Die Welt des wissenschaftlichen Publizierens ist heftigen Erschütterungen ausgesetzt. Grossverlage errichten paywalls, die der klassischen Zensur in ihrer Wirkung kaum nachstehen. „Open Access“ wird als Alternative propagiert, hat die Macht der Verlage aber nicht gebrochen. Doch es gibt auch zukunftsweisende Modelle.

  • Maurice Erb

    Maurice Erb studierte Informatik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften sowie Recht an der Universität Zürich, wo er auch seine Doktorarbeit über zeitgenössische Philosophie abschloss. Er war Mitglied der E-Learning-Kommission der Philosophischen Fakultät und ist Mitherausgeber eines akademischen Open Access-Journals. Maurice Erb arbeitet als unabhängiger Berater in den Bereichen Fintech und Knowledge Management.
  • Simon Ganahl

    Simon Ganahl forscht und lehrt als Literatur- und Medienwissenschaftler mit einem Fokus auf Digital Humanities an der Universität Wien. Er leitet das digitale Mapping-Projekt Campus Medius und gibt die referierte Open-Access-Zeitschrift Genealogy+Critique heraus.
  • Patrick Kilian

    Patrick Kilian ist Historiker und wurde an der Universität Zürich mit einer Arbeit über die Entwicklung der US-Raumfahrtmedizin während des Kalten Kriegs promoviert. Heute arbeitet er als Storyteller bei einer internationalen Unternehmensberatung. Er interessiert sich für Mensch-Maschine-Beziehungen und für die merkwürdigen Wege, auf denen Wissen in die Welt und den Weltraum kommt.

Der Weg über die Grenze führte durch unweg­sames Gelände. Meist wurde die Reise bei Einbruch der Dunkel­heit ange­treten. Große Handels­routen galt es ebenso zu vermeiden wie das verrä­te­ri­sche Tages­licht. Im Grenz­ge­biet lauerte die Gefahr von einer Patrouille entdeckt und aufge­griffen zu werden: „Qui va là? Arrêtez!“

Grenz­kon­trollen und paywalls

Diese Szene beschreibt den Weg subver­siven Wissens in das vorre­vo­lu­tio­näre Frank­reich. Um die strenge Zensur des Ancien Régime zu umgehen, versorgten sich die aufklä­re­ri­schen Zirkel im Paris des 18. Jahr­hun­derts nicht selten aus dem Ausland mit den neuesten Schriften und Abhand­lungen, die unter der Hand gehan­delt und unter dem Mantel nach Hause getragen wurden. Ein wich­tiger Produ­zent des gefähr­li­chen Wissens war die Schweizer Société typo­gra­phique de Neuchâtel, die den fran­zö­si­schen Bücher­schwarz­markt zwischen 1769 und 1789 mit Raub­dru­cken und Schmug­gel­phi­lo­so­phie, aber auch mit eigenen Veröf­fent­li­chungen belieferte.

Im Zeit­alter der Wissens­ge­sell­schaft sind die Grenzen der Wissens­zir­ku­la­tion keines­wegs verschwunden, sondern haben sich ledig­lich in andere Gebiete verschoben. An die Stelle staat­li­cher Zensur und Kontrollen an den Landes­grenzen sind große Verlags­kon­zerne getreten, die nun über den Zugang zu wissen­schaft­li­chen Aufsätzen walten und diese hinter digi­talen paywalls vor einer schran­ken­losen Verbrei­tung zurück­halten. Um Zugang zu erhalten, müssen Univer­si­täts­bi­blio­theken nicht selten 20.000 US-Dollar für das Abon­ne­ment eines einzigen Jour­nals und indi­vi­du­elle Nutzer durch­schnitt­lich 30 US-Dollar für einen einzigen Aufsatz an die Riesen des Geschäfts wie Else­vier, SAGE, Springer oder Wiley-Blackwell überweisen.

Aufruhr im Lesesaal

Ober­lau­sit­zi­sche Biblio­thek der Wissen­schaften, 18. Jhd.; Quelle: wikipedia.org

Die Preise sind in den letzten Jahren drama­tisch in die Höhe geschossen. So zitiert der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Martin Eve in seinem 2014 erschie­nenen Buch Open Access and the Huma­ni­ties Ergeb­nisse statis­ti­scher Studien, die zeigen, dass die Ausgaben großer Univer­si­täts­bi­blio­theken für Zeit­schrif­ten­abon­ne­ments seit 1986 um etwa 300% gestiegen sind, während ihr Gesamt­budget in diesem Zeit­raum nur etwa um 79% erhöht wurde. Die Folgen dieses Trends sind Kürzungen beim wissen­schaft­li­chen Personal, beim Ankauf von Mono­gra­phien, bei Dienst­leis­tungen sowie der Erneue­rung und Umrüs­tung der tech­ni­schen Infrastruktur.

Unter den sonst eher unauf­ge­regten und wenig rebel­li­schen Biblio­the­karen führte diese Entwick­lung bereits zu regel­rechten Aufständen: Bereits 2003 kündigte die Cornell Univer­sity ihre Verträge mit vielen der von Else­vier heraus­ge­ge­benen Jour­nals; 2012 versen­dete die Harvard Library ein Memo an die 2.100 Mitar­beiter der Univer­sität, in dem sie erklärte, dem Preis­druck der Verlage nicht mehr stand­halten zu können. Mit jähr­lich 3,5 Millionen US-Dollar alleine für Zeitschriften-Abonnements sei man am Ende der finan­zi­ellen Möglich­keiten ange­langt. Mit dieser Ankün­di­gung war ein Aufruf zum Boykott der großen Verlage und der Appell zur Publi­ka­tion in Open-Access-Journals verbunden. Im Juni 2017 gaben schließ­lich auch die vier großen Wissen­schafts­zen­tren Berlins bekannt, bis zum Ende des Jahres ihre Verträge mit Else­vier aufzukündigen.

Schat­ten­bi­blio­theken

Eine radi­kale Inter­ven­tion gegen diese Entwick­lung kam von dem Program­mierer und Hacker Aaron Swartz, der 2008 mit dem „Guerilla Open Access Mani­fest“ von sich reden machte. Die beiden ersten Sätze dieses Mani­fests enthalten bereits die zentrale Diagnose: „Infor­ma­tion ist Macht. Und wie bei jegli­cher Macht gibt es jene, die sie für sich behalten wollen.“ Die Zurück­hal­tung von Wissen – oder tech­ni­scher: „Infor­ma­tion“ – folgt in dieser Lesart nicht nur einer ökono­mi­schen Logik, sondern ist Teil eines macht­po­li­ti­schen Kalküls. Während einige wenige privi­le­gierte Wissen­schaftler am „Bankett des Wissens speisen“, so Swartz weiter, bleibt „der Rest der Welt ausgesperrt“.

Diese Macht­be­zie­hungen sind weniger zentra­lis­tisch als viel­mehr netz­artig orga­ni­siert. Bereits 1970 beschrieb Michel Foucault in seiner Antritts­vor­le­sung zur „Ordnung des Diskurses“ eine „gewal­tige Ausschlie­ßungs­ma­schi­nerie“ des Wissens. Mit „einem ganzen Geflecht von Prak­tiken […], dem System der Bücher, der Verlage und der Biblio­theken, den gelehrten Gesell­schaften einst­mals und den Labo­ra­to­rien heute“, werde der Zugang zum Diskurs regu­liert und versperrt. An der Ausgren­zung der weniger Privi­le­gierten haben demnach nicht nur Else­vier & Co. ihren Anteil, sondern der akade­mi­sche Komplex insge­samt: die wohl­ha­benden Elite-Universitäten, die Publi­ka­ti­ons­prak­tiken ihrer Wissen­schaftler sowie das inter­na­tio­nale Ranking-System, über das einzelne paywall-Jour­nals zum Gold­stan­dard der akade­mi­schen Aufmerk­sam­keits­öko­nomie erhoben werden.

Um diese Unge­rech­tig­keit zu über­winden, formu­lierte Swartz in seinem Mani­fest einen (a)moralischen Impe­rativ: „Pass­wörter an Kollegen weiter­geben, Sachen für Freunde runter­laden“. Seine Geschichte nahm einen tragi­schen Verlauf. Im Juli 2011 wurde bekannt, dass Swartz beschul­digt wurde, ca. 4,8 Millionen wissen­schaft­liche Artikel auf der zugangs­be­schränkten Inter­net­platt­form JSTOR herun­ter­ge­laden zu haben. Noch vor Prozess­be­ginn, am 11. Januar 2013, beging der seit Jahren an Depres­sionen leidende Program­mierer in seiner Wohnung in Brooklyn Suizid.

Swartz‘ Akti­vismus sollte jedoch bald Nach­ahmer finden und wird gegen­wärtig von der kasa­chi­schen Neuro­wis­sen­schaft­lerin Alex­andra Elbakyan fort­ge­führt, die 2011 das ille­gale Online-Archiv „Sci-Hub“ ins Leben gerufen hat. Hier können Nutzer nach wissen­schaft­li­chen Aufsätzen suchen, die entweder bereits auf den Servern von Sci-Hub archi­viert sind oder durch regis­trierte Zugänge von den offi­zi­ellen Daten­banken der Zeit­schriften und Verlage für die Nutzer herun­ter­ge­laden werden. Nach eigenen Angaben hat die Schat­ten­bi­blio­thek auf diese Weise bereits über 60 Million Fach­auf­sätze erbeutet und auf ihren Servern deponiert.

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Im November 2015 gelang es dem Elsevier-Konzern, in einem Gerichts­ver­fahren durch­zu­setzen, dass die .org-Domain der Wissen­schaftspi­ratin gesperrt wurde. Die Seite ist über einen russi­schen Provider aller­dings weiterhin im offenen Internet sowie in den zwie­lich­tigen Unter­welten des Darknet „Tor“ verfügbar. Am 21. Juni 2017 konnte Else­vier einen weiteren Treffer gegen Alex­andra Elbakyan und Sci-Hub erzielen: Vor einem New Yorker Gericht wurden dem nieder­län­di­schen Konzern 15 Millionen US-Dollar Scha­dens­er­satz für Copyright-Verletzungen durch die Piraten-Plattform zuge­spro­chen. Ob Else­vier diese Summe aller­dings jemals erhalten wird, ist frag­lich, da Elbakan außer­halb der New Yorker Gerichts­bar­keit lebt und keine Vermögen in den USA besitzt.

Was tun?

Es gibt gute Gründe, Initia­tiven wie Sci-Hub zu befür­worten: Für viele Wissen­schaftler gibt es schlicht kaum Alter­na­tiven, um an die drin­gend benö­tigten, zugangs­be­schränkten Aufsätze von Kollegen zu kommen. Um zu verhin­dern, dass sich die scien­tific commu­nity zuneh­mend in eine gated commu­nity verwan­delt, mag Sci-Hub ein posi­tiver Weckruf sein.

Es gibt aber auch eine Menge guter Gründe, einer solchen Initia­tive skep­tisch gegen­über zu stehen: Zum einen, weil mit dem Tor-Netzwerk Sphären digi­taler Anony­mität genutzt werden, deren Untiefen weder ausge­lotet noch hinrei­chend kritisch reflek­tiert sind. Wollen wir wirk­lich, dass wissen­schaft­liche Aufsätze über Teil­chen­physik, Sprach­phi­lo­so­phie oder Mikro­bio­logie über die glei­chen Kanäle wie Waffen, Drogen und Auftrags­morde gehan­delt werden? Zum anderen ist Zurück­hal­tung geboten, weil die Artikel nicht nur an den Verlagen, sondern auch an den Autoren vorbei geschmug­gelt werden. Schließ­lich bleibt einzu­wenden, dass mit dem Dieb­stahl der Artikel zwar das Zugriffs-, nicht jedoch das Publi­ka­ti­ons­mo­nopol der Verlage gebro­chen wird.

Diese Einwände ändern aber nichts an Swartz‘ grund­sätz­li­chem Einwand, dass Wissen immer mehr zu einer Währung profit­ori­en­tierter, börsen­no­tierter Verlage und mithin zu einem Stra­tegem der Macht geworden ist. Das Problem ist bereits seit Längerem bekannt und formu­liert. So beispiels­weise in der „Buda­pest Open Access Initia­tive“ von 2002, dem „Bethesda State­ment on Open Access Publi­shing“ von 2003 sowie der eben­falls 2003 von neun­zehn inter­na­tio­nalen Forschungs­ein­rich­tungen unter­zeich­neten „Berlin Decla­ra­tion on Open Access to Know­ledge in the Sciences and the Huma­ni­ties“. Freier Zugang für alle statt paywall publi­shing lautet das einheit­liche Plädoyer dieser Erklärungen.

„You pay, we publish!“ Der goldene Weg über die Grenze?

Gegen­wärtig werden zwei verschie­dene, sich teils ergän­zende Open-Access-Strategien disku­tiert. Einer­seits der soge­nannte „grüne Weg“, bei dem Publi­ka­tionen zunächst weiterhin in regu­lären Verlags­zeit­schriften oder als kosten­pflich­tige Mono­gra­phien erscheinen, um dann nach Ablauf einer gewissen Karenz­zeit als digi­tale Open-Access-Version in Online-Repositorien zu gelangen. Gerade in Wissen­schafts­dis­zi­plinen, in denen bei hohem Konkur­renz­druck geforscht wird, reicht diese Karenz­zeit jedoch aus, die entspre­chenden Ergeb­nisse zu über­holen. Wissen­schaftler auf Spit­zen­ni­veau bleiben damit weiterhin an die Erst­ver­öf­fent­li­chungen gebunden, während ihre Kollegen an weniger zahlungs­kräf­tigen Univer­si­täten abge­hängt hinterherforschen.

Die zweite – viel­ver­spre­chen­dere – Form des Open Access ist der „goldene Weg“. Damit ist das exklu­sive Publi­zieren in Open-Access-Journals bzw. das Veröf­fent­li­chen von digital frei zugäng­li­chen Mono­gra­phien oder Sammel­bänden gemeint. Jeder Nutzer mit Zugang zum Internet kann diese „goldenen“ Open-Access-Veröffentlichungen barrie­re­frei abrufen, herun­ter­laden, weiter­leiten und ausdru­cken. Doch auch auf dem „goldenen Weg“ steckt der Teufel im Detail: Denn um die Kosten zu decken, die durch Begut­ach­tung, Korrek­torat, tech­ni­sche Imple­men­tie­rung und Veröf­fent­li­chung samt Daten­bank­in­di­zie­rung entstehen, sind nicht wenige Open-Access-Journals dazu über­ge­gangen, statt der Leser oder Abon­nenten nun die Autoren für die Publi­ka­tion zur Kasse zu bitten.

Solche article proces­sing charges (APCs) sind geeignet, die gesamte Idee von Open Access im Entstehen zu verei­teln. Nicht nur, dass mit der Auffor­de­rung, als Autor für die Veröf­fent­li­chung harter wissen­schaft­li­cher Arbeit zu bezahlen, die Selbst­aus­beu­tungs­logik der Krea­tiv­wirt­schaft an ihrem unka­schierten Flucht­punkt ange­langt ist; auch die Tatsache, dass es erneut v. a. die Elite-Universitäten sein werden, die ihren Mitar­bei­tern ein ausrei­chendes Publi­ka­ti­ons­budget zur Verfü­gung stellen können, deutet an, dass mit diesem Modell wenig gewonnen ist. Schlimmer noch: Bereits jetzt haben sich im Wind­schatten dieser Praxis eine ganze Reihe von Zeit­schriften zwei­fel­haften Typs etabliert, die bereit sind, gegen Bezah­lung Artikel zu veröf­fent­li­chen, welche von einem seriösen Journal mit Peer-Review-Verfahren niemals akzep­tiert würden. Frei nach dem geschäfts­tüch­tigen Motto: „You pay, we publish!“

Vertrau­ens­fragen

Ein Ausweg aus diesem zur Korrup­tion hin offenen Publi­ka­ti­ons­system wäre ein Modell, wie es seit 2015 erfolg­reich von der „Open Library of Huma­ni­ties“ prak­ti­ziert wird. Abge­sehen von einer zusätz­li­chen Förde­rung durch eine Wissen­schafts­stif­tung, finan­ziert dieser nicht auf Gewinn ausge­rich­tete Open-Access-Verlag seine publi­zierten Zeit­schriften durch ein Koope­ra­ti­ons­mo­dell mit zahl­rei­chen Univer­si­täts­bi­blio­theken. Auf diesem Weg werden weder die Autoren noch die Leser durch eine paywall am Zugang zu Publi­ka­tionen gehin­dert, die höchsten wissen­schaft­li­chen Stan­dards verpflichtet sind.

Um den gated scien­tific commu­ni­ties der kommer­zi­ellen Verlage entge­gen­wirken zu können, bietet ein solches Modell eine zukunfts­wei­sende Perspek­tive. Dennoch bleibt eine Reihe offener Fragen: Zunächst muss sich zeigen, ob die neu gegrün­deten, seriös begut­ach­teten Open-Access-Journals eine ähnliche Repu­ta­tion entwi­ckeln werden wie die tradi­tio­nellen Zeit­schriften. Für Forscher ist das sicher die zentrale Frage. Denn die Publi­ka­tion in ange­se­henen und mit hohem Impact Factor einge­stuften Fach­zeit­schriften wie Nature und Science ist nach wie vor entschei­dend für die Vergabe von wissen­schaft­li­chen Stellen und Projekt­fi­nan­zie­rungen. Die Open-Access-Journals werden also zunächst einen Vertrau­ens­kredit der Autoren benö­tigen, um sich lang­fristig etablieren zu können. Es bleibt abzu­warten, ob dem berech­tigten Ärger über die Verlage auch ein konse­quentes Umdenken im Wissen­schafts­alltag folgen wird.