Wissenschaftler:innen, die durch Kriege, humanitäre Katastrophen oder aus politischen Gründen vertrieben wurden, stehen vor den gleichen Herausforderungen, die durch erzwungene Migration entstehen. Vorliegenden Daten zufolge waren Frauen bisher in der Regel eine Minderheit unter den vertriebenen Wissenschaftler:innen. Nach Angaben des Council for At Risk Academics (CARA), einer in London ansässigen Wohltätigkeitsorganisation, die Akademiker:innen hilft, ihre Arbeit an einer von 124 Partneruniversitäten und -institutionen im Vereinigten Königreich oder an einem anderen sicheren Ort fortzusetzen, lag das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den Programmteilnehmer:innen im November 2021 bei 6:1. Dies lässt sich zum Teil durch den geringen Anteil von Wissenschaftlerinnen in Ländern erklären, aus denen Wissenschaftler:innen aus humanitären oder politischen Gründen ausgereist sind (z.B. Syrien oder Afghanistan). Der Hauptunterschied zwischen der Vertreibungswelle aus der Ukraine infolge der russischen Invasion im Jahr 2022 und den vorangegangenen Flüchtlingswellen in die EU-Länder besteht darin, dass sie deutlich geschlechtsspezifischer ist.
Die Situation von vertriebenen Wissenschaftler:innen ist im Vergleich zu der von „durchschnittlichen“ Vertriebenen besser. Wissenschaftler:innen verfügen über ein höheres Maß an sozialem und kulturellem Kapital, z. B. Fremdsprachenkenntnisse und Erfahrung mit Reisen/Arbeiten im Ausland, sie können in Netzwerke gegenseitiger Hilfe eingebunden werden (z. B. Universitätsgemeinschaften). Darüber hinaus kam ein großer Teil von ihnen auf Einladung von Universitäten zurückgreifen, die verschiedene Programme für gefährdete Wissenschaftler:innen anboten.
In der Ukraine ist es nach Kriegsrecht den meisten Männern zwischen 18 und 60 Jahren untersagt, die Ukraine während des Krieges zu verlassen. Dementsprechend machen Frauen mindestens 85 % der Zwangsvertriebenen aus. Diese Situation der aus der Ukraine vertriebenen Wissenschaftlerinnen stellt eine neue Herausforderung dar und ist zu einer geschlechtsspezifischen Frage geworden. Frauen, die oft von Kindern und/oder anderen Familienmitgliedern begleitet werden, müssen viele Herausforderungen gleichzeitig bewältigen: sich an das Leben in einem neuen Land anpassen, sich oft allein um nahestehende Menschen kümmern, schwierige Entscheidungen treffen, Freiwilligenarbeit leisten, arbeiten und sich in die wissenschaftliche Gemeinschaft der EU integrieren.
Dieser Artikel ist als autoethnographische Studie entstanden, da die Autorinnen gewaltsam vertriebene Wissenschaftlerinnen sind (eine Soziologin, die derzeit in Deutschland lebt, und eine Kulturwissenschaftlerin, die in Italien lebt), und basiert auf einer Reihe von Pilotinterviews und Konsultationen mit Kolleg:innen aus der Ukraine, die nach Deutschland und Italien vertrieben wurden. Der Beitrag ist Teil eines laufenden Projekts, das die geschlechtsspezifischen Herausforderungen für akademische Karrieren und die Identitäten von vertriebenen Wissenschaftlerinnen analysieren soll. Dabei konzentrieren wir uns auf drei Themen: das Alltagsleben und seine Herausforderungen, die Herausforderungen für die Forschungsarbeit, die Integration in ein neues akademisches/berufliches Umfeld und die Frage der Identität.
„Ich habe keine andere Wahl“: Müdigkeit, Unsicherheit und Überlastung im Alltag
So lautet die Geschichte der Zwangsumsiedlung einer der Mitautorinnen dieses Artikels, Mariya Shcherbyna, die im März 2022 die Stadt Charkiv, eine Metropole im Osten der Ukraine, unter Bomben- und Granatenbeschuss verließ:
„Meine eigene Version der so genannten akademischen Mobilität aus Charkiv sah so aus, was im Vergleich zu anderen ein Privileg war: ein kleines Auto, in das gerade mal zwei Frauen, ich und eine Kollegin von mir, zwei unserer Kinder im Teenageralter und zwei Hunde, darunter unser Hund Nero, mit einem Gewicht von 60 Kilo (er hat unterwegs wegen des Stresses 5 kg abgenommen), hineinpassten. Wir hatten genau so viel Zeug dabei, wie im Wagen Platz hatte, und im Kofferraum befanden sich Benzinkanister, Lebensmittel, Medikamente und Hundefutter.“

Zwei Frauen, zwei Teenager, zwei Hunde (der kleine, 20 kg, sitzt auf dem Schoß seiner Besitzerin, der größere, in diesem Moment 60 kg, liegt auf Mariya und ihrem Sohn). Teil des Fluchtwegs aus Charkiw, 2022, persönliches Archiv
Wie sieht der Alltag unserer Befragten, die gewaltsam vertriebene Stipendiat:innen sind, aus? Eine kurze Beschreibung ist Arbeitsbelastung, Arbeitsbelastung und nochmals Arbeitsbelastung. Für Vertriebene mit Kindern klingt der klassische Zweischichtbetrieb mit bezahlter und unbezahlter сare-Arbeit wie ein Traum. Als wir unsere Kolleginnen und Kollegen fragten, wie sie das alles schaffen, lauteten die häufigsten Antworten: „Ich schaffe es nicht, irgendetwas zu tun“, „Ich habe keine Zeit für irgendetwas“ und „Ich habe keine Wahl“.
Im Alltag von vertriebenen Akademiker:innen gibt es Herausforderungen, die allen Kriegsflüchtlingen gemeinsam sind, wie z. B. Sprachbarrieren, finanzielle Unsicherheit, Wohnungssuche, Konfrontation mit einer fremden Kultur und Bürokratie und ein neuer Flüchtlingsstatus, der oft mit Einschränkungen einiger Rechte verbunden ist, Anpassung an neue Lebensbedingungen, fehlende Kontrolle über das Leben und mangelndes Selbstvertrauen, soziale Isolation, Gefühle der Machtlosigkeit, Störung grundlegender sozialer Bindungen, psychische Probleme und kriegsbedingte Traumata, „Schuldgefühle der Überlebenden“ und andere Probleme.
Für vertriebene Wissenschaftler:innen aus der Ukraine gibt es einige besondere Herausforderungen: Sie müssen weiterarbeiten und forschen und sich um neue Stellen oder Stipendien bemühen, da die meisten ihrer akademischen Stellen befristet und unsicher sind. Gleichzeitig engagieren sie sich in verschiedenen Formen der Freiwilligenarbeit: regelmäßige finanzielle Hilfe für Stiftungen, die die Armee unterstützen, oder für bestimmte militärische und zivile Personen, die sie kennen, oder Bemühungen um das Sammeln von Spenden, Hilfe bei Übersetzungen für verwundete Soldaten in Rehabilitationsprogrammen und für andere aus der Ukraine Geflüchtete, Beteiligung an Schulen und Projekten der ukrainischen Diaspora usw.
Die größte Herausforderung besteht darin, dass viele von ihnen mit Angehörigen vertrieben werden, die ihre Fürsorge und Unterstützung benötigen.
Betreuungsarbeit ist eine besondere Herausforderung

Olena Strelnyk mit ukrainischen Kolleginnen auf dem 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie o (Bielefeld, Deutschland, 28. September 2022), persönliches Archiv
Die meisten vertriebenen Wissenschaftlerinnen mit Kindern sind zwangsweise alleinerziehend, da ihre Partner in der Ukraine bleiben mussten. Das bedeutet, dass die Frauen die Haupt- und oft auch die alleinige Verantwortung für das Familienleben, für die Kinder und oft auch für die älteren Familienmitglieder tragen, und dass die Belastung durch die Betreuungsarbeit sowohl quantitativ als auch in Bezug auf die Intensität erheblich zunimmt. Gleichzeitig sind die Ressourcen, auf die die Frauen zurückgreifen können, äußerst begrenzt: Es ist oft schwierig, Plätze in Kindergärten und Schulen zu finden, die alltägliche Logistik der Betreuung ist äußerst kompliziert, wenn man die lokale Sprache nicht beherrscht und die üblichen Unterstützungsnetze (Verwandte und Freunde) fehlen. Ein einfaches Unternehmen wie ein Arztbesuch kann zu einem zeitraubenden Problem werden:
„Um einen Hausarzt kontaktieren zu dürfen, muss man sich zunächst bei einer bürokratischen Einrichtung anmelden, deren Mitarbeiter:innen kein Englisch sprechen. Meine Kolleg:innen sind oft beschäftigt, und ich möchte sie nicht stören, denn die Warteschlangen sind lang. Meine persönliche „quest“ hat 4 Stunden gedauert, aber es ist immer noch schneller, als eine Aufenthaltsgenehmigung bei der Polizei zu bekommen“ (Maria, Italien).
Wenn eine Frau mit Kindern und älteren Verwandten vertrieben wird, erhöht sich die Zahl solcher Herausforderungen noch.
Auch die emotionale Arbeit nimmt zu. Dazu gehören die psychologische Betreuung von Familienmitgliedern, vor allem Kindern und Jugendlichen, die Organisation von Psychologen- und Arztbesuchen. Gleichzeitig benötigen die Frauen selbst psychologische Unterstützung aufgrund der Trennung der Familien durch Krieg und Flucht, der durch Stress verursachten familiären Probleme und des zunehmenden Drucks auf die Mütter, der zusätzlich auch durch die ständige Notwendigkeit, unter unsicheren Bedingungen lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, entsteht. In einer solchen Situation verlieren die Frauen den Kontakt zu ihrem eigenen Körper und zu ihrem eigenen psychischen Wohlbefinden.
All diese Herausforderungen können zu einem Konflikt zwischen beruflichen und familiären Aufgaben führen und sich negativ auf die Produktivität und Leistung von Wissenschaftler:innen sowie auf die Suche nach neuen Stellen auswirken. Darüber hinaus schränken der Status als Alleinverdienerin und die Belastung durch die Betreuungsarbeit die Teilnahme an aktiven Netzwerken ein, was zusätzliche Hindernisse für ihre Produktivität und Sichtbarkeit in der lokalen und internationalen Wissenschaft schafft.
Integration in ein neues berufliches/akademisches Umfeld: von der alten prekären Position zur neuen
Der Anteil der Frauen unter den Forscher:innen in der Ukraine liegt bei 46,3 % und ist damit relativ hoch im Vergleich z. B. zu den Niederlanden (26,4 %), der Tschechischen Republik (26,6 %), Deutschland (27,9 %), Luxemburg (28,1 %) und Frankreich (28,3 %) (UNESCO, 2019). Die Schwankungen des Frauenanteils unter den Wissenschaftler:innen und Forscher:innen in der Welt hängen von der Höhe der Löhne in der Wissenschaft, den Besonderheiten des Aufbaus einer akademischen Karriere, der Einstellung und der akademischen Mobilität, der Möglichkeit, Karriere und Kinderbetreuung zu vereinbaren, den Geschlechterstereotypen über Frauen in der Wissenschaft und den verschiedenen Forschungsbereichen ab.
Der hohe Anteil von Frauen in der Wissenschaft in der Ukraine wird oft auf neoliberale Weise als Beweis für den „großen Erfolg von Frauen in einer Gesellschaft“ und ihre „individuelle Wahl“ interpretiert. Der typische Diskurs über Frauen in der Wissenschaft besteht hauptsächlich aus „Erfolgsgeschichten“ und weniger aus Diskussionen über die Herausforderungen für Frauen beim Aufbau einer akademischen Laufbahn. Strukturelle Gründe liegen oft jenseits dieser Diskurse: Der hohe Anteil von Frauen in der Wissenschaft weist auf den niedrigen Status von Wissenschaft und Forschungstätigkeit in der Gesellschaft hin. Geringe Bezahlung, oft erzwungene Teilzeitbeschäftigung aufgrund von Mittelkürzungen, befristete Verträge, Eigenfinanzierung wissenschaftlicher Projekte, Reisen zu Konferenzen und Veröffentlichungen, fehlender Zugang zu guten Bibliotheken, übermäßige Arbeitsbelastung in Lehre und Verwaltung, geringes Ansehen von Wissenschaft und wissenschaftlicher Arbeit: all dies sind Bestandteile der Realität der Forschungstätigkeit in der Ukraine, die sich mit dem Beginn des Krieges in vollem Umfang verschärft hat.
Nach dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine kamen viele ukrainische Wissenschaftler:innen auf Einladung lokaler Universitäten und Stiftungen als „Scholars at Risk“ in die EU und andere Länder. Für viele von ihnen ist dies eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben und auf die Fortsetzung ihrer Forschung. Viele Frauen werden jedoch früher oder später vor der Herausforderung stehen, sich in den lokalen akademischen Markt zu integrieren und eine akademische Laufbahn in einem anderen Kontext und mit meist niedrigeren Einstiegspositionen zu verfolgen, da ihre Möglichkeiten, in der Ukraine zu forschen, sehr begrenzt waren.

Mariya Shcherbyna spricht auf einer Konferenz in Italien über die Geschichte der ukrainischen Frauen, persönliches Archiv
Der akademische Markt ist in vielen Ländern äußerst wettbewerbsintensiv, und oft werden die Karrierechancen nicht nur und nicht einmal so sehr durch formale Indikatoren (wie die Anzahl guter Veröffentlichungen und Zitate) bestimmt, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten akademischen Gemeinschaft, einem Netzwerk und allgemein durch die „Sichtbarkeit“ von Wissenschaftler:innen in der akademischen Welt. In der Regel verfügen ukrainische vertriebene Wissenschaftler:innen nicht über diese Ressourcen oder sie sind begrenzt, selbst bei denjenigen, die ein recht „wettbewerbsfähiges“ akademisches Portfolio haben. Auch begrenzte zeitliche Ressourcen aufgrund von Überlastung mit Betreuungsarbeit, chronischem Stress und Angst sowie Unsicherheit über die Zukunft verringern die Produktivität der wissenschaftlichen Arbeit erheblich.
Viele ukrainische Wissenschaftler:innen, die an Universitäten und Forschungsinstituten tätig waren, standen vor der Wahl, zu kündigen oder in die Ukraine zurückzukehren, einige behielten jedoch ihre Positionen als Dozent:innen und Professor:innen mit der Möglichkeit der Fernlehre. Viele von ihnen halten ihre Verbindungen zu ukrainischen Universitäten und Akademien aufrecht, weil sie über ihre weiteren Rückkehrpläne im Unklaren sind, in einer allgemein unsicheren Position sind und es für sie wichtig ist, die Verbindungen zu ihrem Heimatland und der ukrainischen akademischen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Natalia unterrichtete beispielsweise lange Zeit unentgeltlich an einer ukrainischen Universität im Fernstudium, weil während der langen Phase der akademischen Mobilität das Gehalt am Hauptarbeitsort nicht erhalten bleibt, und die Lehrtätigkeit wurde für sie zu einer Möglichkeit, die Verbindung zur Ukraine aufrechtzuerhalten und zur Arbeit im Land beizutragen. Tamara arbeitet auf Vollzeitbasis an einer ukrainischen Universität und ist gleichzeitig an einer deutschen Universität tätig.
Die meisten Wissenschaftler:innen, die wir kennen, blicken mit Sorge in die Zukunft. Das Fehlen finanzieller „Polster“, die Fortsetzung des Krieges, manchmal die Unmöglichkeit der Rückkehr aufgrund von zerstörten Häusern oder besetzten Gebieten sowie kurzfristige Verträge und Stipendien wirken sich negativ auf die wissenschaftliche Arbeit aus: Es ist schwierig, auch nur ein mittelfristiges Projekt zu planen, ohne zu wissen, wo man in einem Jahr stehen wird. Die Ausarbeitung eines Antrags auf Finanzierung eines wissenschaftlichen Projekts und die Beantragung der Mittel dauern lange. Das bedeutet, dass man nach dem Erhalt eines sechsmonatigen Stipendiums eigentlich sofort mit der Erstellung eines neuen Antrags für den Wettbewerb beginnen musste, um überhaupt eine Chance auf eine neue Finanzierung zu haben. Wenn wir uns an die ersten Monate als Geflüchtete mit Familie erinnere, mit dem enormen Stress und den Herausforderungen der ersten Monate der Anpassung, war das fast unmöglich.
Darüber hinaus beeinflusste die Realität des Krieges die Neuausrichtung der Forschung von Wissenschaftler:innen in den Sozial- und Geisteswissenschaften: Man kann nicht einfach seine Vorkriegsprojekte fortsetzen, da sich alle Strukturen, Institutionen und Praktiken im Kontext des Krieges verändert haben. Dies erfordert, wenn nicht die Neukonzipierung der Forschungsthemen, so doch zumindest deren Überdenken und die Erhebung neuer Daten. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Wissen über die Ukraine groß, und dementsprechend steigt die Belastung für ukrainische Wissenschaftler:innen insbesondere aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Viele Wissenschaftler:innen sind aus diesen und anderen Gründen überlastet und erschöpft.
Besorgniserregend ist die Situation für diejenigen, die nach einem Kurzzeitstipendium keine weitere Förderung erhielten und ihre wissenschaftliche Tätigkeit einstellten oder ihr Profil vollständig änderten (der Anteil solcher Wissenschaftler:innen ist schwer zu beziffern). Natalia zum Beispiel, die mit einem Forschungsstipendium nach Deutschland kam, erhielt keine Verlängerung der Förderung und war verunsichert. Glücklicherweise gelang es ihr, ein neues Stipendium zu finden, allerdings lebte sie sechs Monate lang von ihren Ersparnissen.
„Fliehende Professor:innen“: Aufbau einer neuen Identität
Die Identität von „fliehenden Professoren“ oder vertriebenen Akademiker:innen ist ein vielschichtiges Konstrukt, das tief in der Dichotomie ihrer wissenschaftlichen Rolle und ihres Status als Geflüchtete verwurzelt ist. Es umfasst folgende Aspekte: ein komplexes Zugehörigkeitsgefühl an der Grenze zwischen zwei Welten; ein Gefühl der Verantwortung für die Repräsentation der Ukraine in der Welt („Die Ukraine wird von uns beurteilt“); Überlegungen zur eigenen Handlungsfähigkeit als diejenigen, die gegen die russische Propaganda kämpfen, für die Interessen der Ukraine eintreten und ukrainische Studien in der internationalen Akademie fördern; die Schwierigkeit, sich als Spezialist:in und Forscher:in und nicht nur als Opfer des Krieges zu positionieren.

Olena Strelnyk an der Münchener Pride – 2022, persönliches Archiv
Vertriebene Akademiker:innen beschreiben ihre Position oft als „Grenzfall“, wobei sie aufgrund ihrer beruflichen Identität eine privilegierte Stellung unter den Flüchtlingen einnehmen, die es ihnen ermöglicht, ihr intellektuelles Selbst zu bewahren, in einigen Fällen aber zu einer Verleugnung der Flüchtlingsidentität führt. Iryna zum Beispiel sagt, dass sie sich als Berufsmigrantin betrachtet, die nach Berlin gegangen ist (von Charkiv aus, das ständig unter Raketenbeschuss steht), um Geld zu verdienen, während Tamara sagt, dass sie, wenn die Invasion nicht stattgefunden hätte, immer noch mit einem Stipendium im Fachbereich Mathematik arbeiten würde, allerdings für einen kürzeren Zeitraum, und dass es sich in diesem Fall um eine Art akademische Mobilität handelt. Gleichzeitig glaubt sie aber auch, dass sie sich nicht nicht als Geflüchtete bezeichnen kann, weil sie gleichzeitig eine Geflüchtete ist.
Vertriebene Akademiker:innen als Zwangsmigranten können als „Gelehrte von nirgendwo nach nirgendwo“ (McLaughlin et al., 2020) beschrieben werden, sie befinden sich gewissermaßen in einem Land „zwischen“ der Heimat, die sie zurückgelassen haben, und ihrem derzeitigen Aufenthaltsort, mit aufgeschobenen Leben und unklaren Plänen aufgrund der höchst ungewissen Situation, mit der sie konfrontiert sind.
Darüber hinaus fühlen sich viele vertriebene Akademiker:innen in besonderer Weise für ihre Handlungen während des Krieges verantwortlich und empfinden innerlich, dass sie die Stimmen der Zurückgebliebenen vertreten: Sie haben ihre Familien und Freunde in der Ukraine zurückgelassen, die kämpfen, sich freiwillig engagieren, die arbeiten und in einer vom Krieg zerrütteten Gesellschaft leben. Sie, insbesondere diejenigen, die derzeit in den ukrainischen Streitkräften dienen, sind nicht in der Lage, die europäische Gemeinschaft direkt über die ukrainische Situation zu informieren. Eine der Soldatinnen, die den Sanitätsdienst des Bataillons leitet, sagte in einem Interview für ein anderes Projekt offen, dass sie sich ausschließlich auf Wissenschaftler:innen in Europa verlässt, um ihre Stimme zu erheben und über die ukrainischen Erfahrungen und das Alltagsleben im Kontext des Krieges zu sprechen.
So bezeichnen sich die Wissenschaftler:innen oft als „Botschafter:innen der Ukraine“, was einerseits bedeutet, die Ukraine und die ukrainische Kultur im Alltag zu fördern (vom Kochen nationaler Gerichte für die Gastfamilien bis hin zu Gesprächen über die aktuelle Lage in der Ukraine mit Nachbarn und Kollegen) und andererseits Fachkonferenzen und Veranstaltungen zu organisieren und Organisationsarbeit zu leisten, die auch als akademische Betreuungsarbeit bekannt ist.

Plakat zum Vortrag von Olena Strelnyk in München, persönliches Archiv
Für Sozialwissenschaftler:innen und humanitäre Helfer:innen erfordern Krieg und Vertreibung einen Wechsel der Themen oder die Aufnahme neuer Themen im Zusammenhang mit Krieg und erzwungener Migration, die die Geschichten derjenigen verkörpern, die nicht gehen konnten oder sich entschieden haben, zu bleiben. Oft sprechen die Wissenschaftler:innen nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze Gemeinschaft, die vom Krieg betroffen ist, und beleuchten die Lebenserfahrungen ihrer Landsleute. Sie betonen ihren aktiven Widerstand gegen Desinformation, Manipulation und Propaganda, die die mediale Darstellung von Russlands Krieg gegen die Ukraine umgibt, und setzen ihre intellektuellen Fähigkeiten und Erfahrungen aus erster Hand ein, um unbegründete Erzählungen zu entlarven. Ihre Stimmen spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des globalen Verständnisses der Situation und damit auch bei der Gestaltung der politischen Reaktionen. Dieser Teil der Identität von Wissenschaftler:innen bietet die Möglichkeit, einen wesentlichen Beitrag zu einer genaueren Darstellung der ukrainischen Situation und des ukrainischen Volkes zu leisten. Diese Position ist jedoch mit Herausforderungen, der Möglichkeit von Mobbing und Gefahren für ihre prekäre Position an ihren Gastuniversitäten verbunden. Für Wissenschaftler:innen führt sie dazu, dass das Gefühl des Andersseins verstärkt wird bzw. eine neue Bedeutung erlangt. In der akademischen Gemeinschaft werden sie oft nicht aufgrund ihrer beruflichen Leistungen wahrgenommen, sondern als jemand, der Kriegserfahrungen und Traumata hat.
Die Wechselbeziehung zwischen den Identitäten von Wissenschaftler:innen als vertriebene Personen und vertriebene Wissenschaftler:innen stellt eine Situation dar, die weiter untersucht werden muss. Da sich diese spezielle Gruppe immer wieder in neuen Umgebungen zurechtfinden muss, kann durch weitere Forschung das komplexe Zusammenspiel dieser Rollen und die möglichen Auswirkungen auf das berufliche und persönliche Leben besser verstanden werden. Dieses Verständnis kann dazu beitragen, Wege zu finden, ukrainische Wissenschaftlerinnen in ihren Gastländern und akademischen Systemen besser zu unterstützen, systemische Probleme anzugehen und ihre Integration insgesamt zu erleichtern.