. Das Fehlen finan­zi­eller „Polster“, die Fort­set­zung des Krieges, manchmal die Unmög­lich­keit der Rück­kehr aufgrund von zerstörten Häusern oder besetzten Gebieten sowie kurz­fris­tige Verträge und Stipen­dien wirken sich negativ auf die wissen­schaft­liche Arbeit aus: Es ist schwierig, auch nur ein mittel­fris­tiges Projekt zu planen, ohne zu wissen, wo man in einem Jahr stehen wird. Die Ausar­bei­tung eines Antrags auf Finan­zie­rung eines wissen­schaft­li­chen Projekts und die Bean­tra­gung der Mittel dauern lange. Das bedeutet, dass man nach dem Erhalt eines sechs­mo­na­tigen Stipen­diums eigent­lich sofort mit der Erstel­lung eines neuen Antrags für den Wett­be­werb beginnen musste, um über­haupt eine Chance auf eine neue Finan­zie­rung zu haben. Wenn wir uns an die ersten Monate als Geflüch­tete mit Familie erin­nere, mit dem enormen Stress und den Heraus­for­de­rungen der ersten Monate der Anpas­sung, war das fast unmöglich.

Darüber hinaus beein­flusste die Realität des Krieges die Neuaus­rich­tung der Forschung von Wissenschaftler:innen in den Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften: Man kann nicht einfach seine Vorkriegs­pro­jekte fort­setzen, da sich alle Struk­turen, Insti­tu­tionen und Prak­tiken im Kontext des Krieges verän­dert haben. Dies erfor­dert, wenn nicht die Neukon­zi­pie­rung der Forschungs­themen, so doch zumin­dest deren Über­denken und die Erhe­bung neuer Daten. Gleich­zeitig ist die Nach­frage nach Wissen über die Ukraine groß, und dementspre­chend steigt die Belas­tung für ukrai­ni­sche Wissenschaftler:innen insbe­son­dere aus den Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften. Viele Wissenschaftler:innen sind aus diesen und anderen Gründen über­lastet und erschöpft.

Besorg­nis­er­re­gend ist die Situa­tion für dieje­nigen, die nach einem Kurz­zeit­sti­pen­dium keine weitere Förde­rung erhielten und ihre wissen­schaft­liche Tätig­keit einstellten oder ihr Profil voll­ständig änderten (der Anteil solcher Wissenschaftler:innen ist schwer zu bezif­fern). Natalia zum Beispiel, die mit einem Forschungs­sti­pen­dium nach Deutsch­land kam, erhielt keine Verlän­ge­rung der Förde­rung und war verun­si­chert. Glück­li­cher­weise gelang es ihr, ein neues Stipen­dium zu finden, aller­dings lebte sie sechs Monate lang von ihren Ersparnissen.

„Flie­hende Professor:innen“: Aufbau einer neuen Identität

Die Iden­tität von „flie­henden Profes­soren“ oder vertrie­benen Akademiker:innen ist ein viel­schich­tiges Konstrukt, das tief in der Dicho­tomie ihrer wissen­schaft­li­chen Rolle und ihres Status als Geflüch­tete verwur­zelt ist. Es umfasst folgende Aspekte: ein komplexes Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl an der Grenze zwischen zwei Welten; ein Gefühl der Verant­wor­tung für die Reprä­sen­ta­tion der Ukraine in der Welt („Die Ukraine wird von uns beur­teilt“); Über­le­gungen zur eigenen Hand­lungs­fä­hig­keit als dieje­nigen, die gegen die russi­sche Propa­ganda kämpfen, für die Inter­essen der Ukraine eintreten und ukrai­ni­sche Studien in der inter­na­tio­nalen Akademie fördern; die Schwie­rig­keit, sich als Spezialist:in und Forscher:in und nicht nur als Opfer des Krieges zu positionieren.

Olena Strelnyk an der Münchener Pride – 2022, persön­li­ches Archiv

Vertrie­bene Akademiker:innen beschreiben ihre Posi­tion oft als „Grenz­fall“, wobei sie aufgrund ihrer beruf­li­chen Iden­tität eine privi­le­gierte Stel­lung unter den Flücht­lingen einnehmen, die es ihnen ermög­licht, ihr intel­lek­tu­elles Selbst zu bewahren, in einigen Fällen aber zu einer Verleug­nung der Flücht­lings­iden­tität führt. Iryna zum Beispiel sagt, dass sie sich als Berufs­mi­grantin betrachtet, die nach Berlin gegangen ist (von Charkiv aus, das ständig unter Rake­ten­be­schuss steht), um Geld zu verdienen, während Tamara sagt, dass sie, wenn die Inva­sion nicht statt­ge­funden hätte, immer noch mit einem Stipen­dium im Fach­be­reich Mathe­matik arbeiten würde, aller­dings für einen kürzeren Zeit­raum, und dass es sich in diesem Fall um eine Art akade­mi­sche Mobi­lität handelt. Gleich­zeitig glaubt sie aber auch, dass sie sich nicht nicht als Geflüch­tete bezeichnen kann, weil sie gleich­zeitig eine Geflüch­tete ist.

Vertrie­bene Akademiker:innen als Zwangs­mi­granten können als „Gelehrte von nirgendwo nach nirgendwo“ (McLaughlin et al., 2020) beschrieben werden, sie befinden sich gewis­ser­maßen in einem Land „zwischen“ der Heimat, die sie zurück­ge­lassen haben, und ihrem derzei­tigen Aufent­haltsort, mit aufge­scho­benen Leben und unklaren Plänen aufgrund der höchst unge­wissen Situa­tion, mit der sie konfron­tiert sind.

Darüber hinaus fühlen sich viele vertrie­bene Akademiker:innen in beson­derer Weise für ihre Hand­lungen während des Krieges verant­wort­lich und empfinden inner­lich, dass sie die Stimmen der Zurück­ge­blie­benen vertreten: Sie haben ihre Fami­lien und Freunde in der Ukraine zurück­ge­lassen, die kämpfen, sich frei­willig enga­gieren, die arbeiten und in einer vom Krieg zerrüt­teten Gesell­schaft leben. Sie, insbe­son­dere dieje­nigen, die derzeit in den ukrai­ni­schen Streit­kräften dienen, sind nicht in der Lage, die euro­päi­sche Gemein­schaft direkt über die ukrai­ni­sche Situa­tion zu infor­mieren. Eine der Solda­tinnen, die den Sani­täts­dienst des Batail­lons leitet, sagte in einem Inter­view für ein anderes Projekt offen, dass sie sich ausschließ­lich auf Wissenschaftler:innen in Europa verlässt, um ihre Stimme zu erheben und über die ukrai­ni­schen Erfah­rungen und das Alltags­leben im Kontext des Krieges zu sprechen.

So bezeichnen sich die Wissenschaftler:innen oft als „Botschafter:innen der Ukraine“, was einer­seits bedeutet, die Ukraine und die ukrai­ni­sche Kultur im Alltag zu fördern (vom Kochen natio­naler Gerichte für die Gast­fa­mi­lien bis hin zu Gesprä­chen über die aktu­elle Lage in der Ukraine mit Nach­barn und Kollegen) und ande­rer­seits Fach­kon­fe­renzen und Veran­stal­tungen zu orga­ni­sieren und Orga­ni­sa­ti­ons­ar­beit zu leisten, die auch als akade­mi­sche Betreu­ungs­ar­beit bekannt ist.

Plakat zum Vortrag von Olena Strelnyk in München, persön­li­ches Archiv

Für Sozialwissenschaftler:innen und huma­ni­täre Helfer:innen erfor­dern Krieg und Vertrei­bung einen Wechsel der Themen oder die Aufnahme neuer Themen im Zusam­men­hang mit Krieg und erzwun­gener Migra­tion, die die Geschichten derje­nigen verkör­pern, die nicht gehen konnten oder sich entschieden haben, zu bleiben. Oft spre­chen die Wissenschaftler:innen nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze Gemein­schaft, die vom Krieg betroffen ist, und beleuchten die Lebens­er­fah­rungen ihrer Lands­leute. Sie betonen ihren aktiven Wider­stand gegen Desin­for­ma­tion, Mani­pu­la­tion und Propa­ganda, die die mediale Darstel­lung von Russ­lands Krieg gegen die Ukraine umgibt, und setzen ihre intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten und Erfah­rungen aus erster Hand ein, um unbe­grün­dete Erzäh­lungen zu entlarven. Ihre Stimmen spielen eine entschei­dende Rolle bei der Gestal­tung des globalen Verständ­nisses der Situa­tion und damit auch bei der Gestal­tung der poli­ti­schen Reak­tionen. Dieser Teil der Iden­tität von Wissenschaftler:innen bietet die Möglich­keit, einen wesent­li­chen Beitrag zu einer genaueren Darstel­lung der ukrai­ni­schen Situa­tion und des ukrai­ni­schen Volkes zu leisten. Diese Posi­tion ist jedoch mit Heraus­for­de­rungen, der Möglich­keit von Mobbing und Gefahren für ihre prekäre Posi­tion an ihren Gast­uni­ver­si­täten verbunden. Für Wissenschaftler:innen führt sie dazu, dass das Gefühl des Anders­seins verstärkt wird bzw. eine neue Bedeu­tung erlangt. In der akade­mi­schen Gemein­schaft werden sie oft nicht aufgrund ihrer beruf­li­chen Leis­tungen wahr­ge­nommen, sondern als jemand, der Kriegs­er­fah­rungen und Trau­mata hat.

Die Wech­sel­be­zie­hung zwischen den Iden­ti­täten von Wissenschaftler:innen als vertrie­bene Personen und vertrie­bene Wissenschaftler:innen stellt eine Situa­tion dar, die weiter unter­sucht werden muss. Da sich diese spezi­elle Gruppe immer wieder in neuen Umge­bungen zurecht­finden muss, kann durch weitere Forschung das komplexe Zusam­men­spiel dieser Rollen und die mögli­chen Auswir­kungen auf das beruf­liche und persön­liche Leben besser verstanden werden. Dieses Verständnis kann dazu beitragen, Wege zu finden, ukrai­ni­sche Wissen­schaft­le­rinnen in ihren Gast­län­dern und akade­mi­schen Systemen besser zu unter­stützen, syste­mi­sche Probleme anzu­gehen und ihre Inte­gra­tion insge­samt zu erleichtern.