Im vergangenen Juni wurde der 17jährige Nahel in einer Pariser Banlieue von einem Polizisten erschossen. Seit den 1970er Jahren rufen Polizeigewalt und der sie ermöglichende struktureller Rassismus immer wieder große Proteste hervor – so schon vor 50 Jahren in Marseille.

  • Anna Steenblock

    Anna Steenblock ist Sozialwissenschaftlerin, politische Bildnerin und Aktivistin. In ihrer Promotion am Institut für Sozialforschung, Frankfurt a. M. und an der Universität Kassel beschäftigt sie sich mit Kämpfen um soziale Reproduktion und forscht zu sozialen Kämpfen in der Reinigungsbranche sowie in einem Stadtteil in Marseille. Im Jahr 2023/2024 ist sie Gastwissenschaftlerin an der EHESS in Marseille.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
„Wir weigern uns zu gehor­chen.“ Der lange Kampf gegen rassis­ti­sche Gewalt in Frankreich
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Am 27. Juni 2023 wurde in Nanterre, in der Banlieue von Paris, der 17jährige Nahel Merzouk durch einen Poli­zisten bei einer Verkehrs­kon­trolle erschossen. Der blutige Vorfall löste nicht nur heftige Proteste, sondern auch eine weite Diskus­sion über Rassismus in der fran­zö­si­schen Polizei und ihr kolo­niales Erbe aus. Während die Regie­rung jegliche Vorwürfe zurück­wies, kriti­sierte sogar die UN die „exzes­sive Gewalt­an­wen­dung“ und „die anhal­tende Praxis des Racial Profiling“ in Frank­reich. Was bei den Diskus­sionen um Poli­zei­ge­walt, die erst durch die massiven Proteste nach einem erneuten Mord immer wieder kurz aufflammen, jedoch häufig über­sehen wird, ist die gesamt­ge­sell­schaft­liche Dimen­sion des Rassismus. Das Problem exis­tiert nicht nur in der Polizei und die von Rassismus Betrof­fenen machen mit ihren Kämpfen seit Jahr­zehnten darauf aufmerksam.

So jährte sich am 3. September dieses Jahres zum fünf­zigsten Mal der erste „Gene­ral­streik gegen den Rassismus“, den alge­ri­sche Arbeiter 1973 in Marseille orga­ni­sierten. Der Streik war ein wich­tiges Ereignis für die auto­nomen migran­ti­schen Kämpfe gegen Rassismus und Poli­zei­ge­walt im post­ko­lo­nialen Frank­reich. Der rechte Terror gegen die maghre­bi­ni­schen Arbeiter, der Auslöser für diesen Streik war, wurde häufig als Fort­set­zung des Alge­ri­en­krieges inter­pre­tiert. Nahe­lie­gender ist aller­dings, diesen Terror als eine Folge des insti­tu­tio­nellen Rassismus und der Anti­mi­gra­ti­ons­po­litik zu verstehen, die bis heute in der fran­zö­si­schen Gesell­schaft vorherr­schen, genauso wie die Kämpfe gegen sie.

Der blutige Sommer 1973

Im Sommer 1973 häuften sich im Süden Frank­reichs, wo viele Arbeitsmigrant:innen, aber auch Pieds Noir – ehema­lige Algeriensiedler:innen – lebten, die Über­griffe rechts­ra­di­kaler Gruppen auf maghre­bi­ni­sche, insbe­son­dere alge­ri­sche Arbeiter:innen. Die verbrei­tete rassis­ti­sche Stim­mung wurde immer wieder durch regel­rechte Hetz­jagden ange­facht. Als im Juni 1973 eine Gruppe von Sans Papiers in der Klein­stadt Grasse gegen die Circu­laires Marcellin-Fontanet protes­tierte, die eine radi­kale Einschrän­kung ihrer Frei­heiten bedeu­teten und die Arbeits­mi­gra­tion nach Frank­reich begrenzten, wurden sie von rechten Gruppen – und tole­riert vom Bürger­meister – durch die Stadt gejagt. Einige Wochen später löste der Tod eines Busfah­rers in Marseille, der von einem psychisch kranken alge­ri­schen Arbeiter ersto­chen wurde, eine weitere Hetz­jagd aus. Am 26. August 1973 titelte die rechte Zeitung Le Méri­dional: „Wir haben genug! Genug von alge­ri­schen Dieben. Genug von alge­ri­schen Randa­lie­rern. Genug von alge­ri­schen Verge­wal­ti­gern. Genug von der wilden Immi­gra­tion.“ In der darauf­fol­genden Woche wurde in fast jeder Nacht ein toter Nord­afri­kaner in Marseille aufge­funden und die Arbeits­orte der Migrant:innen, über­wie­gend Werften, nachts mit Molo­tow­cock­tails beworfen. Inner­halb weniger Wochen gab es in diesem „blutigen Sommer“ allein in Marseille sieb­zehn Morde, fünfzig in ganz Frank­reich. Justiz und Polizei schauten weg, teil­weise konnte sogar ihre Betei­li­gung nach­ge­wiesen werden.

Die Familie des in der Nacht vom 28. auf den 29. August 1973 in Marseille getö­teten Lounès Ladj; Quelle: middleeasteye.net

Der Mouve­ment des Travail­leurs Arabes, MTA, der sich ein Jahr zuvor gegründet hatte, um gegen die von Rassismus geprägten prekären Arbeits- und Aufent­halts­be­din­gungen der Migrant:innen zu mobi­li­sieren, nahm den Mord an dem 16-jährigen Ladj Younes in der Nacht vom 28. August 1973 zum Anlass, zu einem „Gene­ral­streik gegen den Rassismus“ aufzu­rufen. Am 3. September 1973 folgten 30.000 maghre­bi­ni­sche Arbeiter in der Region dem Aufruf und traten ihre Arbeit nicht an, obwohl der Streik weder von den Gewerk­schaften noch von der Amicale des Algé­riens unter­stützt wurde. „Wir wollten ganz Frank­reich zeigen, dass wir diese rassis­ti­schen Verbre­chen nicht länger hinnehmen“, erin­nerte sich im Oktober 2021 Smain, ehema­liges Mitglied des MTA. „Es war Zeit für einen Gegen­schlag. Wir wollten zeigen, dass auch wir ökono­misch exis­tieren, dass auch wir Teil von Frank­reich sind.“ Wenn sie auf Unver­ständnis stießen, sagten sie, so Smain weiter: „Nein, die sind nicht verrückt geworden, die kämpfen darum, dass sie nicht noch weitere umbringen.“ Schnell weiteten die Streik­ak­tionen sich auf andere Städte in ganz Frank­reich aus.

Es ging den Migrant:innen um eine lang­fris­tige Verbes­se­rung ihrer Lebens­be­din­gungen – ihrer Wohn-, Arbeits-, Aufenthalts- und Ausbil­dungs­be­din­gungen. Ihre Kämpfe entlarvten die Vorstel­lung, die Migrant:innen würden sich kurz­zeitig als Arbeits­kräfte ausnutzen lassen und dann zurück in ihr Herkunfts­land gehen, als Mythos. Anfang der 1970er begann die Wirt­schaft jedoch zu stagnieren und die west­eu­ro­päi­schen Staaten, allen voran Deutsch­land, Groß­bri­tan­nien und Frank­reich, setzten den soge­nannten „Gast­ar­bei­ter­ab­kommen“ und damit dem Anwerben von Arbeits­kräften aus südeu­ro­päi­schen und nord­afri­ka­ni­schen Ländern ein Ende. Die Migra­ti­ons­po­li­tiken wurden restrik­tiver, das rassis­ti­sche Klima wuchs.

Struk­tu­reller Rassismus

Die Ereig­nisse 1973 in Marseille waren keine Ausnahme. Die Sozio­login Rachida Brahim hat für den Zeit­raum 1970 bis 1997 731 rassis­ti­sche Verbre­chen in Frank­reich recher­chiert und doku­men­tiert. Die Zahlen basieren auf ihren Recher­chen in Archiven von Vereinen, Zeitungen, dem Innen­mi­nis­te­rium und auf Gesprä­chen mit Zeitzeug:innen. Offi­zi­elle Statis­tiken gibt es nicht, die Dunkel­ziffer ist hoch. Brahim zeigt auch, wie sich die Diskurse rund um die rassis­ti­schen Verbre­chen über die Zeit verän­derten. Die Gewalt­akte gegen­über der ersten Gene­ra­tion der Migrant:innen rich­teten sich gegen die Figur des „arabi­schen Arbei­ters“. Sie waren geprägt vom Ende der Kolo­ni­al­zeit, den Terror­akten durch die OAS (Orga­ni­sa­tion de l’armée secrète), die die Unab­hän­gig­keit Alge­riens bekämpfte, einem geschichts­re­vi­sio­nis­ti­schen Klima in der Rechten sowie dem staat­li­chen Arbeitsmigrationsregime.

In den 1980er Jahren bildete sich zuneh­mend die Figur des „Jugend­li­chen aus den Banlieues“ heraus, die zur Ziel­scheibe der Gewalt wurde. Diese zweite Gene­ra­tion wuchs in den grandes ensem­bles auf, den sozialen Wohn­kom­plexen, die in den 1970er Jahren in kurzer Zeit in den Vorstädten hoch­ge­zogen wurden und die – bis heute – von einer hohen Arbeits­lo­sig­keit geprägt waren. Ab Ende der 1980er Jahre geriet zuneh­mend auch der Islam „ins Visier“, stellt Brahim fest. Die Reprä­sen­ta­tion muslimisch-religiöser Iden­ti­täten am Arbeits­platz oder in der Öffent­lich­keit wurde als mangelnde Inte­gra­tion, als Ableh­nung der Laizität oder gar als terro­ris­ti­sche Gefahr kriti­siert und krimi­na­li­siert. Die „Kopf­tuch­af­färe“ von 1989, als zwei Schü­le­rinnen sich weigerten, ihr Kopf­tuch in der Schule abzu­legen, kann als Ausdruck dieser Tendenz verstanden werden.

Was über den unter­suchten Zeit­raum jedoch gleich blieb, sind die Formen der Gewalt, die Brahim in drei Kate­go­rien teilt: Erstens die ideo­lo­gi­sche oder poli­ti­sche Gewalt, die rassis­ti­sche Verbre­chen charak­te­ri­siert, die von Anhänger:innen der radi­kalen Rechten ausgeübt wurden: Anschläge, Über­griffe oder Straf­ak­tionen; zwei­tens in Alltags­szenen einge­bet­tete situa­ti­ons­be­dingte Gewalt­akte, bei denen die Täter etwa vorgeben, ein Eigentum schützen zu wollen, das sie durch die Präsenz eines Nord­afri­ka­ners als bedroht ansahen; und drit­tens schließ­lich die diszi­pli­na­ri­sche oder Poli­zei­ge­walt, die rassis­ti­sche Verbre­chen kenn­zeichnet, die von Ordnungs­kräften ausgeübt wurden. Brahim nutzt bewusst den Begriff der Diszi­pli­nie­rung, um offen­zu­legen, was diesen Gewalt­akten zugrunde liegt: die unrecht­mä­ßige Anwen­dung von Gewalt, um die als deviant, als abwei­chend kate­go­ri­sierten Körper zu disziplinieren.

Über all die Gene­ra­tionen wieder­holt sich Brahim zufolge dabei ein glei­ches Schema: „Die ‚Rasse‘ / race tötet zwei Mal“, wie es auch im Titel ihres Buchs heißt. Ein erstes Mal durch die Gewalt, die aufgrund der rassis­ti­schen Kate­go­ri­sie­rung ausgeübt wird, und ein zweites Mal, wenn im Zuge der gesell­schaft­li­chen und insti­tu­tio­nellen, insbe­son­dere juri­di­schen Behand­lung des Gewalt­akts, der Rassismus und seine Folgen aufgrund univer­seller Krite­rien unsichtbar gemacht werden. Brahim sieht in dem hier aufschei­nenden Wider­spruch zwischen Parti­ku­la­rismus und Univer­sa­lismus den Grund­pfeiler eines struk­tu­rellen Rassismus. Genauer gesagt spricht sie von einer para­doxen, zeit­glei­chen Rassi­fi­zie­rung und Deras­si­fi­zie­rung: Die Rassi­fi­zie­rung von Indi­vi­duen passiert, so Brahim, auf insti­tu­tio­neller Ebene über Poli­tiken und Gesetze, die in der Migrations-, Wohnungs- oder Stadt­po­litik soziale Gruppen geson­dert behan­delt. Sie werden dadurch von den als Norm geltenden sozialen Gruppen abge­grenzt; über­dies werden ihnen nega­tive Attri­bute zuge­schrieben, die sich dann auf der zwischen­mensch­li­chen Ebene in Form rassis­ti­scher Diskri­mi­nie­rungen und Gewalt wieder­finden. Die Deras­si­fi­zie­rung hingegen beginnt, wenn rassis­ti­sche Verbre­chen von den öffent­li­chen Insti­tu­tionen bear­beitet werden. Hier kommt es, so Brahim, zur Anwen­dung eines univer­sellen Rechts, das die vorhe­rige, parti­ku­lare Behand­lung der Indi­vi­duen verdun­kelt. Das Recht wird auf diese Weise zu einem Instru­ment der Spal­tung und sozialen Norma­li­sie­rung. „Hier schließt sich der Kreis zum Begriff des syste­mi­schen und struk­tu­rellen Rassismus: Es sind das System, die Orga­ni­sa­tion und die Regeln einer Gesell­schaft selbst, die zur Entste­hung von Ungleich­heiten und der damit verbun­denen Gewalt beitragen“, fasst Brahim die Proble­matik zusammen.

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Die anti­ras­sis­ti­schen Kämpfe verviel­fäl­tigen sich

Gegen diesen struk­tu­rellen Rassismus wandten sich seit den 1970er Jahren die Kämpfe der Betrof­fenen. So hatte der Streik von 1973 eine nach­hal­tige Wirkung auf die Grün­dung zahl­rei­cher Initia­tiven und weiterer Streik­ak­tionen. Zwischen 1975 und 1980 war der MTA an der Orga­ni­sa­tion des größten Miet­streiks in Frank­reich betei­ligt. Über 20.000 Bewohner:innen in den Unter­künften der staat­li­chen Société natio­nale de cons­truc­tion de loge­ments pour les travail­leurs (Sona­cotra) bestreikten ihre Mieten. Die Sona­cotra brachte Arbeitsmigrant:innen vornehm­lich am Stadt­rand unter, oft in Indus­trie­ge­bieten und mit schlechter Anbin­dung an die urbanen Zentren. Auslöser für die Miet­streiks waren Miet­erhö­hungen; die Forde­rungen waren jedoch umfang­rei­cher und rich­teten sich gegen die knast­ähn­liche Unter­brin­gung, die mili­tä­ri­schen Regeln und die rassis­ti­schen Kontrollen in den Unter­künften. Geleitet wurden diese häufig von ehema­ligen Mili­tärs, die in der Kolo­ni­al­zeit in Alge­rien gekämpft hatten. „In den Unter­künften herrschten mili­tä­ri­sche Vorschriften. Wenn wir zur Arbeit gingen, gingen die Heim­leiter in unsere Zimmer und durch­suchten sie. Sie schrieben alles auf, was sie fanden, alles, was wir taten, und meldeten es der Polizei“, erin­nert sich Mohamed, ehema­liges Mitglied des MTA und aktiv in den Komi­tees, die sich in zahl­rei­chen Wohn­an­lagen gebildet hatten, um den Streik und Protest­ak­tionen gegen Räumungen zu koordinieren.

In den 1980er Jahren – nun waren es die Kinder der ersten Gene­ra­tion der Einwander:innen – gingen die Morde und Schi­kanen durch die Polizei und Kontroll­in­stanzen in den quar­tiers weiter. Es gab keine Ausbil­dungs­plätze, keine Jobs, keine Zukunft. „Wir spielten zwischen den Hoch­häu­sern mit dem Ball und wenn wir die Polizei sahen, rannten wir los. Manchmal aus Spaß, oft weil wir Angst hatten. Wenn sie uns erwischten, ich kann dir sagen… über­häuft von blauen Flecken kamen wir nach Hause. (…) Wir haben unsere Jugend damit zuge­bracht, vor der Polizei zu flüchten“, berichtet Hamana Khira über seine Jugend in dem Vorort Vénis­sieux von Lyon, in dem 1981 die ersten größeren Aufstände gegen die Polizei statt­fanden, die seitdem regel­mäßig ausbra­chen, wenn es wieder einen Vorfall rassis­ti­scher Poli­zei­ge­walt gab.

Neben den spon­tanen Rebel­lionen gegen die Polizei entwi­ckelten die Jugend­li­chen viel­fäl­tige Weisen, den öffent­li­chen Raum zurück­zu­er­obern. Nachdem im Februar 1980 der junge Alge­rier Abdel­kader Lareiche in der Pariser Vorstadt Vitry erschossen wurde, orga­ni­sierten seine Freund:innen die Konzert­reihe „Rock against Police“. „Wir hatten nicht die Mittel, das Wort zu erteilen, also gaben wir uns die Mittel, das Wort zu ergreifen“, bringt Samir es auf den Punkt. Auch Frau­en­gruppen entstanden in dieser Zeit, die sich gegen den vikti­mi­sie­renden Diskurs weißer Femi­nis­tinnen und staat­li­cher Insti­tu­tionen wehrten, die die Eman­zi­pa­tion der alge­ri­schen Frau in der Befreiung vom Kopf­tuch sahen. Ande­rer­seits verwei­gerten sie sich auch der patri­ar­chalen Tradi­tion der Herkunfts­kultur. „Wir haben diese Diskurse abge­lehnt. Wir wollten uns selbst befreien“, erzählen ehema­lige Mitglieder.

Schließ­lich orga­ni­sierte SOS Avenir Minguettes aus Vénes­sieux, die bereits mit Hunger­streiks gegen die Poli­zei­ge­walt protes­tiert hatten, 1983 einen Protest­marsch durch Frank­reich, nachdem Toumi Djaïdja von einem Poli­zisten in den Bauch geschossen wurde, aber über­lebte. „La marche pour l’égalité et contre le racisme“ star­tete am 15. Oktober unter wenig Aufmerk­sam­keit in Marseille und endete am 3. Dezember in Paris in einer Demons­tra­tion mit 100.000 Unterstützer:innen. Trotz des Erfolgs und dem erreichten Ziel, eine Aufenthalts- und Arbeits­er­laubnis für zehn Jahre mit dem Präsi­denten Mitter­rand auszu­han­deln, fanden die Bewohner:innen sich schnell in den glei­chen Bedin­gungen in den quar­tiers wieder. „All unsere Hoff­nungen hatten sich in Luft aufge­löst“, erin­nert sich Hamana Khira dreißig Jahre später. „Das kollek­tive Gefühl der Stärke gegen­über der Polizei war zerbro­chen. Sie haben alles dafür getan, dass die Leute sich auf ihre indi­vi­du­ellen Wege und Probleme zurück­ziehen, isoliert sind und damit weniger stark.“

Der Mord an Nahel ist Teil der Geschichte

Der kurso­ri­sche Blick in die Geschichte migran­ti­scher und anti­ras­sis­ti­scher Kämpfe zeigt einmal mehr: Rassis­ti­sche Gewalt­ver­hält­nisse sind ein struk­tu­relles Problem, das nicht nur in der Polizei vorzu­finden ist, sondern die gesamte Gesell­schaft und ihre Körper durch­zieht. Ruth Wilson Gilmore defi­niert Rassismus als „state-sanctioned and/or extra-legal produc­tion and explo­ita­tion of group-differentiated vulnerabi­li­ties to prema­ture death“. Körper werden in dieser Welt hier­ar­chi­siert, sind verbalen und physi­schen Verlet­zungen, ja dem Tod unter­schied­lich ausge­setzt. Der Mord an Nahel Merzouk sowie die tage­langen, wütenden Proteste in ganz Frank­reich waren für viele keine Über­ra­schung. „Sein Tod ist weder ein Unfall noch ein Einzel­fall im chao­ti­schen Strom der Gegen­wart. Er schreibt sich ein in die histo­ri­sche Konti­nuität rassis­ti­scher Verbre­chen gegen Schwarze und Araber in diesem Land“, schreibt der Sozio­loge Hicham Benaissa.

Wenn also Putz­kräfte in Frank­reich mona­te­lang in den Streik gehen und ein „Ende der Skla­verei“ fordern, wenn Sans Papiers in den Abschie­be­ge­fäng­nissen gegen verschim­meltes Essen und die folter­ähn­liche Behand­lung revol­tieren und dabei manchmal sterben, wenn Bewohner:innen der quar­tiers popu­laires gegen zusam­men­bre­chende Wohn­häuser, verseuchtes Wasser und gegen ihre Verdrän­gung protes­tieren, wenn Eltern intakte Schul­ge­bäude fordern, in die es nicht rein­regnet, wenn Jugend­liche gegen die Polizei und die diszi­pli­nie­renden Insti­tu­tionen revol­tieren, dann richten sich diese Proteste gegen einen racial capi­ta­lism, der ausbeutet, abschiebt und „vorzei­tige Tode“ produ­ziert, „obwohl dies nicht so sein müsste, obwohl man dagegen etwas tun könnte“, wie der Philo­soph Daniel Loick es ausdrückt.

Ein offi­zi­elles Gedenken zum 50. Jahrestag an die rassis­ti­schen Morde vom Sommer 1973 und an den Grève géné­rale contre le racisme gibt es weder von staat­li­cher noch von gewerk­schaft­li­cher Seite. Statt­dessen kündigte die Regie­rung zum Schul­be­ginn das Verbot der Abaya im Unter­richt an, das gegen die isla­mi­sche Bevöl­ke­rung zielt, und treibt den Ausbau von Abschie­be­ge­fäng­nissen sowie beschleu­nigte Abschie­bungen mit einem neuen Einwan­de­rungs­ge­setz voran. Hicham Benaissa ist sich sicher, dass das Feuer nach den Revolten im Juni nicht erlo­schen ist, dass es zurück­kommen wird.

„Wir weigern uns zu gehorchen“

Anti­ras­sis­ti­sche Initia­tiven kämpfen derweil weiter für ein Ende der Gewalt und das Töten durch die Polizei. Auf einer Demons­tra­tion gegen Poli­zei­ge­walt am 23. September 2023 in Marseille bringt Issam El Khal­faoui auf den Punkt, was Rachida Brahim sozio­lo­gisch unter­sucht hat: „Das Problem ist, dass es heute in Frank­reich kein Gesetz, keine Maßnahme gibt, um den insti­tu­tio­nellen Rassismus zu bekämpfen, da er von den Vertre­tern des fran­zö­si­schen Staates geleugnet wird.“ Seit sein Sohn Souheil am 4. August 2021 in Marseille von einem Poli­zisten erschossen wurde, kämpft er zusammen mit anderen Betrof­fenen „gegen jede staat­liche Gewalt: poli­zei­liche, soziale und rassis­ti­sche Gewalt“ trotz des „immensen Schmerzes“, der ihn „jeden Morgen beim Aufwa­chen nieder­drückt“. Sie haben die Kampagne „435-1 hat mich getötet!“ gegründet, um die Strei­chung des Arti­kels L. 435-1 des Gesetzes zur inneren Sicher­heit zu fordern. Dieser Artikel, der von seinen Kritiker:innen auch als „Erlaubnis zu töten“ bezeichnet wird, erleich­tert den Einsatz von Schuss­waffen und bietet den Sicher­heits­kräften einen größeren juris­ti­schen Schutz durch das Argu­ment der „Notwehr“. Seit seinem Inkraft­treten im Jahr 2017 haben sich die abge­ge­benen Schüsse durch Polizist:innen, insbe­son­dere auf flüch­tende Fahr­zeuge, um 50 % erhöht.

Seit Anfang 2022 wurden 15 Personen (mehr­heit­lich männ­lich und rassi­fi­ziert) auf diese Weise durch Poli­zei­schüsse in ihren Fahr­zeugen getötet. Nur in acht Fällen wurde ein Verfahren gegen den jewei­ligen Poli­zisten eröffnet, der den Schuss abge­geben hat. In der Regel, weil ein eindeu­tiges Video vorlag, wie im Fall von Nahel. In den meisten Fällen wurden die Verfahren jedoch nach einiger Zeit einge­stellt und, wie Issam El Khal­faoui es in Worte fasst, nach „unzäh­ligen weiteren psychi­schen Gewalt­akten durch die Staats­an­walt­schaft, die Polizei und die IGPN (die natio­nale Poli­zei­in­spek­tion; A.S.)“. Er sendet deswegen eine klare Botschaft: „Ange­sichts von Rassismus, Poli­zei­ge­walt und sozialer Unge­rech­tig­keit weigern wir uns zu gehorchen!“

Der vor 50 Jahren begon­nene Gene­ral­streik gegen den Rassismus dauert also noch an, so könnte man El Khal­faoui verstehen. Er ist zu einem tägli­chen (Überlebens-)Kampf geworden.