
Am 27. Juni 2023 wurde in Nanterre, in der Banlieue von Paris, der 17jährige Nahel Merzouk durch einen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen. Der blutige Vorfall löste nicht nur heftige Proteste, sondern auch eine weite Diskussion über Rassismus in der französischen Polizei und ihr koloniales Erbe aus. Während die Regierung jegliche Vorwürfe zurückwies, kritisierte sogar die UN die „exzessive Gewaltanwendung“ und „die anhaltende Praxis des Racial Profiling“ in Frankreich. Was bei den Diskussionen um Polizeigewalt, die erst durch die massiven Proteste nach einem erneuten Mord immer wieder kurz aufflammen, jedoch häufig übersehen wird, ist die gesamtgesellschaftliche Dimension des Rassismus. Das Problem existiert nicht nur in der Polizei und die von Rassismus Betroffenen machen mit ihren Kämpfen seit Jahrzehnten darauf aufmerksam.
So jährte sich am 3. September dieses Jahres zum fünfzigsten Mal der erste „Generalstreik gegen den Rassismus“, den algerische Arbeiter 1973 in Marseille organisierten. Der Streik war ein wichtiges Ereignis für die autonomen migrantischen Kämpfe gegen Rassismus und Polizeigewalt im postkolonialen Frankreich. Der rechte Terror gegen die maghrebinischen Arbeiter, der Auslöser für diesen Streik war, wurde häufig als Fortsetzung des Algerienkrieges interpretiert. Naheliegender ist allerdings, diesen Terror als eine Folge des institutionellen Rassismus und der Antimigrationspolitik zu verstehen, die bis heute in der französischen Gesellschaft vorherrschen, genauso wie die Kämpfe gegen sie.
Der blutige Sommer 1973
Im Sommer 1973 häuften sich im Süden Frankreichs, wo viele Arbeitsmigrant:innen, aber auch Pieds Noir – ehemalige Algeriensiedler:innen – lebten, die Übergriffe rechtsradikaler Gruppen auf maghrebinische, insbesondere algerische Arbeiter:innen. Die verbreitete rassistische Stimmung wurde immer wieder durch regelrechte Hetzjagden angefacht. Als im Juni 1973 eine Gruppe von Sans Papiers in der Kleinstadt Grasse gegen die Circulaires Marcellin-Fontanet protestierte, die eine radikale Einschränkung ihrer Freiheiten bedeuteten und die Arbeitsmigration nach Frankreich begrenzten, wurden sie von rechten Gruppen – und toleriert vom Bürgermeister – durch die Stadt gejagt. Einige Wochen später löste der Tod eines Busfahrers in Marseille, der von einem psychisch kranken algerischen Arbeiter erstochen wurde, eine weitere Hetzjagd aus. Am 26. August 1973 titelte die rechte Zeitung Le Méridional: „Wir haben genug! Genug von algerischen Dieben. Genug von algerischen Randalierern. Genug von algerischen Vergewaltigern. Genug von der wilden Immigration.“ In der darauffolgenden Woche wurde in fast jeder Nacht ein toter Nordafrikaner in Marseille aufgefunden und die Arbeitsorte der Migrant:innen, überwiegend Werften, nachts mit Molotowcocktails beworfen. Innerhalb weniger Wochen gab es in diesem „blutigen Sommer“ allein in Marseille siebzehn Morde, fünfzig in ganz Frankreich. Justiz und Polizei schauten weg, teilweise konnte sogar ihre Beteiligung nachgewiesen werden.

Die Familie des in der Nacht vom 28. auf den 29. August 1973 in Marseille getöteten Lounès Ladj; Quelle: middleeasteye.net
Der Mouvement des Travailleurs Arabes, MTA, der sich ein Jahr zuvor gegründet hatte, um gegen die von Rassismus geprägten prekären Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen der Migrant:innen zu mobilisieren, nahm den Mord an dem 16-jährigen Ladj Younes in der Nacht vom 28. August 1973 zum Anlass, zu einem „Generalstreik gegen den Rassismus“ aufzurufen. Am 3. September 1973 folgten 30.000 maghrebinische Arbeiter in der Region dem Aufruf und traten ihre Arbeit nicht an, obwohl der Streik weder von den Gewerkschaften noch von der Amicale des Algériens unterstützt wurde. „Wir wollten ganz Frankreich zeigen, dass wir diese rassistischen Verbrechen nicht länger hinnehmen“, erinnerte sich im Oktober 2021 Smain, ehemaliges Mitglied des MTA. „Es war Zeit für einen Gegenschlag. Wir wollten zeigen, dass auch wir ökonomisch existieren, dass auch wir Teil von Frankreich sind.“ Wenn sie auf Unverständnis stießen, sagten sie, so Smain weiter: „Nein, die sind nicht verrückt geworden, die kämpfen darum, dass sie nicht noch weitere umbringen.“ Schnell weiteten die Streikaktionen sich auf andere Städte in ganz Frankreich aus.
Es ging den Migrant:innen um eine langfristige Verbesserung ihrer Lebensbedingungen – ihrer Wohn-, Arbeits-, Aufenthalts- und Ausbildungsbedingungen. Ihre Kämpfe entlarvten die Vorstellung, die Migrant:innen würden sich kurzzeitig als Arbeitskräfte ausnutzen lassen und dann zurück in ihr Herkunftsland gehen, als Mythos. Anfang der 1970er begann die Wirtschaft jedoch zu stagnieren und die westeuropäischen Staaten, allen voran Deutschland, Großbritannien und Frankreich, setzten den sogenannten „Gastarbeiterabkommen“ und damit dem Anwerben von Arbeitskräften aus südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern ein Ende. Die Migrationspolitiken wurden restriktiver, das rassistische Klima wuchs.
Struktureller Rassismus
Die Ereignisse 1973 in Marseille waren keine Ausnahme. Die Soziologin Rachida Brahim hat für den Zeitraum 1970 bis 1997 731 rassistische Verbrechen in Frankreich recherchiert und dokumentiert. Die Zahlen basieren auf ihren Recherchen in Archiven von Vereinen, Zeitungen, dem Innenministerium und auf Gesprächen mit Zeitzeug:innen. Offizielle Statistiken gibt es nicht, die Dunkelziffer ist hoch. Brahim zeigt auch, wie sich die Diskurse rund um die rassistischen Verbrechen über die Zeit veränderten. Die Gewaltakte gegenüber der ersten Generation der Migrant:innen richteten sich gegen die Figur des „arabischen Arbeiters“. Sie waren geprägt vom Ende der Kolonialzeit, den Terrorakten durch die OAS (Organisation de l’armée secrète), die die Unabhängigkeit Algeriens bekämpfte, einem geschichtsrevisionistischen Klima in der Rechten sowie dem staatlichen Arbeitsmigrationsregime.
In den 1980er Jahren bildete sich zunehmend die Figur des „Jugendlichen aus den Banlieues“ heraus, die zur Zielscheibe der Gewalt wurde. Diese zweite Generation wuchs in den grandes ensembles auf, den sozialen Wohnkomplexen, die in den 1970er Jahren in kurzer Zeit in den Vorstädten hochgezogen wurden und die – bis heute – von einer hohen Arbeitslosigkeit geprägt waren. Ab Ende der 1980er Jahre geriet zunehmend auch der Islam „ins Visier“, stellt Brahim fest. Die Repräsentation muslimisch-religiöser Identitäten am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit wurde als mangelnde Integration, als Ablehnung der Laizität oder gar als terroristische Gefahr kritisiert und kriminalisiert. Die „Kopftuchaffäre“ von 1989, als zwei Schülerinnen sich weigerten, ihr Kopftuch in der Schule abzulegen, kann als Ausdruck dieser Tendenz verstanden werden.
Was über den untersuchten Zeitraum jedoch gleich blieb, sind die Formen der Gewalt, die Brahim in drei Kategorien teilt: Erstens die ideologische oder politische Gewalt, die rassistische Verbrechen charakterisiert, die von Anhänger:innen der radikalen Rechten ausgeübt wurden: Anschläge, Übergriffe oder Strafaktionen; zweitens in Alltagsszenen eingebettete situationsbedingte Gewaltakte, bei denen die Täter etwa vorgeben, ein Eigentum schützen zu wollen, das sie durch die Präsenz eines Nordafrikaners als bedroht ansahen; und drittens schließlich die disziplinarische oder Polizeigewalt, die rassistische Verbrechen kennzeichnet, die von Ordnungskräften ausgeübt wurden. Brahim nutzt bewusst den Begriff der Disziplinierung, um offenzulegen, was diesen Gewaltakten zugrunde liegt: die unrechtmäßige Anwendung von Gewalt, um die als deviant, als abweichend kategorisierten Körper zu disziplinieren.
Über all die Generationen wiederholt sich Brahim zufolge dabei ein gleiches Schema: „Die ‚Rasse‘ / race tötet zwei Mal“, wie es auch im Titel ihres Buchs heißt. Ein erstes Mal durch die Gewalt, die aufgrund der rassistischen Kategorisierung ausgeübt wird, und ein zweites Mal, wenn im Zuge der gesellschaftlichen und institutionellen, insbesondere juridischen Behandlung des Gewaltakts, der Rassismus und seine Folgen aufgrund universeller Kriterien unsichtbar gemacht werden. Brahim sieht in dem hier aufscheinenden Widerspruch zwischen Partikularismus und Universalismus den Grundpfeiler eines strukturellen Rassismus. Genauer gesagt spricht sie von einer paradoxen, zeitgleichen Rassifizierung und Derassifizierung: Die Rassifizierung von Individuen passiert, so Brahim, auf institutioneller Ebene über Politiken und Gesetze, die in der Migrations-, Wohnungs- oder Stadtpolitik soziale Gruppen gesondert behandelt. Sie werden dadurch von den als Norm geltenden sozialen Gruppen abgegrenzt; überdies werden ihnen negative Attribute zugeschrieben, die sich dann auf der zwischenmenschlichen Ebene in Form rassistischer Diskriminierungen und Gewalt wiederfinden. Die Derassifizierung hingegen beginnt, wenn rassistische Verbrechen von den öffentlichen Institutionen bearbeitet werden. Hier kommt es, so Brahim, zur Anwendung eines universellen Rechts, das die vorherige, partikulare Behandlung der Individuen verdunkelt. Das Recht wird auf diese Weise zu einem Instrument der Spaltung und sozialen Normalisierung. „Hier schließt sich der Kreis zum Begriff des systemischen und strukturellen Rassismus: Es sind das System, die Organisation und die Regeln einer Gesellschaft selbst, die zur Entstehung von Ungleichheiten und der damit verbundenen Gewalt beitragen“, fasst Brahim die Problematik zusammen.
Die antirassistischen Kämpfe vervielfältigen sich
Gegen diesen strukturellen Rassismus wandten sich seit den 1970er Jahren die Kämpfe der Betroffenen. So hatte der Streik von 1973 eine nachhaltige Wirkung auf die Gründung zahlreicher Initiativen und weiterer Streikaktionen. Zwischen 1975 und 1980 war der MTA an der Organisation des größten Mietstreiks in Frankreich beteiligt. Über 20.000 Bewohner:innen in den Unterkünften der staatlichen Société nationale de construction de logements pour les travailleurs (Sonacotra) bestreikten ihre Mieten. Die Sonacotra brachte Arbeitsmigrant:innen vornehmlich am Stadtrand unter, oft in Industriegebieten und mit schlechter Anbindung an die urbanen Zentren. Auslöser für die Mietstreiks waren Mieterhöhungen; die Forderungen waren jedoch umfangreicher und richteten sich gegen die knastähnliche Unterbringung, die militärischen Regeln und die rassistischen Kontrollen in den Unterkünften. Geleitet wurden diese häufig von ehemaligen Militärs, die in der Kolonialzeit in Algerien gekämpft hatten. „In den Unterkünften herrschten militärische Vorschriften. Wenn wir zur Arbeit gingen, gingen die Heimleiter in unsere Zimmer und durchsuchten sie. Sie schrieben alles auf, was sie fanden, alles, was wir taten, und meldeten es der Polizei“, erinnert sich Mohamed, ehemaliges Mitglied des MTA und aktiv in den Komitees, die sich in zahlreichen Wohnanlagen gebildet hatten, um den Streik und Protestaktionen gegen Räumungen zu koordinieren.
In den 1980er Jahren – nun waren es die Kinder der ersten Generation der Einwander:innen – gingen die Morde und Schikanen durch die Polizei und Kontrollinstanzen in den quartiers weiter. Es gab keine Ausbildungsplätze, keine Jobs, keine Zukunft. „Wir spielten zwischen den Hochhäusern mit dem Ball und wenn wir die Polizei sahen, rannten wir los. Manchmal aus Spaß, oft weil wir Angst hatten. Wenn sie uns erwischten, ich kann dir sagen… überhäuft von blauen Flecken kamen wir nach Hause. (…) Wir haben unsere Jugend damit zugebracht, vor der Polizei zu flüchten“, berichtet Hamana Khira über seine Jugend in dem Vorort Vénissieux von Lyon, in dem 1981 die ersten größeren Aufstände gegen die Polizei stattfanden, die seitdem regelmäßig ausbrachen, wenn es wieder einen Vorfall rassistischer Polizeigewalt gab.
Neben den spontanen Rebellionen gegen die Polizei entwickelten die Jugendlichen vielfältige Weisen, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Nachdem im Februar 1980 der junge Algerier Abdelkader Lareiche in der Pariser Vorstadt Vitry erschossen wurde, organisierten seine Freund:innen die Konzertreihe „Rock against Police“. „Wir hatten nicht die Mittel, das Wort zu erteilen, also gaben wir uns die Mittel, das Wort zu ergreifen“, bringt Samir es auf den Punkt. Auch Frauengruppen entstanden in dieser Zeit, die sich gegen den viktimisierenden Diskurs weißer Feministinnen und staatlicher Institutionen wehrten, die die Emanzipation der algerischen Frau in der Befreiung vom Kopftuch sahen. Andererseits verweigerten sie sich auch der patriarchalen Tradition der Herkunftskultur. „Wir haben diese Diskurse abgelehnt. Wir wollten uns selbst befreien“, erzählen ehemalige Mitglieder.
Schließlich organisierte SOS Avenir Minguettes aus Vénessieux, die bereits mit Hungerstreiks gegen die Polizeigewalt protestiert hatten, 1983 einen Protestmarsch durch Frankreich, nachdem Toumi Djaïdja von einem Polizisten in den Bauch geschossen wurde, aber überlebte. „La marche pour l’égalité et contre le racisme“ startete am 15. Oktober unter wenig Aufmerksamkeit in Marseille und endete am 3. Dezember in Paris in einer Demonstration mit 100.000 Unterstützer:innen. Trotz des Erfolgs und dem erreichten Ziel, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für zehn Jahre mit dem Präsidenten Mitterrand auszuhandeln, fanden die Bewohner:innen sich schnell in den gleichen Bedingungen in den quartiers wieder. „All unsere Hoffnungen hatten sich in Luft aufgelöst“, erinnert sich Hamana Khira dreißig Jahre später. „Das kollektive Gefühl der Stärke gegenüber der Polizei war zerbrochen. Sie haben alles dafür getan, dass die Leute sich auf ihre individuellen Wege und Probleme zurückziehen, isoliert sind und damit weniger stark.“
Der Mord an Nahel ist Teil der Geschichte
Der kursorische Blick in die Geschichte migrantischer und antirassistischer Kämpfe zeigt einmal mehr: Rassistische Gewaltverhältnisse sind ein strukturelles Problem, das nicht nur in der Polizei vorzufinden ist, sondern die gesamte Gesellschaft und ihre Körper durchzieht. Ruth Wilson Gilmore definiert Rassismus als „state-sanctioned and/or extra-legal production and exploitation of group-differentiated vulnerabilities to premature death“. Körper werden in dieser Welt hierarchisiert, sind verbalen und physischen Verletzungen, ja dem Tod unterschiedlich ausgesetzt. Der Mord an Nahel Merzouk sowie die tagelangen, wütenden Proteste in ganz Frankreich waren für viele keine Überraschung. „Sein Tod ist weder ein Unfall noch ein Einzelfall im chaotischen Strom der Gegenwart. Er schreibt sich ein in die historische Kontinuität rassistischer Verbrechen gegen Schwarze und Araber in diesem Land“, schreibt der Soziologe Hicham Benaissa.
Wenn also Putzkräfte in Frankreich monatelang in den Streik gehen und ein „Ende der Sklaverei“ fordern, wenn Sans Papiers in den Abschiebegefängnissen gegen verschimmeltes Essen und die folterähnliche Behandlung revoltieren und dabei manchmal sterben, wenn Bewohner:innen der quartiers populaires gegen zusammenbrechende Wohnhäuser, verseuchtes Wasser und gegen ihre Verdrängung protestieren, wenn Eltern intakte Schulgebäude fordern, in die es nicht reinregnet, wenn Jugendliche gegen die Polizei und die disziplinierenden Institutionen revoltieren, dann richten sich diese Proteste gegen einen racial capitalism, der ausbeutet, abschiebt und „vorzeitige Tode“ produziert, „obwohl dies nicht so sein müsste, obwohl man dagegen etwas tun könnte“, wie der Philosoph Daniel Loick es ausdrückt.
Ein offizielles Gedenken zum 50. Jahrestag an die rassistischen Morde vom Sommer 1973 und an den Grève générale contre le racisme gibt es weder von staatlicher noch von gewerkschaftlicher Seite. Stattdessen kündigte die Regierung zum Schulbeginn das Verbot der Abaya im Unterricht an, das gegen die islamische Bevölkerung zielt, und treibt den Ausbau von Abschiebegefängnissen sowie beschleunigte Abschiebungen mit einem neuen Einwanderungsgesetz voran. Hicham Benaissa ist sich sicher, dass das Feuer nach den Revolten im Juni nicht erloschen ist, dass es zurückkommen wird.
„Wir weigern uns zu gehorchen“
Antirassistische Initiativen kämpfen derweil weiter für ein Ende der Gewalt und das Töten durch die Polizei. Auf einer Demonstration gegen Polizeigewalt am 23. September 2023 in Marseille bringt Issam El Khalfaoui auf den Punkt, was Rachida Brahim soziologisch untersucht hat: „Das Problem ist, dass es heute in Frankreich kein Gesetz, keine Maßnahme gibt, um den institutionellen Rassismus zu bekämpfen, da er von den Vertretern des französischen Staates geleugnet wird.“ Seit sein Sohn Souheil am 4. August 2021 in Marseille von einem Polizisten erschossen wurde, kämpft er zusammen mit anderen Betroffenen „gegen jede staatliche Gewalt: polizeiliche, soziale und rassistische Gewalt“ trotz des „immensen Schmerzes“, der ihn „jeden Morgen beim Aufwachen niederdrückt“. Sie haben die Kampagne „435-1 hat mich getötet!“ gegründet, um die Streichung des Artikels L. 435-1 des Gesetzes zur inneren Sicherheit zu fordern. Dieser Artikel, der von seinen Kritiker:innen auch als „Erlaubnis zu töten“ bezeichnet wird, erleichtert den Einsatz von Schusswaffen und bietet den Sicherheitskräften einen größeren juristischen Schutz durch das Argument der „Notwehr“. Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2017 haben sich die abgegebenen Schüsse durch Polizist:innen, insbesondere auf flüchtende Fahrzeuge, um 50 % erhöht.
Seit Anfang 2022 wurden 15 Personen (mehrheitlich männlich und rassifiziert) auf diese Weise durch Polizeischüsse in ihren Fahrzeugen getötet. Nur in acht Fällen wurde ein Verfahren gegen den jeweiligen Polizisten eröffnet, der den Schuss abgegeben hat. In der Regel, weil ein eindeutiges Video vorlag, wie im Fall von Nahel. In den meisten Fällen wurden die Verfahren jedoch nach einiger Zeit eingestellt und, wie Issam El Khalfaoui es in Worte fasst, nach „unzähligen weiteren psychischen Gewaltakten durch die Staatsanwaltschaft, die Polizei und die IGPN (die nationale Polizeiinspektion; A.S.)“. Er sendet deswegen eine klare Botschaft: „Angesichts von Rassismus, Polizeigewalt und sozialer Ungerechtigkeit weigern wir uns zu gehorchen!“
Der vor 50 Jahren begonnene Generalstreik gegen den Rassismus dauert also noch an, so könnte man El Khalfaoui verstehen. Er ist zu einem täglichen (Überlebens-)Kampf geworden.