Die Antworten vieler LehrerInnen auf den Lehrerpranger der AfD sind grandios. Sie sind nicht nur lustig, sondern auch geistreiche Analysen über das Verhältnis von Denunziation und Kritik. Über parodistische Geständnisse und Antibeichten in Diktaturen und in Demokratien.

2014 hatte die Junge SVP in der Schweiz die Idee, Denun­zia­ti­ons­por­tale online zu stellen. Sie wollten, wie jetzt die AfD in einigen deut­schen Bundes­län­dern, Schü­le­rInnen und Eltern dazu auffor­dern, Lehre­rInnen zu denun­zieren. Die Aktion des SVP-Jugendverbandes hieß damals: „Freie Schulen – Stopp der poli­ti­schen Indok­tri­na­tion!“ Gemeldet werden sollten Lehre­rInnen wegen „poli­tisch einsei­tiger Beein­flus­sung an Schweizer Schulen“. Kurz nachdem der Pranger online war, so kann man es heute nur noch in Zeitungs­be­richten nach­lesen, sollen schon über 200 Hinweise einge­gangen sein. Wie voraus­zu­sehen war, erwiesen sich die „Hinweise“ als klas­si­sches Eigentor der Erfinder. Da beschwerte sich ein „Schüler der 2. Klasse“ über einen Hand­ar­beits­un­ter­richt, in dem wegen der linken „Öko-Faschisten“ mit Holz gear­beitet werden müsse und nicht mit Metall gear­beitet werde dürfe. Ein anderer beschwerte sich über einen Lehrer mit Che Guevara-T-Shirt. Dank des Witzes vieler Schü­le­rInnen und Lehre­rInnen wurde die Dümm­lich­keit der Platt­form auch bald mit „Selbst­an­zeigen“ offen­ge­legt: „Ich bin selber Lehr­person und möchte mich gleich bei euch anzeigen, da meine Meinung nicht immer der Linie der SVP Schweiz entspricht“. Mit Inhalten, die nicht der Absicht der SVP entspra­chen, wurde der Pranger schliess­lich voll­ends lächer­lich gemacht: „Bei uns wurde im Fach Wirt­schaft der Neoli­be­ra­lismus als wissen­schaft­lich bewie­sene Tatsache behan­delt und keine kriti­sche Stimme dagegen erhoben“. 

Der SVP-Pranger wird heute in der Schweiz nur noch als Lach­nummer erin­nert. Und vieles spricht dafür, dass dies auch bei der AfD-Aktion so sein wird. Denn parodistisch-kritische „Selbst­an­zeigen“ ließen auch hier nicht lange auf sich warten. So lautet etwa eines der „11 Geständ­nisse an die AfD“, das die beiden Berliner Lehrer Florian Quaiser und Steffen Schulz-Lorenz verfasst haben, wie folgt: „Wir gestehen, dass wir über­legen, einen Längs­schnitt zum Thema ,Denun­zia­tion in verschie­denen histo­ri­schen Epochen (Römi­sche Repu­blik – Inqui­si­tion im Mittel­alter – Natio­nal­so­zia­lismus – Deutsch­land 2018)‘ zu entwickeln.“ 

Es lohnt sich in diesem Zusam­men­hang tatsäch­lich, nicht nur an die Forschung zu den Logiken der Denun­zia­tion in der Geschichte zu erin­nern, sondern auch auf die Tradi­tion der parodistisch-kritischen Selbst­de­nun­zia­tion hinzu­weisen. Diese Parodien zeigen in ganz unter­schied­li­chen histo­ri­schen Zusam­men­hängen, wie mit Denun­zia­tion, die Praxis von und die Fähig­keit zur Kritik verhin­dert oder gestört werden soll. Damit der Stali­nismus als beson­ders perfide Veran­ke­rung von Denun­zia­tion in der Gesell­schaft an dieser Stelle histo­risch nicht verlo­ren­geht, möchte ich hier kurz etwas zum erwo­genen „Längs­schnitt“ beisteuern.  

Fiktive Selbst­de­nun­zia­tion

1940 schrieb der russi­sche Dichter Daniil Charms einen mini­ma­lis­ti­schen Text mit dem Titel „Reha­bi­li­ta­tion“. Darin vertei­digt sich ein namen­loser Ange­klagter auf eine ziem­lich unge­wöhn­liche Weise. Er gibt alle mögli­chen Verbre­chen zu, krasse, blut­rüns­tige Verbre­chen, um sich dadurch zu entlasten, ja zu reha­bi­li­tieren. Das klingt paradox, entspricht aber genau derje­nigen Praxis von Selbst­de­nun­zia­tion, die er kurz zuvor während des Schluss­plä­doyers von Nikolaj Bucharin bei den Moskauer Schau­pro­zessen und bei zahl­rei­chen Selbst­an­kla­ge­ri­tualen in der gesamten Sowjet­union beob­achten konnte. Menschen gestehen, was man ihnen in den Mund legt, darunter auch völlig absurde Verbre­chen und Fehler, um dem Druck der gesell­schaft­li­chen Forde­rung nach Selbst­kritik nachzugeben. 

Beim Lesen von Charms’ Text wird jedoch klar, dass wohl keine dieser Taten je verübt worden ist, sondern dass sie allein in der Sprache exis­tieren. Das ist es, worauf Charms hinweist. Stalin hatte dem Wort so viel Macht zuge­spro­chen, dass es die Tat selbst ersetzte. Die Denun­zia­tion setzt ihre eigene Realität. In der Rechts­praxis der Sowjet­union wurde dies bei den Schau­pro­zessen auch umge­setzt, das Geständnis und die Aussagen von Denun­zi­anten (Zeugen) ersetzten das Indiz. Charms’ Ange­klagter zeigt diese Logik und besteht darauf, dass wenn schon überall Verbre­chen erfunden werden, er wenigs­tens solche erfinden dürfe, die auch lite­ra­risch inter­es­sant sind. 

„Kritik“ und Kritik

Charms’ Prot­ago­nist bezieht sich mit dieser fiktiven Selbst­de­nun­zia­tion nicht nur auf die Moskauer Schau­pro­zesse, sondern insge­samt auf die Kampagne der Kritik und Selbst­kritik in der Sowjet­union. Dabei handelt es sich um eine Kampagne, die von Stalin 1927 höchst­per­sön­lich einge­leitet worden war und die gesell­schaft­liche Legi­ti­ma­tion von Denun­zia­tion zum Ziel hatte. Unter dem Deck­mantel der Bezeich­nung „Kritik und Selbst­kritik“ (kritika i samo­kri­tika) und der Beru­fung auf Marx und Lenin sollte das Vorhaben zunächst verhüllt werden. Marx hatte in „Der acht­zehnte Brumaire des Louis Bona­parte“ die prole­ta­ri­sche Revo­lu­tion dadurch von anderen Revo­lu­tionen unter­schieden, dass sie an sich selbst Kritik übe und durch Selbst­kritik noch stärker werde. Stalin nahm diese im Grunde gute Praxis auf, über­nahm aber nur die Begriffe, während er die Ausfüh­rung und den Zweck grund­le­gend änderte und ins Gegen­teil verkehrte. 

Stalin konnte so im Namen von Marx theo­re­tisch hehre Ziele verfolgen, die prak­tisch aber ausschließ­lich der Siche­rung der eigenen Macht dienten: Denun­zia­tion wird unter dem Deck­be­griff der Kritik zur Pflicht eines jeden Bürgers. Aller­dings unter­scheidet Stalin zwei Arten von Kritik, und zwar „Kritik“ in Anfüh­rungs­zei­chen und Kritik ohne Anfüh­rungs­zei­chen. „Kritik“ mit Anfüh­rungs­zei­chen sei nur Als-ob-Kritik, eine Tarnung der angeb­li­chen Sabo­teure und Verräter. Sie sei „anti­bol­sche­wis­ti­sche“ Kritik, die nur auf gesell­schaft­liche Zerset­zung aus sei. Diese, so sagt Stalin in seiner Rede „Über Selbst­kritik“ von 1927, sei „fremde“ Kritik. Wohin­gegen die „eigene“Kritik, die „unsrige“, die „bolsche­wis­ti­sche“ Kritik dieje­nige sei, „deren Ziel es ist, den Partei­geist zu pflegen, die Sowjet­macht zu festigen“ und die „Kritiker“ in Anfüh­rungs­zei­chen zu entlarven. 

Mit der Unter­schei­dung zwischen „Kritik“ und Kritik wurde die Möglich­keit geschaffen, die tatsäch­liche Kritik an der tota­li­tären Politik als Als-ob-Kritik (eben als „Kritik“) zu entwerten und, schlimmer noch, zu krimi­na­li­sieren. Kritik vonseiten der Oppo­nenten ist dieser Logik nach immer schon konter­re­vo­lu­tio­näre Kritik. Im Gegenzug wird bedin­gungs­loser Oppor­tu­nismus, die totale Folg­sam­keit, zu rich­tiger, wahrer Kritik.

Selbst­kritik als Selbstdenunziation

Charms’ Prot­ago­nist bezieht sich jedoch nicht so sehr auf die Praxis der Denun­zia­tion, sondern auf die der erwünschten Selbst­de­nun­zia­tion. Es ist die allge­gen­wär­tige Selbst­kritik, die er parodiert. Selbst­kritik war in der stali­nis­ti­schen Diktatur eines der wich­tigsten Diszi­pli­nie­rungs­in­stru­mente. Die Schrift­stel­lerin Evge­nija Ginz­burg berichtet von den tägli­chen Beich­tri­tualen, bei denen sich „ganze Säle in Beicht­kam­mern verwan­delten, die Schul­digen sich an die Brust schlugen und jammerten und jede Versamm­lung ein eigenes Thema an Reue­bekun­dungen bekam – vom falschen Verständnis der Theorie der perma­nenten Revo­lu­tion bis zur unzu­rei­chenden Erfül­lung des Fünfjahrplans.“ 

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Auch hier hatte Stalin dafür gesorgt, dass man eine Selbst­kritik mit und eine ohne Anfüh­rungs­zei­chen unter­scheiden sollte. Jeder hatte die Pflicht, seine Fehler möglichst öffent­lich vor allen anderen zu gestehen. Mit dieser Praxis ließ sich unter anderen Vorzeichnen leicht an die ortho­doxe Beicht­praxis anschließen und zugleich wollte das System ein Über­wa­chungs­system schaffen, bei dem jeder jeden im Blick behalten sollte. Dabei war es wichtig, nicht nur bereits beob­acht­bare, sondern auch poten­ti­elle Fehler durch Selbst­kritik öffent­lich zu machen, denn Selbst­kritik war vorbeu­gend, d.h. man beich­tete auch dann, wenn man noch gar keine Fehler begangen hatte.

Im Sinne von Stalins Unter­schei­dung von echter und falscher Selbst­kritik heißt falsche, lügen­hafte „Selbst­kritik“ also, nur so zu tun, als übe man Selbst­kritik. Wer das tue, müsse mit einer Strafe rechnen, die in den 1930er Jahren auch eine Lager­haft oder den Tod zur Folge haben konnte. Aber: Die eigent­liche Lüge, die – eigent­liche falsche – Selbst­kritik wurde von Stalin selbst offi­ziell befohlen. Bestes Beispiel dafür sind wiederum die Geständ­nisse während der Schau­pro­zesse in den 1930er Jahren. Diese Geständ­nisse waren Erfin­dungen der Staats­an­walt­schaft, aber im Sinne Stalins eine ordent­liche, „rich­tige“ Selbst­kritik. 

Denunziations-Parodien

Auch wenn in der Sowjet­union die „rich­tige“ Kritik und Selbst­kritik tausend­fach befolgt wurde in der Hoff­nung, dem Terror zu entkommen, gab es doch auch viele mutige Versuche der Verwei­ge­rung und Parodie – nicht nur in der Lite­ratur. Der Schrift­steller Isaak Babel’ hielt zum Beispiel 1936 auf dem Schrift­stel­ler­kon­gress eine Rede, mit der er auf die Denun­zia­tion (Kritik), er würde ja gar nicht mehr schreiben, reagierte. Babel’ erklärte sein Schweigen kurzer­hand zum Beispiel einer beson­ders ausge­feilten Selbst­kritik. Weil er so eifrig Selbst­kritik betreibe, könne er einfach nichts mehr für die Publi­ka­tion heraus­geben. Er erklärte dies, obwohl jeder wusste, dass es vor allem die staat­liche Zensur war, die die Publi­ka­tion verhinderte.

Sergej Eisen­stein musste sich sogar 1937 einem drei­tä­tigen Selbst­kri­tik­kol­lo­quium unter­ziehen, das eigens wegen seiner Fehler bei der Umset­zung der realen Vorlage von Die Bežin-Wiese (Bežin lug) veran­staltet wurde. Das war deshalb beson­ders heikel, weil es in der Vorlage um die Legi­ti­ma­tion von Denun­zia­tion ging: Pavel Morozov, ein 14-jähriger Junge und Pionier, hatte seinen eigenen Vater als Volks­feind entlarvt. Die Denun­zia­tion durch den Sohn, der ganz nach den Maßgaben der Kritik und Selbst­kritik gehan­delt hatte, führte zur Anklage des Vaters und zu dessen Erschie­ßung. Nach dem Verrat des Sohnes am Vater ermor­deten der Groß­vater und sein Vetter aus Rache Pavel und dessen kleinen Bruder. Die Groß­el­tern und der Vetter wurden anschlie­ßend hinge­richtet. Es handelte sich also um einen äußerst heiklen Stoff, um die Legi­ti­ma­tion von Denun­zia­tion in der eigenen Familie. 

Im Grunde war es unmög­lich für Eisen­stein, einen solchen Stoff lini­en­treu zu verfilmen. So ist es kaum erstaun­lich, dass ihm vorge­worfen wurde, die Maßgaben von Selbst­kritik und Kritik nicht verstanden zu haben. Er hatte, und das war das Problem, die Denun­zia­tion nicht im Sinne ihrer Erfinder als Kritik inter­pre­tiert. Eisen­stein wieder­holte deshalb in seiner öffent­li­chen Selbst­kritik völlig mecha­nisch genau jene Prämissen, die man von ihm hören wollte: „Ich verstehe meine Fehler. Ich verstehe die Bedeu­tung der Kritik, der Selbst­kritik […], die Entfal­tung der rich­tigen, harten Kritik, der echten bolsche­wis­ti­schen, das heißt kame­rad­schaft­li­chen und auf Hilfe und Berich­ti­gung, nicht auf Vernich­tung ausge­rich­teten Kritik“. Eisen­stein tut so, als habe ihn die Selbst­kritik wieder auf den rechten Weg gebracht, führt aber zugleich die rheto­ri­sche Maske­rade des Genres vor, seinen hohlen Kern. Denn die „Vernich­tung“ durch Denun­zia­tion konnte 1937 jeder täglich beobachten. 

„Wir gestehen, dass wir uns konti­nu­ier­lich auf den Artikel 3 des Grund­ge­setzes berufen“

Charms, Babel‘ und Eisen­stein zeigen in ihren Selbst­an­klagen, wie Diktatur funk­tio­niert. Dort sollte Denun­zia­tion als Kritik durch­gehen und dazu führen, dass jede einzelne nicht nur stets und ständig Selbst­zensur betreibt, sondern sich selbst auch gleich noch denun­ziert. Die Selbst­de­nun­zia­tionen der Berliner Lehrer erin­nern hingegen daran, wie Demo­kratie funk­tio­niert, selbst wenn es poli­ti­schen Kräften auch hier darum geht, die eigene Denun­zia­tion als Kritik aufzu­werten und die Kritik der anderen als Angriff auf die Meinungs­frei­heit zu inter­pre­tieren. Auf die Forde­rung der AfD, Lehrer müssen sich poli­tisch neutral verhalten, kontern die Lehrer mit dem Verweis auf das Grund­ge­setz: „Wir gestehen, dass wir uns konti­nu­ier­lich auf den Artikel 3 des Grund­ge­setzes berufen und die Diskri­mi­nie­rung von Menschen aufgrund von Haut­farbe, Herkunft, poli­ti­scher oder reli­giöser Über­zeu­gung im Unter­richt nicht erlaubt haben“. Das ist nicht nur die beste Selbst­de­nun­zia­tion in einer Demo­kratie, sondern auch die beste Antwort auf die Forde­rung nach „Neutra­lität“.