Russlands Wirtschaft leidet unter den westlichen Sanktionen und tiefen Ölpreisen. Ein Staatsbankrott steht zwar nicht unmittelbar bevor, aber die Krise ist längst bei den Menschen angekommen. Dennoch unterstützt eine grosse Mehrheit Putin und dessen Politik. Wie erklärt sich dies?

2016 wird für Russ­land ein schwie­riges Jahr. Die tiefen Ölpreise haben ein Loch in die Staats­kasse gerissen. Nicht nur der Ener­gie­sektor, sondern viele damit verbun­dene Indus­trie­be­triebe leiden unter den Turbu­lenzen am Welt­öl­markt. Nun rächt sich, dass es die von Rohstoff­ex­porten abhän­gige russi­sche Wirt­schaft in der Zeit des Über­flusses verpasst hat, stärker zu diver­si­fi­zieren. Die Krise hat sich bereits spürbar auf den Lebens­stan­dard der Bevöl­ke­rung ausge­wirkt. Die Vertei­lung von Renditen aus dem Ölge­schäft war und ist aller­dings ein wich­tiges Instru­ment der Kreml­füh­rung, sich die Loya­li­täten der Eliten zu sichern. Doch jetzt werden die Petro­dol­lars knapp. Beginnt das System Putin zu wanken?

Sucht nach Öl

Noch im Dezember vergan­genen Jahres erklärte Russ­lands Präsi­dent Vladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation, dass der Höhe­punkt der Rezes­sion vorüber sei und Russ­lands Wirt­schaft, dessen Brut­to­in­lands­pro­dukt 2015 nach offi­zi­ellen Angaben um fast vier Prozent­punkte geschrumpft war, 2016 wieder ein mode­rates Wachstum erleben würde. Als Haupt­grund für die Krise nannte Putin den tiefen Welt­markt­preis für Öl und die Tatsache, dass sich Russ­lands Finanz­in­sti­tute aufgrund der west­li­chen Sank­tionen nur sehr einschränkt auf dem globalen Markt refi­nan­zieren können.

Als Putin seine Rede hielt, lag der Preis für ein Barrel Öl bei etwas über $40, immerhin $70 weniger als noch einein­halb Jahre zuvor. Doch es sollte ärger kommen: Der Preis brach erneut kräftig ein, das Fass Öl kostete im Januar zeit­weise sogar weniger als $30. Die russi­sche Führung versuchte deshalb gar nicht mehr, die Situa­tion zu beschö­nigen: „Wenn der Ölpreis weiter fällt“, meinte Russ­lands Premier­mi­nister Dmitrij Medvedev an einem Wirt­schafts­forum in Moskau Mitte Januar 2016, dann werde sich Russ­land „für den schlimmsten Fall“ vorbe­reiten müssen.

Quelle: http://www.energycomment.de/wp-content/uploads/2014/03/Russland-Öl-und-Gaseinnahmen-vergleich-mit-militärausgaben.png

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Wie dieser aussehen könnte, erklärte Medvedev nicht. Aber klar ist: Russ­land stellt sich auf eine lange Krise ein. Wenn die Prognosen der Analysten stimmen, dann bleibt der Ölpreis noch Monate, viel­leicht sogar Jahre, auf tiefem Niveau. Und die Gefahr, dass dadurch Russ­lands gesamte Wirt­schaft nach unten gezogen wird, ist gross. Denn das Land ist in jüngster Zeit gera­dezu süchtig nach Öl geworden. In der volks­wirt­schaft­li­chen Statistik steuert der Erdöl- und Erdgas­sektor zwar nur ein Viertel zum Brut­to­in­lands­pro­dukt bei, wobei alleine der Export fossiler Ener­gie­träger für knapp fünf­zehn Prozent der inlän­di­schen Wert­schöp­fung verant­wort­lich ist. Doch dieje­nigen, die darin ein Argu­ment für ein stabiles Funda­ment der russi­schen Wirt­schaft erkennen wollen, über­sehen, dass auch andere Wirt­schafts­be­reiche direkt oder indi­rekt vom Öl- und Gassektor abhängen. So fliessen die im Ausland erwirt­schaf­teten Petro­dol­lars als Inves­ti­tionen in andere Sektoren der russi­schen Wirt­schaft und in den Konsum zurück. Die russi­schen Staats­aus­gaben, die rund 20 Prozent zum Brut­to­in­lands­pro­dukt beisteuern, finan­zieren sich zu 60 Prozent aus Steuern auf den Erdöl- und Erdgassektor.

Das „System Putin“

Natür­lich wissen auch Russ­lands Poli­tiker um die Gefähr­lich­keit der Rohstoff­ab­hän­gig­keit ihres Landes. Seit 2001, und danach fast schon ritu­al­mässig, fordert Putin in seinen Reden zur Lage der Nation eine Diver­si­fi­zie­rung der Wirt­schaft. Weshalb ist dies bis heute nicht gelungen?

Die kurze Antwort darauf ist, dass die poli­ti­sche Führung zu keinem Zeit­punkt ernst­hafte Anstalten in diese Rich­tung unter­nommen hat. Anstatt Struk­tur­re­formen anzu­pa­cken, hat der Staat durch tiefe Steuern, nied­rige Ener­gie­preise und Erhö­hung der Sozi­al­leis­tungen faktisch über viele Jahre hinweg Teile der einhei­mi­schen Wirt­schaft subven­tio­niert – wohl auch mit dem Ziel, sich die Gunst der Bevöl­ke­rung zu sichern und sozialen Protesten vorzu­beugen. Daneben flossen die Rubel auch in solch kost­spie­lige Pres­ti­ge­pro­jekte wie etwa die Winter­olym­piade in Sotschi oder verschwanden auf dem Weg dorthin in den Taschen korrupter Poli­tiker und Beamter. Vor allem aber hat Russ­land in den letzten Jahren enorme Summen in die Moder­ni­sie­rung der Armee und die Vertei­di­gung inves­tiert und so anderen Sektoren der Wirt­schaft wich­tige Inves­ti­tionen entzogen.

Dieses Verhalten ist zwar für rohstoff­ex­por­tie­rende Länder nicht unty­pisch. Doch um zu begreifen, weshalb die russi­sche Führung das wirt­schafts­po­li­ti­sche Steuer kaum herum­reissen wird, muss das „System Putin“ verstanden werden, wie es sich in den letzten fünf­zehn Jahren heraus­ge­bildet hat. Ein wesent­li­cher Grund für Putins Macht­kon­so­li­die­rung ist darin zu sehen, dass nach der „wilden Priva­ti­sie­rung“ der 1990er Jahre der russi­sche Staat den Öl- und Gassektor, und damit den einzig wirk­lich renta­blen Wirt­schafts­zweig aus der Sowjet­zeit, schnell wieder unter seine Kontrolle gebracht hat. Dabei musste der Staat nicht notwen­di­ger­weise immer selbst zum Besitzer der jewei­ligen Unter­nehmen werden. Es reichte aus, in jedem Sektor staat­lich kontrol­lierte Gross­un­ter­nehmen zu schaffen, die für den grössten Teil der Produk­tion aufkommen. Über die Pipe­lines, die eben­falls im Besitz staat­li­cher Firmen sind, regelt der Staat den Zugang der Unter­nehmen zum Trans­port­netz. Schliess­lich ist es auch der Staat, der den Unter­nehmen Konzes­sionen zur Förde­rungen von Ressourcen erteilt – und diese bei Bedarf wieder entziehen kann.

Wenn davon ausge­gangen wird, dass Öl- und Gasun­ter­nehmen 97,7 Prozent der Einnahmen der 500 grössten Unter­nehmen des Landes gene­rieren, wie dies dem Rating der Multimedia-Holding RBK zu entnehmen ist, dann ist die Macht in Russ­land bei demje­nigen konzen­triert, der das Öl und Gas kontrol­liert. Und das Volumen der gesamten Erdöl- und Erdgas­ren­diten (hier verstanden als Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen minus Produk­ti­ons­kosten) war in den letzten Jahren gigan­tisch: Gemäss Berech­nungen der US-Ökonomen Clif­ford Gaddy und Barry Ickes erzielten Russ­lands Ener­gie­un­ter­nehmen 2008 Renditen im Umfang von sagen­haften 650 Milli­arden Dollar.

So gesehen ist es nicht über­trieben, Russ­land als ein kolos­sales Ener­gie­un­ter­nehmen zu begreifen, dem Putin als leitender Manager vorsteht. Und dieses Unter­nehmen hat aufgrund der Kombi­na­tion west­li­cher Sank­tionen und tiefem Ölpreis enorme Verluste einge­fahren. Darüber, wie hoch diese sind, gehen die Schät­zungen ausein­ander. Eine düstere Prognose liefern die Ökonomen Evsej Gurvič und Ilja Pril­epskij in der Tages­zei­tung Vedo­mosti vom 5. Februar 2016. Den Experten zufolge wird Russ­land 2014-2017 wegen des tiefen Erdöl­preises $400 Milli­arden weniger einnehmen, wenn der Preis pro Fass anstatt bei $100 im Durschnitt bei $50 zu liegen kommt. Die Kosten der west­li­chen Sank­tionen bezif­fern sie für den glei­chen Zeit­raum auf $170 Milliarden.

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Ölpreis­tief als Chance?

Schreibt ein Unter­nehmen rote Zahlen, dann ist das Manage­ment gefor­dert, eine Kurs­kor­rektur vorzu­nehmen – oder aber der Manager wird entlassen. Beides ist im Fall von Russ­land derzeit eher unwahrscheinlich.

Putin meinte zwar anläss­lich seiner Rede zur Lage der Nation im Dezember 2015, dass das nied­rige Ölpreis­ni­veau auch eine Chance darstellen würde, die Rohstoff­ab­hän­gig­keit zu redu­zieren, indem Sektoren wie die Hoch­tech­no­logie, aber auch klei­nere und mitt­lere Unter­nehmen (KMUs), gestärkt würden. Tatsäch­lich wäre gerade die Förde­rung der KMUs für die Diver­si­fi­zie­rung drin­gend nötig, steuern diese derzeit doch ledig­lich zwanzig Prozent zum Brut­to­in­lands­pro­dukt bei – und damit weit weniger als in den meisten west­li­chen Staaten, wo deren Wert­schöp­fungs­an­teil bei deut­lich über 50 Prozent liegt.

Der Weg dorthin ist aller­dings steinig. Um das Inno­va­ti­ons­po­ten­tial, das in der russi­schen Gesell­schaft schlum­mert, zur Entfal­tung zu bringen, wären nebst der entschie­denen Stär­kung der Rechts­si­cher­heit auch ein Abbau der büro­kra­ti­schen Erschwer­nisse, die entschlos­se­nere Bekämp­fung der Korrup­tion und schliess­lich auch die Bereit­stel­lung von finan­zi­ellen Mitteln nötig. Doch das eigent­liche Problem einer effek­tiven Diver­si­fi­zie­rung ist darin zu sehen, dass im bestehenden „System Putin“ ein florie­render Privat­sektor bestehend aus KUMs gar keinen Platz hat. Denn wenn das oberste Gebot die Wahrung eines Systems ist, das poli­ti­sche Macht mit Kontrolle über die Wirt­schaft gleich­setzt, dann ist nicht davon auszu­gehen, dass der Staat ein wirk­li­ches Inter­esse hat, einen Sektor zu fördern, der sich von seiner Struktur her weit weniger gut kontrol­lieren lässt als einige Dutzend Gross­un­ter­nehmen und Oligarchen.

„Kühl­schrank oder Fernseher“

Ein unmit­tel­barer Staats­bank­rott steht Russ­land zwar nicht bevor. Der Staat wird dank Rück­stel­lungen der letzten Jahre in Form eines milli­ar­den­schweren Erdöl­fonds und grossen Währungs­re­serven noch einige Zeit durch­halten können. Doch die Krise ist bei den Menschen längst ange­kommen. Täglich schliessen Geschäfte und verlieren Leute ihre Arbeit. Die Zahl der Menschen unter der Armuts­grenze steigt. Trotzdem bewegt sich die Popu­la­rität des Präsi­denten weiterhin auf histo­ri­schem Hoch und gibt es keine Massen­pro­teste gegen die Regie­rung. Wie lässt sich dies erklären?

Putin liebt das Öl, Quelle: http://kungurov.livejournal.com/103854.html

„Putin liebt das Öl“, Quelle: kungurov.livejournal.com/103854.html

Dass die Schwelle zum Massen­pro­test in Russ­land derzeit relativ hoch liegt, hat nicht nur damit zu tun, dass die Menschen mit harschen Mass­nahmen der Sicher­heits­kräfte rechnen müssen. Massen­pro­teste sind auch deshalb wenig wahr­schein­lich, weil viele dem Staat eine zentrale Rolle im gesell­schaft­li­chen Leben zuschreiben. Dafür haben die Menschen Putin und der ihm nahe­ste­henden Partei „Einiges Russ­land“ wieder­holt die Stimme gegeben. Und deshalb – und nicht nur wegen staat­li­cher Repres­sion und Wahl­ma­ni­pu­la­tion – haben Oppo­si­ti­ons­par­teien in Russ­land kaum eine Chance. Die Misere der 1990er Jahre, die für zahl­reiche Menschen sozialen Abstieg und Verar­mung zur Folge hatte, ist noch sehr präsent. Dorthin will die Bevöl­ke­rung nicht zurück, auch wenn dies Abstriche an der eigenen Frei­heit bedeutet. Trotz Krise sehen viele zu Putin schlicht keine Alternative.

Dabei pflegt die russi­sche Staats­pro­pa­ganda den Mythos vom „Retter Putin“ ebenso wie die Vorstel­lung vom „gede­mü­tigten“ Russ­land, das sich dank der starken Führung Putins wieder erhoben habe und seine „legi­timen“ natio­nalen Inter­essen in der Welt wieder entschlossen wahr­nehme. Und offenbar erzielen diese Narra­tive bei der Bevöl­ke­rung nicht nur aufgrund der mani­pu­la­tiven Kraft der Propa­ganda ihre Wirkung, sondern weil diese Sicht­weisen bei vielen Menschen einen Nerv treffen und sie diese aus Über­zeu­gung teilen.

Somit scheint es, wie es eine russi­sche Redensart ausdrückt, dass bislang der „Fern­seher über den Kühl­schrank“ gewonnen habe. Mit anderen Worten: Die staat­liche Propa­ganda, die über das Fern­sehen vermit­telt wird, wirkt noch immer stärker als die Furcht vor der Krise oder der Ärger über den sinkenden mate­ri­ellen Lebensstandard.

Verhär­tung nach innen und aggres­sive Töne nach aussen

Wenn die wirt­schaft­liche Talfahrt anhält, dann ist aller­dings nicht auszu­schliessen, dass die Miss­stim­mung in der Bevöl­ke­rung wächst und es zu einer Zunahme von Protest­ak­tionen kommt, wie etwa derje­nige der Last­wa­gen­fahrer, die im Dezember 2015 gegen eine neue Maut­pflicht protes­tierten. Und dass sich auch in Russ­land die Massen durchaus mobi­li­sieren lassen, haben die grossen Anti-Regierungsdemonstrationen in Moskau und anderen russi­schen Städten 2011 und 2012 gezeigt, als die Menschen wegen mutmass­li­cher Wahl­fäl­schung auf die Strasse gingen.

Doch auch wenn bislang der Fern­seher über den Kühl­schrank siegte: Russ­lands Führung wappnet sich für den Fall der Fälle. Denn die Kreml­füh­rung weiss nicht erst seit der Majdan-Revolution, dass Krisen immer das Poten­tial für sozialen Protest bergen und dass dieser Protest mitunter eine Eigen­dy­namik mit unvor­her­seh­baren Konse­quenzen entfalten kann. Deshalb ist die Staats­pro­pa­ganda in letzter Zeit noch martia­li­scher geworden, wenn sie den Bürge­rinnen und Bürgern immer und immer wieder in Erin­ne­rung ruft, ja keinen Umsturz bestehender Verhält­nisse zu wagen, denn dieser führe letzt­lich nur zu Chaos und Bürger­krieg wie die Beispiele Ukraine, Libyen, Irak und Syrien zeigen würden. Gleich­zeitig hat die Regie­rung die ohnehin bereits strengen Demons­tra­ti­ons­ge­setze erneut verschärft: Den Sicher­heits­kräften ist es nun sogar erlaubt, nach eigenem Ermessen in Menschen­mengen zu schiessen, auch wenn sich dort Frauen und Kinder befinden.

Die Verhär­tung nach innen geht Hand in Hand mit einer immer aggres­si­veren Haltung nach aussen: Wenn Medvedev – wie etwa jüngst an der Münchner Sicher­heits­kon­fe­renz – von einem „neuen Kalten Krieg“ und sogar „Welt­krieg“ spricht, dann richten sich diese Worte nicht nur gegen den Westen, sondern auch an das Publikum zuhause. Mit der medialen Dauer­be­richt­erstat­tung über Konflikte, Gewalt und die heroi­schen Taten des russi­schen Mili­tärs trimmt die Staats­füh­rung die Bevöl­ke­rung auf Krieg, schürt aber gleich­zeitig auch eine eigent­liche Kriegs­angst, welche die Funk­tion hat, die Gesell­schaft zu mobi­li­sieren und sich ihre Unter­stüt­zung zu sichern.

Putin und sein System werden das Jahr 2016 sehr wahr­schein­lich über­leben, die bange Frage ist nur, zu welchem Preis.