In einigen Ländern bildet sich zurzeit eine vom Staat geförderte Pseudowissenschaft, in der nicht mehr die Kriterien akademischer Qualitätskontrolle gelten, sondern politische Loyalität. Das wirft ernste Fragen für die europäische Forschungsförderung und akademische Zusammenarbeit mit illiberalen Staaten auf.

  • Andrea Pető

    Andrea Pető ist Professorin für Neuere Geschichte am Institut für Geschlechterforschung der Central European University in Budapest, Ungarn, und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten wurden in siebzehn Sprachen übersetzt. 2018 erhielt sie den „Madame de Staël“-Preis für kulturelle Werte der All European Academies.

Als das Open Society Archive in Buda­pest im Sommer 2007 seine Samm­lung über­prüfte, iden­ti­fi­zierte es 100.000 Bände, die in den letzten zwanzig Jahren niemand gelesen hatte. Diese Bücher waren alle vor 1989 publi­ziert worden und über die Biblio­thek von Radio Free Europe ins Archiv gekommen. Dieses gab bekannt, die Bücher an die inter­es­sierte Öffent­lich­keit zu verschenken; dennoch verblieben rund 20.000 dieser unge­le­senen Bücher in seiner Samm­lung. Da kam die Kunst zu Hilfe: Man beschloss, aus ihnen plas­ti­fi­zierte Bücher­würfel herzu­stellen und sie an Insti­tu­tionen zu verschenken. Dort sollten sie als Tische, Stühle oder einfach nur als Kunst­werk dienen und die Betrachter an die Fehl­bar­keit eines Wissens erin­nern, das in der staat­lich kontrol­lierten Wissen­schafts­welt Osteu­ropas produ­ziert worden war. Werden die wissen­schaft­li­chen Bücher, die heute in Ungarn und in anderen Ländern mit illi­be­ralen Regimes produ­ziert werden, auch bald als Kunst­ob­jekte in Plas­tik­wür­feln landen? Es ist sehr wahr­schein­lich, dass es so sein wird.

„Polypor-Staaten“

Bücher­würfel aus unge­le­sener Lite­ratur; Quelle: kulturpont.hu

In Ungarn ereig­neten sich kürz­lich zwei beun­ru­hi­gende und mitein­ander verbun­dene Entwick­lungen. Erstens verstaat­lichte und zentra­li­sierte der unga­ri­sche Staat – ganz nach dem russi­schen Modell der insti­tu­tio­nellen Reform – die Forschungs­in­sti­tute der Unga­ri­schen Akademie der Wissen­schaften. Und zwei­tens wurde die Central Euro­pean Univer­sity (CEU) ins Exil gezwungen – von einem Mitglieds­land der EU in ein anderes! Wie werden diese Entwick­lungen nun die Forschung im Bereich der Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften beein­flussen? Schließ­lich sind sie es, die in den illi­be­ralen Staaten im Fokus der Angriffe gegen die Wissen­schaft stehen.

Die Frei­heit der akade­mi­schen Forschung war schon immer eine gewisse Illu­sion, da jemand das Gehalt der Forscher bezahlen muss. Es gibt zwei verschie­dene Modelle: Eines wurde von Humboldt entwi­ckelt, wo die Wissen­schaft vom Staat finan­ziert wird, und eines gehört zur angel­säch­si­schen Tradi­tion, wo private Geld­geber Mittel bereit­stellen. Aller­dings wird in beiden Fällen die Finan­zie­rung in der Regel von einem Gremium aus wissen­schaft­li­chen Experten verwaltet. Beide Systeme haben eigene Vor- und Nach­teile. Aber die neue Entwick­lung des staat­li­chen Zugriffs in Ungarn hat diesen Zustand verändert.

In den letzten zehn Jahren haben Politikwissenschaftler*innen ausführ­lich darüber disku­tiert, mit welcher Termi­no­logie die jüngsten Entwick­lungen in verschie­denen Ländern wie Ungarn, Polen, Serbien, Brasi­lien, den USA und der Türkei am besten zu verstehen sind. Mit Wero­nika Grze­balska nennen wir diese Staaten mit Blick auf den dort überall sehr ähnli­chen modus operandi der poli­ti­schen Macht (und gemäß dem biolo­gi­schen Begriff für para­si­täre Baum­pilze) illi­be­rale „Polypor-Staaten“. Im Gegen­satz zu anderen Politikwissenschaftler*innen, die diese Staaten wegen ihrer Effek­ti­vität bewun­dern, argu­men­tieren wir, dass die Polypor-Staaten keine origi­nellen Ideen haben, sondern nur Ideen von anderen über­nehmen, die sie für ihre eigenen Zwecke verwenden, das heißt für den bloßen Erhalt ihrer Macht.

Dazu arbeitet der Polypor-Staat mit drei Konzepten. Das erste ist „Sicher­heit“. In seinem öffent­li­chen Diskurs erklärt er alle mögli­chen Aspekte des Lebens und der Politik zu einer Frage der „Sicher­heit“, bis hin zur Geschlech­ter­for­schung und zu kriti­schen Intel­lek­tu­ellen, die er als eine Bedro­hung für diese „Sicher­heit“ darstellt. Dazu gehört zwei­tens eine spezi­fi­sche Fami­li­en­ideo­logie, die beinhaltet, dass der Staat beson­ders die Familie unter­stützt, damit aber über­wie­gend Mittel­stands­fa­mi­lien meint und oben­drein den Wert der Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit bewusst igno­riert. Das dritte Konzept schließ­lich ist für die akade­mi­sche Wissens­pro­duk­tion das rele­van­teste. Es geht um die Grün­dung und Förde­rung neuer Forschungs- und Lehr­in­sti­tu­tionen, die das gleiche Profil haben wie die bereits bestehenden, womit ein neues Phänomen geschaffen wird: die poly­pore Wissen­schaft. Während der letzten zehn Jahre wurden in den illi­be­ralen poly­poren Staaten mehrere neue Forschungs­ein­rich­tungen, Museen und Univer­si­täten gegründet, die genau das gleiche Profil haben wie die bereits bestehenden Museen und Univer­si­täten. Der Unter­schied zwischen diesen poly­poren Insti­tu­tionen und den bereits bestehenden liegt darin, dass es keine Quali­täts­si­che­rung gibt und die verfüg­baren Mittel gren­zenlos zu sein scheinen, da Geld aus anderen staat­li­chen Insti­tu­tionen in diese, nun eben­falls staat­lich finan­zierten Insti­tu­tionen gepumpt wird.

Zur popu­lis­ti­schen Wende gehört außerdem, dass der Mangel an Quali­täts­kon­trolle in den poly­poren Insti­tu­tionen dazu führte, die Systeme und Insti­tu­tionen der akade­mi­schen Quali­täts­kon­trolle im Allge­meinen anzu­greifen. In den betrof­fenen Ländern ernennen die Regie­rungen poli­tisch zuver­läs­sige Kommis­sare zu Führungs­kräften und Mitglie­dern von Quali­täts­si­che­rungs­ein­rich­tungen. Jeder andere Mecha­nismus der wissen­schaft­li­chen Bewer­tung wird durch den Staat syste­ma­tisch zerstört. Das erklärt die Angriffe gegen die Unga­ri­sche Akademie der Wissen­schaften, die den bislang für Profes­suren erfor­der­li­chen Titel eines Doktors der Akademie der Wissen­schaften (DSc) verleiht. Inzwi­schen sind die staat­li­chen Univer­si­täten damit beschäf­tigt, diese Anfor­de­rung aus ihren Bestim­mungen über die Beför­de­rungs­kri­te­rien zu strei­chen. Das Personal dieser poly­poren Insti­tu­tionen wird über persön­liche infor­melle Kanäle und Netz­werke rekru­tiert – und nicht über die akade­mi­sche Stellensuche.

Gravie­rende Konsequenzen

Welche Folgen hat der Aufbau dieses neuen poly­poren akade­mi­schen Netz­werks für die Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften? Dazu gehört erstens die Vermänn­li­chung des Berufs­standes, denn alle, die in letzter Zeit ernannt wurden, sind sehr ehrgei­zige junge Männer, bestens vernetzt mit jenen älteren Herren, die diese Entwick­lung voran­treiben. Letz­tere suchen junge Männer, die einen sehr ähnli­chen Habitus haben wie sie selbst, aber 25 Jahre jünger sind. Zwei­tens ergeben sich deut­liche Unter­schiede in der Bezah­lung: Profes­soren dieser poly­poren Insti­tu­tionen verdienen mindes­tens doppelt so viel und haben dort Zugang zu Forschungs- und Reise­sti­pen­dien. Die dritte Konse­quenz ist die Verschie­bung in der wissen­schaft­li­chen Ausrich­tung: Da die offi­zi­ellen Anfor­de­rungen für Profes­suren nur vorsehen, dass Wissen­schaftler Publi­ka­tionen in Fremd­spra­chen und Erfah­rung in der Lehre im Ausland vorweisen können sollten, veröf­fent­li­chen diese poly­poren Wissen­schaftler in selbst heraus­ge­ge­benen englisch­spra­chigen Zeit­schriften in Zentral­asien, Russ­land, Iran oder China und unter­richten in Unga­risch an Univer­si­täten, die von der unga­ri­schen Regie­rung in Nach­bar­län­dern mit unga­ri­schen Minder­heiten groß­zügig unter­stützt werden. Bei diesen Zeit­schriften handelt es sich nicht um die übli­chen „räube­ri­schen Zeit­schriften“, bei denen es sich einfach um zwie­lich­tige Wirt­schafts­un­ter­nehmen handelt; viel­mehr geht es um Zeit­schriften, die ohne jegliche Quali­täts­kon­trolle Arbeiten eines geschlos­senen Kreises publi­zieren, der auf poli­ti­scher Loya­lität basiert.

Aber die wich­tigste Konse­quenz ist, dass dieses neue akade­mi­sche System die Themen­wahl und die Rich­tung der wissen­schaft­li­chen Fragen beein­flusst; es bedeutet mit anderen Worten die Rück­kehr der Selbst­zensur. Das betrifft ebenso die Auswahl der Forschungs­themen wie die Teil­nahme an der öffent­li­chen Debatte oder gar das „Liken“ eines Facebook-Posts. In der poly­poren Wissen­schaft sichert die Loya­lität gegen­über der grup­pen­in­ternen Forschung den Zugang zu Finanz­mit­teln – und diese Mittel sind, ganz im Gegen­satz zu euro­päi­schen Forschungs­mit­teln, verfügbar, sicher, reich­lich vorhanden und leicht zu beschaffen. Die einzige Bedin­gung ist, dass die vorge­schla­gene Forschung mit den Zielen des Polypor-Staates vereinbar ist: die Über­nahme des staat­li­chen „Sicherheits“-Diskurses und die Unter­stüt­zung der Ideo­logie des Familialismus.

Die Rolle der EU

Werden die in Ungarn und anderen Ländern produ­zierten Bücher, in denen der Polypor-Staat den Staat und das akade­mi­sche Leben in Geisel­haft genommen hat, in einem Plas­tik­würfel enden, weil niemand sie lesen wird? Wie gesagt: Das ist sehr wahr­schein­lich. Dieser Prozess wirft aber auch ernste Fragen für die gesamte euro­päi­sche wissen­schaft­liche und akade­mi­sche Zusam­men­ar­beit auf. Erstens betreffen sie das gemein­same euro­päi­sche Evalua­ti­ons­system. Was die poly­poren Staaten angeht, sehen diese Insti­tu­tionen auf den ersten Blick wie akade­mi­sche Insti­tu­tionen aus; aber sie sind es nicht. Denn sie rekru­tieren nur zuver­läs­sige Kollegen die aus unter­schied­li­chen Gründen zur Selbst­zensur bereit sind. Zwei­tens wird dieser Prozess der bereits bestehenden Ökono­mi­sie­rung der euro­päi­schen Forschung zusätz­li­chen Auftrieb geben. Die poly­pore Wissen­schaft nutzt nicht allein die Ressourcen der Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften aus ideo­lo­gi­schen Gründen; sie nutzt auch dieje­nigen der Natur- und Inge­nieurs­wis­sen­schaften sowie der Medizin aus mate­ri­ellen Gründen. Die jüngste Verstaat­li­chung des Forschungs­netz­werks der Unga­ri­schen Akademie der Wissen­schaften bedeutet, dass unter dem neu geschaf­fenen Dach der unter­neh­me­ri­schen und akade­mi­schen Zusam­men­ar­beit, das von der Regie­rung mit einer Rhetorik von Exzel­lenz und „Impact“ erheb­lich geför­dert wird, private Unter­nehmen staat­liche Mittel und EU-Mittel in einer nicht trans­pa­renten Weise erhalten und ausgeben werden, um poli­tisch loyale Forscher zu unter­stützen – wiederum ohne trans­pa­rente Qualitätskontrolle.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Drit­tens stellt sich die Frage nach der Exis­tenz oder viel­mehr Nicht-Existenz jener insti­tu­tio­nellen Mecha­nismen, die den wider­stän­digen Akade­mi­kern meist jungen und mitt­leren Alters helfen, um sich vor dem exis­ten­zi­ellen Druck der Verar­mung und dem Mangel an Forschung und Reise­kosten zu schützen. Das insti­tu­tio­nelle System, das poli­tisch gefähr­dete Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaftler unter­stützt, basiert auf einem im Zweiten Welt­krieg entwi­ckelten Modell und geht davon aus, dass die Zeit des akade­mi­schen Exils nur wenige Jahre dauert und die Wissenschaftler*innen danach in ihre Länder zurück­kehren werden, um ihre Arbeit fort­zu­setzen. Dies wird mit der poly­poren Wissen­schaft nicht der Fall sein, da das insti­tu­tio­nelle und das Bewer­tungs­system grund­le­gend verän­dert wurden. Dieser verlo­renen Gene­ra­tion von Wissenschaftler*innen – sie selbst nennen sich auch „die zurück­ge­las­senen Wissen­schaftler“, seitdem das Open Society Insti­tute und die Central Euro­pean Univer­sity Ungarn verlassen haben – werden keine Bücher oder Zeit­schrif­ten­ar­tikel produ­zieren. Denn sie werden lang­fristig keinen Zugriff mehr auf Ressourcen erhalten, da der Polypor-Staat alles für sich selbst nutzt. Wenn sie auswan­dern, werden sie auf dem bekannt­lich schwie­rigen akade­mi­schen Arbeits­markt nur in Ausnah­me­fällen Zugang zu akade­mi­schen Stellen erhalten.

Daher stellt sich die entschei­dende Frage, ob die Vertreter der poly­poren Insti­tu­tionen im euro­päi­schen Kontext auf nach­gie­bige Akzep­tanz stoßen werden, wenn sie für die beab­sich­tigte Zusam­men­ar­beit eine üppige finan­zi­elle staat­liche Unter­stüt­zung mitbringen – oder ob ihnen Ableh­nung und Verach­tung entge­gen­ge­bracht werden wird. Wenn Letz­teres nicht der Fall ist, dann ist es durchaus möglich, dass der Polypor andere Insti­tu­tionen mit seinem machia­vel­lis­ti­schen Umgang mit Werten und Moral infi­ziert. Dann können wir auf lange Sicht nur noch hoffen, dass die Plas­tik­würfel aus ihren groß­zügig finan­zierten Büchern herge­stellt werden – und nicht aus unseren.